Seite:Die Gartenlaube (1875) 190.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


lernte. Der Himmel war nicht ganz klar; im Norden hatte sich eine finstere Wolkenwand gelagert, von der allerhand Gezack hoch aufstieg und sich, vom Mondlichte weißumrandet, in phantastischen Formen von der Hauptmasse ablöste. Um so tiefer erschien das Blau des Himmels daneben, um so glänzender die darin schwimmende Mondscheibe. Die Fensterscheiben der oberen Stockwerke blitzten wie illuminirt, und das Zinkdach einer nicht fernen Villa lag vor den dunkeln Kronen der Bäume dahinter wie ein Seespiegel. Der junge Mann, der mit langsamen Schritten die Straße auf- und abging, hätte kein Deutscher sein müssen, wenn ihn dieses zauberhafte Landschaftsbild nicht melancholisch hätte stimmen sollen. Wie er sich nun mit der Schulter an einen Baumstamm lehnte und hinausschaute, dachte er wahrscheinlich an andere schöne Mondnächte, die er in der Heimath dann und wann halb durchwacht, und an die Menschen, die bei ihm waren, und an die Lieder, die sie gesungen, und an die Kahnfahrt auf dem Mühlenteiche … woran nicht alles? Schien doch derselbe Mond auch dort, und die zu ihm aufsahen, dachten vielleicht jetzt ebenso an ihn, bangend und sorgend, wie es ihm ergehen möge im Feindeslande.

Er hatte eine Mutter zu Hause, und Arnold war ihr einziger Sohn. Sie stand einem großen Geschäfte vor, das ihr verstorbener Gatte, der Commerzienrath Rose, in Schwung gebracht hatte und das seinem Sohne und einzigen Erben zu erhalten ihr heilige Pflicht schien. Arnold war ihr zu Liebe Kaufmann geworden, obgleich er eigentlich mancherlei gelehrte Neigungen hatte, wie er denn auch sonst vielfach ihr zu Liebe sein Leben einrichtete und ihre zärtliche Sorge über sich walten ließ. Er wäre gern Soldat geworden, um als Freiwilliger seiner Dienstpflicht zu genügen, aber seiner Mutter war der Gedanke an die möglichen Gefahren, denen er sich im blauen Rocke aussetzte, unerträglich erschienen. Der alte Onkel Helmbach, der Militärlieferungen übernahm und mit hohen Officieren auch wohl beim Glase Wein in Verkehr kam, mußte gelegentlich andeuten, daß der Arnold Rose, sein Neffe, nun auch in dem Alter stehe, wo er sich zur Prüfung der Commission stellen müsse, daß er auch gern dienen wolle, aber doch wohl zu schwächlich sei, und daß seine Frau Mama fürchte, es könne ihrem Einzigen etwas zustoßen. Der Arzt hatte dann einen Wink erhalten und nur oberflächlich untersucht. „Nicht tauglich,“ war die Entscheidung gewesen, die ihn nur deshalb weniger betrübte, weil er wußte, wie sehr sie seine Mutter erfreuen werde. Und nun, einige Jahre später, hatten ihre Thränen ihn doch nicht bewegen können, seinen Entschluß aufzugeben, wenigstens als freiwilliger Krankenpfleger den großen Krieg mitzumachen, bei dem die ganze Nation betheiligt war. Er fühlte sich gesund und kräftig genug, auch thätig sein zu können, und hätte sich krank schämen müssen, wenn es der Mutter gelungen wäre, ihn zu Hause zurückzuhalten. Diesmal redete auch Onkel Helmbach in patriotischem Eifer zu, und so mußte die alte Dame dann wohl geschehen lassen, was sie zu ihrer größten Betrübniß doch nicht hindern konnte. Natürlich gingen in den ersten Wochen täglich Briefe hin und her, dann langten sie bei der immer schwierigeren Postverbindung spärlicher an, und nun bei der Einschließung von Paris waren schon viele Tage ohne Nachricht von Hause vergangen. Arnold Rose hatte sich, besonders auch wegen seiner vollkommenen Kenntniß der französischen Sprache, so trefflich bewährt, daß man ihn gern bald hier bald dort benutzte und mit Aufträgen betraute, deren Verantwortlichkeit sich sehr fühlbar machte.

Der gute Onkel Helmbach! Er hatte bisher noch nichts geschrieben, als einmal die kurze Zeile mit seiner zitternden Hand: „Clärchen läßt herzlich grüßen,“ aber Tag für Tag hatte er sechs Cigarren in ein festes Couvert geladen und diese Kartätsche nach Frankreich hinein geschickt – gute Cigarren! – denn er selbst war ein Feinschmecker und mißtraute den Liebesgaben, die der Patriotismus versendete. Auch diese Päckchen waren nun schon längere Zeit ausgeblieben. Arnold seufzte, indem ihm dies einfiel. Noch eine letzte Cigarre hatte er in seiner Ledertasche für irgend einen außerordentlichen Fall aufbewahrt; diese Mondnacht schien besondere Berücksichtigung zu verdienen; er zog sie vor, prüfte mit Kennerblick das unversehrte Deckblatt und setzte sie in Brand. Wie bedächtig er im Auf- und Abgehen nur gerade so davon naschte, wie die Erhaltung des Feuers es nöthig machte! Wie er den bläulichen Dunst aus der kleinsten Mundöffnung in feinem Zuge langsam ausließ! Wie er ökonomisch auch von Zeit zu Zeit den unter der weißen Asche aufsteigenden Rauch mit der Nase einschlürfte! – es war ja die letzte gute Cigarre, wer weiß für wie lange?

Immer wieder ruhte inzwischen sein Blick auf der hübschen Villa, die eine Strecke straßabwärts mit ihrem mondhellen flachen Dach so zauberhaft zwischen den Bäumen dalag. Er unterschied nun schon die zwei Etagen, die Halle vor der Hausthür, den Balcon mit den zwei Vasen darüber, die vom Mondlicht gestreift wurden. Es zog ihn näher heran, er wußte nicht weshalb. Langsam schritt er die Chaussee entlang dem zierlichen Eisengitter zu, dessen Stäbe in vergoldete Spitzen ausliefen. Er blieb vor demselben stehen und blickte in das Gärtchen. Ein breiter Kiesweg führte zur Hausthür; auf dem Rasenplatz stand in einer Schale von Sandstein ein kleiner Triton, aus dessen Muschelschale aber kein Wasser floß; in einer Laube, deren Blätterschmuck größtentheils schon welk über den Boden ausgestreut war, zeigten sich hübschgeformte Sessel von Eisenguß um einen Tisch mit Steinplatte. Da haben vor Kurzem noch glückliche Menschen gewohnt, mußte Arnold unwillkürlich denken, und nun hat der Krieg sie aus ihrem schönen Besitzthum vertrieben, und ob sie es nicht als einen Haufen Schutt und Kohle wiederfinden werden, wissen sie nicht. Wer mögen sie sein – wo mögen sie weilen – mit welchen Empfindungen mögen sie jetzt hierher denken? Seine Phantasie arbeitete, um Figuren zu gestalten, die diesen Garten, dieses Haus beleben könnten. Und nun glitt das Mondlicht um die Ecke und erhellte auf einmal die ganze Frontseite; alle Fenster leuchteten auf, als würden innen die Gaskronen zu einem großen Ballfeste angesteckt. Deutlich waren die faltigen weißen Vorhänge zu erkennen. Ob sich nicht die Balconthür öffnen und eine schöne Dame hinaustreten und den Arm auf die Vase stützen würde? Lautlose Stille überall.

Die Gitterthür war nicht geschlossen. Arnold trat ein und durchschritt das Gärtchen. Am Portal des Hauses bemerkte er einen Glockenzug und daneben ein blankes Schild mit Aufschrift. Er trat näher heran, um sie zu lesen. „Charles Blanchard“ war in zierlichen Buchstaben in das Schild gravirt. Den Namen des Besitzers wußte er also. Seine Hand legte sich, ohne daß er's merkte, auf den Messingknopf in der Vertiefung daneben. Er zog daran, erst sanft, dann kräftiger. Eine helle Glocke schlug innen an und schien sich gar nicht beruhigen zu können. Erschreckt durch diesen so plötzlich die Stille unterbrechenden Ton trat Arnold auf die Stufen zurück. Das Herz schlug ihm heftig.

Niemand öffnete. Er erwartete nichts anderes. Deshalb aber klang ihm eben die Glocke in dem von seinen Bewohnern verlassenen Hause so schauerlich; es war ihm, als ob er Geister habe wecken und sich mit ihnen in Rapport setzen wollen. Er glaubte freilich nicht an Geister, aber die Einsamkeit und Verlassenheit, die Mitte der Nacht und der Mondschein ließen jenes unheimliche Gefühl in ihm aufkommen, das der Furcht verwandt ist und ein Frösteln bewirkt. In diesem Augenblick rollte ein Luftzug von der Straße her das welke Laub zusammen und trieb es raschelnd unter die Halle. „Du bist ein rechter Narr,“ schalt er sich und trat mit absichtlich verhaltenen Schritten den Rückweg an.

Wohl eine Stunde später, als seine Wache dauern sollte, patrouillirte er im Freien. Dann weckte er die Ablösung, legte sich in der Nähe des Kamins auf den Fußboden, wickelte sich fest in seinen Mantel und schlief, von der körperlichen Müdigkeit überwältigt, bald ein.

Am nächsten Morgen zeigte es sich deutlich, daß der ganze Landstrich gegen die Stadt hin bereits militärisch besetzt war und unsere Colonne sich hinter den Positionen der Angreifer in verhältnißmäßig gesicherter Lage befand. Die Action konnte jede Stunde beginnen und das Lazareth Arbeit erhalten. Eile war deshalb geboten. Man versammelte sich zu einer allgemeinen Berathung, wie man sich die unumgänglichen Bedürfnisse verschaffen sollte.

„Wir brauchen vor Allem Matratzen, Betten, Decken,“ bemerkte der Chirurg, „aber auch Lebensmittel wären erwünscht.“ Rose schlug vor, die Häuser der Ortschaft zu durchsuchen. „Die Eigenthümer selbst,“ sagte er, „verweisen uns auf Gewalt. Gut denn! nehmen wir uns, was wir brauchen, aber – nicht mehr, Freunde! Beweisen wir uns auch darin als gesittete Feinde,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_190.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)