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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

heutzutage heißen sie „Kneipschwänze“. Eine solche Renonce bei den Lusaten in Leipzig war damals ein junger Mann aus Dänemark, Graf L. Dieser, in weltlichen Formen gewandt und mit einer jeder Zeit schlagfertigen Zunge begabt, war vor allen Andern Feuer und Flamme für die Sache, zumal er im Haubold’schen Hause Gelegenheit gefunden hatte, sich nicht nur für die Schauspielerin, sondern auch für die Dame Genast zu erwärmen. Er erbat sich von seinen Freunden die Erlaubniß, im Theater noch vor Beginn der Vorstellung einige passende Worte zu reden, was ihm mit Freuden zugestanden wurde. Eine in liebenswürdigem Eifer angebotene studentische Ehrenbegleitung zum Theater hin hatte Frau Genast dankend und feinfühlig abgelehnt, um nicht als Mitwisserin weder ihres contra noch ihres pro zu erscheinen.

Der verhängnißvolle Abend erschien; in hellen Haufen zogen die Handlungsbeflissenen herbei. In Schaaren, wenn auch an Zahl geringer als Jene, zogen auch die Studenten zum Musentempel. Die Verschworenen merkten Unrath, aber man behandelte sich gegenseitig anständig und höflich. Die Platzvertheilung war gelungen.

Das Orchester war verstummt. Der Vorhang rollte eben auf; da erhob sich in der ersten Reihe der Sperrsitze Graf L., klopfte mit seinem Schläger ein paar Mal stark auf den Boden und stellte sich dann, das Gesicht dem Publicum zugewandt, auf den Sitz. Auf der Bühne mochte man wohl vorbereitet sein, denn die Scene blieb noch leer, und das Publicum, sowohl das nichts ahnende, wie auch das ahnende, erwartete mit Spannung, was da kommen sollte. Es war eine prächtige Erscheinung, die da stand, eine herculische Gestalt mit einem edlen Antlitz, das von nordisch-blonden Locken umwallt war. Nun hob der Jüngling den blitzenden Schläger hoch in die Höhe und begann:

„Meine geehrten Damen und Herren, ich bitte um einen kurzen Augenblick Gehör. Es ist heute der letzte Abend, an dem wir das Glück und die Freude haben, das verehrte Genast’sche Ehepaar in unserm Leipziger Stadttheater spielen zu sehen. Es wird im Verlaufe des Stückes eine Scene kommen – Sie kennen sie ja – in welcher Beide gemeinsam, und zwar nur sie Beide, auftreten. Ich schlage vor, da Sie gewiß Alle hier dankbar der genußreichen Stunden gedenken, die uns in diesen Räumen durch die Genast’s zu Theil geworden sind, und da Sie gewiß Alle sie ungern scheiden sehen, daß wir die angedeutete Scene benutzen, um denselben ein unverkennbares Zeichen unserer Huldigung darzubringen. Sollte Jemand dies für eine Beeinflussung seines Urtheils halten, so steht es ihm ja natürlich frei, zu schweigen – aber, meine Herrschaften (und hier machte er eine kurze, jähe Bewegung mit dem Schläger), frei steht es ihm nicht, eine gegentheilige Bemerkung zu machen, da wir – ich meine die versammelte Leipziger Studentenschaft – eine derartige Kundgebung nicht nur als gegen die Bühne, sondern auch gegen uns, die Freunde und Verehrer des Genast’schen Ehepaares, gerichtet ansehen würden.“

Nur wenige zaghafte Zischlaute wagten es, sich in die diesen Worten gespendeten Beifallsbezeigungen zu mischen, gingen aber darin unter.

Nun begann die Vorstellung; das Publicum lauschte mit Entzücken. In dem ganzen weiten Raume war es todtenstill. Als jene von dem vorher aufgetretenen Sprecher bedeutete Scene kam, warf derselbe mit Hülfe seines Schlägers einen Lorbeerkranz – wie man im Reifenspiel zu werfen pflegt – so geschickt auf die Bühne, daß er gerade zwischen Genast und seiner Frau zu liegen kam. Und indem diese, jedes mit einer Hand, denselben aufhoben uns sich dankend verneigten, rief der Studiosus von Schwartzbach mit lautester Stimme: „Vivant, crescant, floreant Genasti!“ Und die ganze Zahl der Commilitonen, ja, das ganze andere Publicum, mit Ausnahme der Verschworenen, stimmte begeistert mit ein. Die Letzteren aber, zum Theil eingeschüchtert, zum Theil wider ihren Willen mit fortgerissen von der Darstellung und der allgemeinen Bewegung und darüber ihren Groll vergessend, verhielten sich ruhig und anständig. Die gute Sache hatte vollständig gesiegt, zur Ehre aller Betheiligten, selbst der Besiegten. Frau Genast aber, nach Beendigung dieser Scene, saß in einem abgelegenen Winkel des dunklen Bühnenraumes und weinte Thränen der Rührung und der Freude. Die Ehre ist es werth, daß man um sie weint; um die verlorene in Schmerzen, um die wiedergewonnene in Freuden.

Die Vorstellung war beendet; in dem Haubold’schen Hause aber entwickelte sich nun ein äußerst fröhliches Nachspiel, wobei selbstverständlich das gefeierte Paar und die vier uns bekannten Matadore der Studentenschaft mitwirkten. Die Magnificenz waren ganz stolz auf die Studenten, die Genast’s aber konnten nicht müde werden, denselben zu danken.

„Mordskerle seid ihr,“ rief der glückliche Genast ein Mal über das andere, „wie sollen wir euch das vergelten? Das Beste, was ich habe, ist meine Frau. Wenn sie euch einen Kuß giebt, so seid ihr königlich belohnt. Was meinst Du, Frauchen?“

„Jedem?“ fragte diese schüchtern.

„Meinetwegen Jedem; sie können aber auch loosen um das Glück, das hoffentlich – gelt, Gustchen? – bis jetzt nur ich kenne. Notabene, wenn sie nicht freiwillig zurücktreten.“

Das Loos wurde geworfen, und der Glückliche war – Flauschmüller.

„Da seh’ mir einer die heilige Theologie,“ rief der Rector, indem er sich vergnügt die Hände rieb, „sie hat doch immer Glück bei den Frauen. Sollte sie nicht aber doch vor dieser innigen Berührung mit dem leichten Volke der Komödianten zurückschaudern?“

Hätte nun damals schon Eduard Lasker seine berühmte Rede am Jubiläum des Professor Twesten in Berlin gehalten, so hätte Flauschmüller, diesen copirend, sagen könne: „Bin ich nicht ein Träger der Ideale und Frau Genast auch?“

Statt dessen aber versicherte er sich zunächst seines Gewinnes, und nachdem er denselben auf’s Decenteste bei der jungen, schönen und ohne jegliche Ziererei ihm gewährenden Frau eingeholt hatte, sagte er nur in seiner den Freunden bekannten Art, gern in Citaten zu sprechen:

„Ein Kuß, den Lesbia mir giebt,
Das ist ein Kuß.“

Tempi passati!

Alfred Annaburger.




Belgisches Städte-Mittelalter. (Mit Abbildung, S. 153.) Jeden Tag sieht man, daß in Europa so ziemlich überall, wo der Verkehrsstrom die Menschen mit sich fortreißt, das Alte, sobald es dem Neuen nicht mehr ansteht oder sich ihm gar in den Weg stellt, diesem weichen muß; je größer die Städte werden, desto kleiner wird die Pietät, welche früher Alles hütete, was den Altvordern lieb und theuer war oder als Denkzeuge stand für ein heimisches Ereigniß. Hat doch selbst Nürnberg, das mittelalterliche Schmuckkästchen des deutschen Reichs, vor diesem Zug der Zeit nicht bewahrt bleiben können. Es wird bald so weit kommen, daß man alte Städtebilder weit abseits von den Verkehrsstraßen suchen muß, wo dann nur Noth und Bedürfniß sie erhält, nicht die Pietät. – Gegenwärtig ist diese Suche nach Mittelaltersspuren in stillen Winkeln noch nicht nöthig; wir finden Einzelnes noch in den Städten modernsten Triebgeistes, wenn sie überhaupt im Mittelalter schon Wichtigkeit genug hatten, um mit baulichen Sehenswürdigkeiten sich auszurüsten. Jedenfalls ist’s aber schon jetzt geboten, derlei Ueberbleibsel der Vergangenheit, deren Vernichtung unausbleiblich ist, durch Abbildungen für die Nachwelt zu retten. Sie gehören zur Geschichte und sind nicht der geringste Beitrag zur Kunde der Vorzeit. Die „Gartenlaube“ hat mit solchen Mittheilungen längst begonnen und fährt mit der Abbildung aus dem „Belgischen Städte-Mittelalter“ nur damit fort.

Von den alten Städten Flanderns und Brabants zeichnen sich Gent, Brügge und Antwerpen durch wohlerhaltene alte Bauwerke aus ihren mittelalterlichen Glanztagen aus. Eine Zierde des alten Antwerpen ist in dem Stadttheile hinter dem Rathhause Alba’s Haus. Besonders stattlich tritt der schmucke Erker über dem massigen niedrigen Thore hervor, durch das so oft die finstere Gestalt des gefürchteten Spaniers geschritten. Die Spuren früherer Pracht sind noch erhalten; jetzt dient dasselbe als Museum für Alterthümer. – Nicht weniger malerisch sind die beiden Straßenbilder von Antwerpen mit ihren Thoren und Thürmen, hängenden Erkern und ragenden Giebeln, die in den engen äußeren Gassen nach oben sich immer näher kommen.

Gent und Brügge bieten Ausgezeichnetes in der Vereinigung von Resten mittelalterlicher Massenbauten neben der zierlichen Formenschönheit des gothischen und des Flamboyantstils, welch letzterer bekanntlich wegen seiner flammenartigen Ornamentik so genannt ist. In Gent gehören zu solchen Sehenswürdigkeiten die am Kai liegenden sogenannten Schifferhäuser. Als Gent noch, wie im fünfzehnten Jahrhundert, dreißigtausend Mann in’s Feld stellte und Karl der Fünfte von ihm, seinem Geburtsorte, sagte, „er könne ganz Paris in seinen Handschuh (gant) thun“, in jenen Glanztagen erstanden die Prachtbauten des Bürgerthums, des Staates und der Kirche, die jetzt der Hauptschmuck derselben sind. Unsere Illustration zeigt von Gent außer den Schifferhäusern mit ihrer reichen Abwechselung architektonischer Masseneintheilung, wo in steindurchbrochenen Pilasterwerken Fenster an Fenster sich in den verschiedenen Formen aneinander reihen und die Giebel voll Säulen- und Ornamentenschmuck hoch auftragen, – im obersten Felde noch ein Stück der Reste der Abtei St. Bavon (des Schutzheiligen der Stadt), eine Viertelstunde von Gent entfernt liegend. Noch an den Trümmern dieses Kreuzgangs erkennt man die Großartigkeit und künstlerische Vollendung, welche diesen Bau zu einer Berühmtheit ersten Ranges erhob. – „Niemals,“ sagt unser Künstler, „werde ich den zauberisch schönen Anblick vergessen, wie die scheidende Sonne ihre Strahlen durch wildes Gestrüpp und den Alles umrankenden Epheu, auf die vielgegliederten Säulen zwischen den hohen Bogen sendete, zitternde Blätterschatten, goldige Lichter werfend auf das morsche grau-grünliche Gestein, hinweg streifend über so viel wunderliche Heilige und Grabplatten, wie sie an den Wänden und am Boden herumlehnen und liegen.“

Noch tiefer, als Gent, ist Brügge von seiner einstigen Höhe gesunken. Die Stadt, welche im Mittelalter als Welthandelsplatz unermeßlich reich und als Flanderns Herzogsresidenz voll Glanz und Pracht war und über zweihunderttausend Bewohner in ihrem weiten Mauerkranze beherbergte, hat sich, seit ihrem Falle durch Antwerpens Steigen, noch nicht zu fünfzigtausend wieder erhoben. Darum muß man heute ihre alten festen Thore entfernt von der jetzigen Stadt, im Freien suchen, aber eben deswegen betrachten wir sie sie mit um so wärmerer Theilnahme. Eine dritte Darstellung aus Brügge führt uns vor das sogenannte alte Frankenschloß hinter dem Rathhause. Wie es, leicht und bizarr in seinen Contouren, mit seinen Erkern und Thürmchen aus dem Wasser aufsteigt, bietet es, nach unseres Künstlers Anschauung, vereint mit seiner Umgebung und dem massigen Thurme der Kathedrale im Hintergrunde, namentlich wenn dies Alles im Mondenlichte sich im Canal spiegelt, ein durchaus fremdes, einer anderen Zeit angehörendes Bild, entspricht also ebenfalls dem Charakter, welchen unsere gesammte Illustration zum Ausdrucke bringen will.




Kleiner Briefkasten.

H. A. in K. Wiederholt haben wir zu erklären, daß von uns Prämien zur Gartenlaube nicht ausgegeben werden und daß, wo dies geschieht, es nur eine Beigabe der betreffenden Colporteure oder Buchhandlungen ist.

..... – L … s. Ihre Arbeit hat den Umfang eines Buches, nicht aber eines Journalartikels. Auch ist der Gegenstand derselben zur Behandlung in unserm Blatte ungeeignet. Verfügen Sie gefälligst über Ihr Manuscript!

B. S. in C. Ist als nicht verwendbar vernichtet worden.

Viborg. Unbrauchbar.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_156.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)