Seite:Die Gartenlaube (1875) 152.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


weniger, obschon mein Mann sich in seiner Stellung aufgerieben hat. Sie befürchteten, daß ich mit den Kindern der Gemeinde zur Last fallen werde; deshalb versagten sie mir jede Unterstützung; sie wollten mich forttreiben.“

„Es ist empörend,“ rief Meitzen aus. „Weshalb sind Sie aber hierher gekommen, wo Alles so theuer ist?“

„Ich kannte die Verhältnisse hier nicht. Der Bruder meines Mannes lebte hier und versprach, mich zu unterstützen. Er that es auch, soweit seine Kräfte reichten, allein er starb, als ich kaum wenige Wochen hier war, und ich stand wieder allein. Ich habe alle Kräfte zusammengenommen, habe Tag und Nacht gearbeitet, um meine Kinder nicht hungern zu lassen, bis ich endlich der Anstrengung erlag. Wochenlang bin ich krank gewesen. Meine Augen haben so gelitten, daß ich nur wenige Stunden am Tage arbeiten kann – ich weiß nicht, was ich ferner beginnen soll.“ – Sie sank auf einen Stuhl und preßte beide Hände vor das Gesicht.

Meitzen suchte sie zu beruhigen.

„Ich würde Alles gern ertragen, wenn meine Kinder nicht hungern müßten,“ fuhr die Frau fort. „O Gott! Wenn mein Mann gewußt hätte, daß ich zur Bettlerin werden würde! Er war so tüchtig und hoffte, sich durch seine Fähigkeiten emporzuschwingen. Bitte, werfen Sie nur einen Blick in diese Papiere – es sind seine Zeugnisse.“

Meitzen durchblätterte die Papiere. Sie enthielten Zeugnisse über einen Lehrer Schulz, und alle hoben die Fähigkeiten, das eifrige Streben und den ehrenwerthen Charakter desselben in der rühmendsten Weise hervor. Sie waren von dem Pastor, dem Superintendenten und der Ortsbehörde ausgestellt.

„Haben Sie nicht versucht, Ihre Kinder im Waisenhause unterzubringen?“ fragte Meitzen.

„Nein, nein!“ rief die Frau hastig. „Ich kann mich von ihnen nicht trennen – lieber will ich selbst verhungern. Ich darf es auch nicht, denn ich habe meinem Manne, als er auf dem Sterbebette lag, gelobt, mich nicht von ihnen zu trennen.“

Meitzen fand dies natürlich. Er erinnerte sich an Alles, was er über die traurige Lage der Dorfschullehrer gelesen hatte. Er hatte die Schilderungen für übertrieben gehalten – jetzt glaubte er daran. Schweigend drückte er der Frau einige Thaler in die Hand, und nachdem sie ihm ihre Wohnung bezeichnet hatte, versprach er, sich nach ihr zu erkundigen und noch mehr für sie zu thun, wenn sich ihre Aussagen bestätigten.

„Bitte, erkundigen Sie sich nach meiner Lage und meinem Leben!“ bat die Frau. „Sie haben eine Unglückliche vor sich, welche ihr trauriges Geschick nicht verschuldet hat.“

In demselben Augenblick, als sie das Zimmer verließ, trat der Neffe des Rentiers, ein junger Arzt, Namens Knaus, ein.

„Ah, Du hattest Besuch, Onkel,“ rief er.

„Eine unglückliche Frau, die Wittwe eines Lehrers, welche in der größten Noth ist.“

„Also eine Bettlerin.“

„Nein, eine Unglückliche, welche durch die Noth gezwungen ist, die Hülfe Anderer in Anspruch zu nehmen.“

„Onkel, das sagen Alle, welche betteln.“

„Die Frau ist keine Schwindlerin,“ erwiderte Meitzen unwillig. „Ich lebe nicht erst seit gestern hier und habe gelernt, wirkliche Noth von der Verstellung zu unterscheiden. Außerdem hatte die Frau Zeugnisse.“

„Waren sie echt?“ warf der Arzt ein.

„Ja, sie waren echt,“ rief Meitzen. „Wenn man Alles bezweifeln will, bleibt Einem schließlich nichts im Leben übrig.“

„Onkel, Du kannst ja Recht haben. Ich befürchtete nur, daß Dein gutes Herz sich habe täuschen lassen.“ –

Sofort am folgenden Morgen begab sich Herr Meitzen nach dem Hause, in welchem die Wittwe nach ihrer Angabe bei einem Herrn Adolph Märker wohnte, um über sie Erkundigungen einzuziehen. In freundlicher Weise wurde er von dem Herrn empfangen und in sein äußerst fein ausgestattetes Zimmer geführt. Er nannte den Zweck seines Besuches und fügte hinzu, daß er zu dieser Vorsicht genöthigt sei, weil er schon oft getäuscht worden sei.

„Sie thun sehr recht,“ versicherte Märker, ein stattlicher Mann von angenehmem Aussehen. „Es leben ja Tausende vom Betteln, die nicht Lust haben zu arbeiten; sie erzählen die rührendsten Geschichten, an denen kein wahres Wort ist, und leben von dem erbettelten und erschwindelten Gelde besser als mancher fleißige Handwerker und Beamte. Die Polizei ist gegen solche Schwindler viel zu milde. In diesem Falle hat sich wirklich eine Unglückliche und Nothleidende an Sie gewandt.“

„Kennen Sie die Frau näher?“ fragte Meitzen.

„Ich kannte sie gar nicht, als meine Frau vor einem halben Jahre von ihrer Noth hörte. Da dieselbe wirklich vorhanden war, räumte ich ihr ein auf den Hof heraus gelegenes Zimmer, welches ich nicht benutze, ein. Ich habe sie beobachtet und kann nur Gutes von ihr sagen. Sie ja sehr fleißig und bescheiden und scheint nur das eine Interesse zu kennen, für ihre Kinder zu sorgen. Sie hatte sich überarbeitet und war lange Zeit krank. Meine Frau hat sie während der Krankheit vollständig unterhalten, und wir haben sie der Unterstützung durchaus würdig befunden.“

„Ist sie zu Hause?“ fragte Meitzen, dessen Herz weich geworden war.

„Nein. Bitte, sehen Sie sich ihr Zimmer an! Die Frau ist trotz ihrer Armuth stets sauber und ordentlich; deshalb mag ich ihr das Zimmer auch nicht nehmen.“

Er führte Meitzen in ein kleines, nach einem dunklen Hofe hinaus gelegenes Gemach. Nur wenige, sehr ärmliche Möbel standen darin; trotzdem herrschte die größte Sauberkeit. Auf einem kleinen Tische am Fenster lag eine Näharbeit. Nicht ohne ein reges Gefühl des Mitleids blickte Meitzen sich in dem engen Zimmer um, dann gab er Märker fünf Thaler für die Frau und versprach, sich weiter für sie zu bemühen.

„Sie thun wirklich ein gutes Werk,“ versicherte Märker. „Ich wohne leider noch nicht lange in B. und habe deshalb nur wenige Bekannte hier, bei denen ich mich für die Arme verwenden könnte, Sie hingegen haben einen großen Freundeskreis. Es ist der Frau geholfen, wenn sie an Unterstützungen so viel erhält, daß sie sich einige Wochen lang schonen kann, bis sie zur Arbeit wieder gekräftigt ist; wäre es möglich, eine Nähmaschine für sie zu erwerben, so wäre ihre Zukunft gesichert, denn sie ist außerordentlich fleißig.“

Noch einmal versprach Meitzen zu thun, was in seinen Kräften stehe. Es freute ihn, daß ihn dieses Mal seine Menschenkenntniß nicht getäuscht habe und daß er im Stande war, jeden Zweifel seines Neffen zu widerlegen.

Bei allen Freunden und Bekannten sammelte er nun für die unglückliche Frau, deren Noth er mit den lebhaftesten Farben schilderte, und er erhielt ansehnliche Beträge. Die Damen gaben der Wittwe Arbeit zum Nähen und Stricken und erhielten dieselbe stets schon nach so kurzer Zeit sauber ausgeführt wieder zurück, daß die Frau nothwendig die Nächte zur Arbeit zu Hülfe genommen haben mußte. Sie wurde reichlich für ihre Arbeit bezahlt. In wenigen Wochen hatte Meitzen mehr denn hundert Thaler für die Arme zusammengebracht, und es freute ihn jedes Mal, wenn er ihr eine Gabe überbringen konnte, sie aber ließ trotzdem in ihrem Fleiße nicht nach.

„Die Frau verdient Ihre aufopfernde Bemühung,“ versicherte Märker wiederholt. „Ich beobachte sie täglich. Sie wendet Alles für ihre Kinder auf und gönnt sich keine Stunde der Erholung.“

– Eines Abends besuchte Meitzen in Begleitung seines Neffen das Schauspiel.

„Onkel,“ sprach der junge Arzt, der die Damen in den Logen durch sein Lorgnon musterte, „dort in der ersten Loge sitzt ja Deine arme Wittwe,“ und er machte Meitzen auf eine sehr fein gekleidete Dame aufmerksam, die ihrem hübschen Gesichte mit einem Fächer Kühlung zuwehte.

Der Rentier blickte überrascht auf. Die Dame hatte allerdings mit der Wittwe eine auffallende Aehnlichkeit. „Du bist ein Thor,“ entgegnete er. „Siehst Du nicht, daß die Dame luxuriös gekleidet ist? Wie sollte die arme Frau in die Kleider und an den Platz kommen! Haha! Jetzt erkenne ich Deinen Scharfblick. Sieh, wie kokett die Dame umher blickt! Die arme Wittwe ist stets bescheiden und wagt kaum die Augen aufzuschlagen – ich kenne sie besser.“

Knaus schwieg, ohne seine Vermuthung aufzugeben.

Meitzen bemerkte im Parquet Herrn Märker. Er wollte zu ihm gehen, um ihn auf die auffallende Aehnlichkeit aufmerksam zu

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_152.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)