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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


daß Sie bei diesem Allen Rudolph ein großes Unrecht gethan haben; ich habe hier auf meiner Brust den Beweis, daß seine Schuld nicht so groß ist, wie Sie wähnen, und diesen Beweis eile ich eben Ihrem Bruder zu bringen, damit der unglückliche Mann vor dem Schlaganfalle gerettet werde, der ihn bedroht. …“

Herr Escher starrte den Sprechenden tief erblassend an. Das Wort Schlaganfall hatte eine eigenthümliche Wirkung auf ihn. Gleich nachdem er seine Sendung an seinen Bruder abgesandt, hatte ihn etwas wie Reue und Unzufriedenheit mit sich selbst ergriffen, das Gefühl, eine unedle Rache genommen zu haben, ihn gedrückt – jetzt ergriff er tieferschüttert Landeck’s Arm und sagte:

„Sie sahen meinen Bruder? Sie wissen, daß … Kommen Sie! Ich will selbst nach ihm sehen, ich will Sie begleiten. Elisabeth, komme auch Du! Wenn er erkrankt, soll Alles zu seiner Pflege geschehen … kommen Sie!“

Er schritt hastig vorwärts. Elisabeth und Landeck schlossen sich ihm an.

„Das Beste wird sein,“ fuhr dieser dabei fort, „wenn Sie mir beistehen, Herr Escher, ihn vor dem Erkranken zu bewahren; wenn Sie helfen, ihm die Last vom Herzen zu nehmen. Beginnen Sie selbst damit, Rudolph’s Schuld in einem anderen Lichte zu sehen, als Sie dies bisher gethan haben! Dieses Licht war vollständig falsch, und Sie waren ungerecht gegen Ihren Neffen, dem nichts weiter zur Last fällt, als daß er in einem unglücklichen Augenblicke sich von einem Intriguanten und Lügner beschwindeln ließ – damals, als er noch viel zu jung war, um jenes Mißtrauen in sich hegen zu können, das reifere Menschen vor den Schlingen der Intriguanten bewahrt.“

Elisabeth warf Landeck einen Blick voll flammender Dankbarkeit zu; dieser fuhr doppelt lebhaft und warm zu reden fort. Er schilderte Escher den ganzen Hergang jenes Ereignisses, das einen so düsteren Schatten noch bis in diese Stunde hereinwarf; Escher hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, ohne ein Wort zu reden; nur als Landeck ihm sagte, daß er den Beweis, wozu das Rudolph abgeschwindelte Geld verwandt worden, in seiner Brusttasche trage, blieb er stehen, als ob er das Blatt mit eignen Augen sehen wolle; gleich darauf winkte er wieder wie abwehrend mit der Hand und eilte nur noch stürmischer weiter zum Hause seines Bruders hinan.

Als sie oben in Gotthard Escher’s Garten angekommen waren, fanden sie Rudolph vor dem Hause auf der Bank sitzend und langsam das vor Gram umdüsterte Haupt erhebend, um die Nahenden überrascht anzustarren; erst als sie dicht vor ihm waren, erhob er sich, und eine noch größere Ueberraschung malte sich in seinen Zügen, als sein Oheim ihm bewegt die Hand entgegenstreckte und, athemlos vom raschen Schreiten auf dem ansteigenden Wege nicht weniger als von seiner inneren Bewegung, sagte:

„Rudolph, ich glaube, ich habe Dir ein Unrecht abzubitten, Dir nicht weniger wie Deinem Vater – ich komme das zu thun – nimm meine Hand, Rudolph, und – wo ist Dein Vater, wo ist er?“

Rudolph war so bewegt, daß er im ersten Augenblicke keine Antwort fand. Er blickte auf seinen Oheim, auf Elisabeth; der strahlende Ausdruck von Glück in Elisabeth’s Zügen schien ihm erst zu sagen, daß er sich nicht täusche, nicht träume. Mühsam nur brachte er die Worte hervor:

„Onkel Gottfried, das sagen Sie mir – Sie – und Sie glauben nicht mehr …“

„Wo ist Dein Vater, Rudolph?“ wiederholte in seiner Hast Herr Escher, der bereits weiterschritt und, ohne eine Antwort abzuwarten, nun in das Haus und das zur Rechten des kleinen Flurs liegende Wohnzimmer seines Bruders hinein eilte.

Gotthard Escher lag hier der Länge nach ausgestreckt auf einem alten schwarzen Roßhaarsopha. Es war dasselbe, das schon in beider Brüder Elternhause gestanden, auf dem sie beide schon als Knaben sich getummelt; am Fenster der kleine runde Tisch auf den geschweiften Beinen, es war der, welcher ihrer Mutter Arbeitstisch gewesen – und hinter dem Ofen der alte Lehnstuhl, war es nicht auch derselbe, in welchem ihr Vater des Abends von seiner Tagesarbeit geruht, in dem sitzend er sie, die wilden Buben, so oft an sich gezogen und zwischen seinen Knieen festgehalten und ihnen scheltend, doch mit weicher Hand die Scheitel gestrichen oder ihnen beigestanden, mit den Schulaufgaben für den andern Tag fertig zu werden?

Auf Gottfried Escher stürmten, als sein Blick durch diesen Raum schweifte, alle diese lange nicht mehr geweckten Erinnerungen ein; sie erschütterten ihn … er wurde sich selber fremd mit seiner langen gehässigen Entfernung von dem Bruder, der so treu sich zum Hüter dessen gemacht, woran sein gutes altes Herz hing, und als dieser Bruder sich nun aufrichtete und ihn mit den großen grauen Augen unter seinen dicken blonden Brauen her halb verwundert, halb wie hülfesuchend anblickte, da war es ihm, als leuchte ihm aus diesen Augen der Blick ihrer Mutter entgegen; er fühlte Thränen in seine Wimpern treten, und beide Hände ausstreckend trat er vor den Bruder hin, mit halblauter zitternder Stimme „Gotthard!“ ausrufend und „kannst Du mir je verzeihen, was ich gethan?“

Gotthard hatte die dargebotenen Hände nicht ergriffen. Er stützte sich mit den seinigen auf das Sopha, um sich aufzurichten. Er schaute nur mit dem hülfesuchenden Blick den Bruder an; er schüttelte den Kopf und sagte dann, vor sich niedersehend, mit einem Tone herzbrechender Niedergeschlagenheit:

„Du hast mir einen schweren Schlag gegeben, Gottfried. Ich habe genug bekommen damit. Es war ein harter Stoß am Ende eines langen Lebens. Ich wollte nur, ich hätte es nicht verdient gehabt um Dich. Aber ich habe es verdient gehabt – ich habe es. Ich habe Dir nichts zu verzeihen, Gottfried. Ich habe mich schwer an dem Sohne meines Vaters versündigt und bin gestraft dafür an meinem Sohne.“

Gottfried Escher ließ sich neben ihm auf dem Sopha nieder, und die Hand auf seine Schulter legend sagte er:

„Gotthard, sprich nicht so! Wie Du mir, so hatte ich ja Deinem Sohne Unrecht gethan: wir hielten beide störrisch an einem falschen Glauben fest, und daß wir ihn, ohne zu untersuchen, fest hielten in Argwohn und Härte, darin liegt unsere Schuld, nur ist die meine größer wegen dessen, was ich heute in meiner Verzweiflung an Dir that. Sieh auf und höre dort den Mann reden!“ er wies auf Landeck, der mit Rudolph und Elisabeth nach ihm eingetreten war; „dieser Mann weiß um Alles, und er hält einen Beweis in Händen, daß Rudolph nichts Schlechtes gethan, als er das Opfer einer Verführung wurde, der er zu widerstehen zu jung, zu arglos, zu unerfahren war … laß Dir Alles von ihm sagen! Er spricht mit der Wärme, welche nur die Wahrheit giebt – und dann verzeih’ Rudolph, wie Du mir verzeihst!“

„Nein, nein,“ rief hier Rudolph, dicht vor seinen Vater tretend, „ich will keinen Dritten zum Vertheidiger zwischen mir und meinem Vater. Sieh mich an, Vater, sieh mir in’s Auge, und wenn Du nicht genug darin liest, um zu wissen, daß ich nichts gethan, was mich unwürdig macht für immer, Dein Sohn zu heißen, dann frag’ Du selber mich, wie Alles gekommen und ich will Dir Red’ und Antwort stehen …“

Gotthard Escher sah zu ihm auf mit einem langen Blick, der milder und milder und endlich feucht wurde, der sich dann auf seinen Bruder und dann wieder auf Rudolph wandte – endlich sagte er wie erleichtert aufathmend, wie eine schwere Last von sich werfend:

„Ja, ja, Gottfried, Du hast Recht! Laß uns an einander glauben, laß uns glauben!“

„Du kannst glauben, Gotthard,“ fiel sein Bruder ein. „Um Dir zu zeigen, daß auch ich es thue, daß ich an Rudolph’s unverdorbenes Herz glaube, und wie sehr ich wünsche, Dich mit ihm und mit mir auszusöhnen, erfülle ich jetzt gern Deinen Wunsch und gebe Deinem Sohne mit vollem Vertrauen mein geliebtestes Kind zum Weibe – es war ja Dein Herzenswunsch, Gotthard; deshalb füg’ Du nun ihre Hände zusammen!“

„O Vater, wie gut Du bist!“ jubelte Elisabeth, sich stürmisch in ihres Vaters Arme werfend, während Rudolph in seiner Freude sich über die Hand Gotthard Escher’s beugte und sie stumm, keines Wortes mächtig an die Lippen preßte. –

Eine kurze Zeit nach dieser Scene war Malwine plötzlich in das Zimmer getreten und von den Ihren freudig umringt worden, während Landeck ein so großes Verlangen gefühlt hatte, sich schuldbewußt aus dem Kreis dieser Glücklichen zu stehlen.

„Also,“ sagte Malwine, nachdem ihr von allen Seiten in raschen Worten, was geschehen, erzählt worden, „also,“ sagte sie

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