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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Blick voll zorniger Verachtung und eine heftig abwehrende Bewegung mit der Hand.

„Glaubt nicht, mich noch belügen zu können!“ sagte er mit leiser Stimme und unendlich verachtungsvoller Betonung – „da leset und dann geht!“

Er zog mit zitternder Hand Papiere aus der Brusttasche hervor und reichte sie Rudolph. Während dieser sie erfaßte und gespannt entfaltete, erhob sich der Alte mühsam und schritt wankend in’s Haus hinein, dessen Thür er hinter sich zuschlug.

Rudolph hatte unterdeß die Papiere – es waren zwei Briefe, die er in Händen hielt – zu lesen begonnen.

„Sie mögen mit mir lesen, Landeck,“ sagte er dabei, „ich habe Ihnen Alles gesagt und brauche nichts mehr vor Ihnen zu verbergen. Sehen wir nach, was dies ist!“

Landeck trat zu ihm und las mit ihm das Blatt, das Rudolph in seiner zitternden Hand hielt. Es lautete:

„Du hast keine Schonung gegen mich gehabt, jahrelang nicht in Deinen argwöhnischen Gedanken, jetzt sogar nicht mehr in Deinem gehässigen Handeln. Ich wär’ ein Thor, wenn ich noch länger Schonung übte, statt die Anklage, die Du mir in’s Gesicht schleudertest, offen zurückzuweisen. Darum sage ich Dir: es ist nicht Hochmuth, wenn ich Elisabeth Deinem Rudolph nicht geben will, sondern ich will es nicht, weil Rudolph sie nicht verdient, weil er kein Mensch ist, dem ich meiner Tochter Schicksal anvertraue. Und Malwinens Vermögen habe ich nicht unterschlagen, nicht leichtsinnig für mich verwendet, nicht ‚das Capital‘ daraus gemacht, das Ding, das Leute Deiner verworrenen Anschauung als den Dämon der heutigen Welt betrachten; nein, dieses Vermögen ist Malwinen bis auf Heller und Pfennig ausbezahlt worden, weil sie es verlangte und gebieterisch von mir forderte, um den groben Cassendiebstahl zu verdecken, den Dein Rudolph vor Jahren in der Hauptstadt begangen hat.

Dein Bruder Gottfried Escher.“

Rudolph ließ, nach Luft ringend, das Blatt zu Boden fallen; er vermochte kaum noch das mit zitternden Händen gehaltene zweite zu lesen. Es war ein vergilbter alter Brief Malwinens und lautete:

„Lieber Onkel, ich bin Dir dankbar für die Vorstellungen, die Du mir machst und die unter anderen Umständen ja auch gewiß bestimmend für mich sein würden. Wie die Dinge liegen, können sie es aber nicht; denn es handelt sich um die Ehre unseres Namens, um das Schicksal Rudolph’s. Denn um Dir die Wahrheit zu sagen: er hat eben eine Lücke in seiner Casse, zu deren Füllung beinahe mein ganzes Vermögen erforderlich ist, Du aber wirst nicht wollen, daß ich es darauf ankommen lasse, daß man ihn verhaftet, wider ihn processirt, ihn zum Zuchthaus verurtheilt. Das geht nicht, Onkel. Du siehst das ein – also sende mir umgehend meine von Dir so wohl gehüteten Staatspapiere, und indem Du Dich von ihnen trennst, denke: das leichtsinnige Kind, die Malwine, ist mündig, seit einem Jahre mündig und hat ihren eigenen Kopf, den sie diesmal unbeugsam und hartnäckig aufsetzt. Natürlich muß die Sache für immer auf’s Strengste vor Onkel Gotthard verborgen bleiben.

In der zuverlässigen Erwartung, daß ich übermorgen Abend ganz bestimmt das Paket erhalten werde,

Deine getreue und dankbare Nichte Malwine.“

„Da haben wir’s,“ sagte Rudolph, tief aufathmend und mit Thränen der Verzweiflung im Auge den Brief Landeck reichend, der eben auch den zu Boden gefallenem aufgegriffen hatte, „nun ist so gut wie das Aeußerste geschehen, das Allerletzte. Das wird meinem Vater das Herz brechen, und ich stehe selber da wie gebrochen und kraftlos. Was soll ich thun?“

„Nur Eines nicht,“ versetzte Landeck, „erschüttert in die Züge des bleich gewordenen und schwer athmenden jungen Mannes blickend, „nur Eines nicht, nur nicht verzweifeln! Was wir Ihrem Vater sagen könnten, das würde freilich wenig bei ihm verfangen; er würde weder Ihnen noch mir, der als Ihr Freund auftritt, glauben. Aber er wird, er muß am Ende doch Einer glauben, der besten Zeugin in der ganzen Sache, Malwinen.“

Rudolph schüttelte hoffnungslos den Kopf, aber Landeck ließ sich nicht irre machen.

„Es ist nicht anders möglich,“ fuhr er fort, „als daß Malwinens Persönlichkeit so viel Einfluß auf ihn übt, daß er sich nach und nach ihr gefangen giebt und ihr glaubt. Die Wahrheit wird sich eine Bahn zu seinem Herzen brechen. Gehen Sie hinein, bewachen Sie Ihren Vater, sehen Sie, was Sie zu seiner Pflege thun können! Ich eile unterdeß nach Haldenwang und unterrichte Malwine von dem Allem. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß sie mit mir hierher kommen wird, um diesem armen alten Manne zu sagen, wie schweres Unrecht er seinem Sohne thut.“

„Sie kennen den harten mißtrauischen Kopf meines Vaters nicht,“ entgegnete Rudolph trostlos zu Boden blickend.

„Mag sein,“ versetzte Landeck, „und doch ist dies das Einzige und gewiß auch das Beste, was im Augenblick geschehen kann.“

Damit wandte er sich, ohne auf weitere Einwürfe zu hören, und schritt eilends den Gartenpfad wieder hinab und dann den Weg über die Berghalde, den er eben gekommen, hinunter, der Flußbrücke neben den Fabrikgebäuden zu.

Es war ein weiter Weg, erst über diese Brücke, dann am jenseitigen Flußufer hin, an Herrn Escher’s Villa vorüber und weiter hinab, bis zu der schmalen Laufbrücke, die wieder auf’s andere Ufer und zu der Eichenallee führte, welche zum Hause Haldenwang hinauf leitete. Eine halbe Stunde Gehens mochte es sein.

Landeck eilte in seiner heftigen Aufregung so angestrengt wie möglich – doch sollte er nicht unaufgehalten den Weg machen; als er, um ihn möglichst abzukürzen, quer durch den Garten der Villa schritt, trat der Landbriefträger eben die Stufen des Hauses hinab und rief seinen Namen; er mußte irgend eine recommandirte Sendung haben, denn nur mit solchen erschien er, da Herr Escher die übrigens Correspondenzen für sich und sein Haus täglich im nächsten Städtchen abholen ließ. In der That zog der Postmann aus seiner schwarzen Tasche einen fünffach gesiegelten Brief nebst einem Empfangsschein hervor. Landeck gab dem Manne, der für seinen Verkehr mit der Landbevölkerung und den Arbeitern vorsichtiger Weise Schreibzeug bei sich führte, seine Quittung; im Weitergehen öffnete er dann den Brief, der nur wenige Zeilen enthielt, und barg die in demselben eingeschlossenen Banknoten, welche eine nicht unbedeutende Summe ausmachten, in seiner Brieftasche.

Und dann hastete er in seiner Erregung weiter. Rasches Gehen dämpft in eigenthümlicher Weise die Schärfe des Gedankenlebens; in Landeck war, als er in der Eichenallee jenseits des Flusses angekommen, der Gedanke an das, was er eigentlich bei Malwinen wollte, schon sehr in den Hintergrund getreten, verdrängt von einem traumhaften Zustande, in welchem er nur noch wie magisch gezogen zu ihr eilte, wie in dunklem Drange, wie im unbewußten Gefühle, daß bei ihr für ihn Heil und Friede sei und Rettung aus jedem Sturme, und wie für ihn, so auch für die Freunde, um deren Kummer und Noth er eben so stürmisch unter den hohen Eichenwipfeln dahinschritt, jetzt schon an der Stelle vorüber, wo sich Malwine neulich von ihm getrennt, dann an dem Platze im Walde, wo ihm Rudolph die Geschichte seines Fehltrittes anvertraut hatte.

Als er Haus Haldenwang endlich erreicht hatte, hemmte er plötzlich seinen Schritt, ging dann leise, tief aufathmend die Stufen zur Nebenveranda hinauf und stand unter dieser still, wie festgebannt; im Wohnsalon, in den die offenstehende Fensterthür führte, saß Malwine vor einem kleinen Pianino und sang. Landeck hatte sie nicht mehr singen gehört, seit sie in Athen zuweilen einige kleinere Lieder des Abends im engeren Kreise vorgetragen; jetzt, wo sie allein war, hatte sie eine ihrer großen Opern-Arien begonnen, und es schien sich ihre ganze Seele darin auszuströmen, auszustürmen, mit einer Fülle und Macht, mit einer so hinreißenden Gewalt tiefer Leidenschaft, daß Landeck wie völlig bezaubert stand. Sie war wie entrückt der Welt um sie her, aller Enge, allem Fesselnden, allem Erdenelende. Ihre Seele fuhr dahin im rauschenden Siegeszuge auf den Wogen unendlicher Schönheit, über die Höhen ewiger Gedanken. Es war eine wunderbare Stimme, und eine wunderbare Seelenoffenbarung lag darin – man mußte sie gehört haben, um Malwinen ganz zu verstehen, um ihrem Wesen, ihrem sorglosen, oft übermüthig scheinenden Hinwegschreiten über die Bedingungen des Lebens, ihrer Art, die Dinge und die Menschen wie spielend zu nehmen, ganz gerecht werden zu können, um das souveräne Freiheitsgefühl und das stolze Bewußtsein einer bevorzugten Natur zu begreifen.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_108.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)