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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Niederfallen dem Kleide einen solchen Schwung zu geben, daß es sich in malerische Falten legte und von den Füßen nichts sehen ließ, als die verhüllten Spitzen. Der von gewisser Seite als unnachahmlich geschilderte „Fall“ ging übrigens in ganz einfacher Weise vor sich. Zuerst ließ Louise sich auf die Kniee, dann auf die Ellenbogen und Hände nieder und lag dann mit einem Rucke auf dem Bauche. Alles dies ging so gewandt und schnell vor sich – man erinnert sich, daß seit sechs Jahren an jedem Freitag sich die gleiche Scene wiederholt –, daß man mit den Augen kaum zu folgen vermochte. Die Füße waren lang ausgestreckt, ebenso der linke Arm, auf welchen sich der Kopf stützte. Die Augen waren geschlossen; der Athem kam keuchend zwischen den halb geöffneten Lippen hervor; das Gesicht gab sich Mühe, die größte Todesangst auszudrücken.

Unterdeß war es drei Uhr geworden. Einige der Anwesenden theilten sich dies flüsternd mit. Auf einmal machte Louise eine Bewegung. Sie lag jetzt so auf der Erde, als wäre sie an ein Kreuz festgenagelt. Die ausgesteckten Arme standen in rechtem Winkel vom Körper ab; die Hände lagen flach auf der Erde; die Beine waren gekreuzt und die Füße lagen so auf einander, daß der Rücken des rechten auf der untern Fläche des linken Fußes ruhte. In dieser Stellung blieb sie längere Zeit unbeweglich liegen.

Auf den unbefangenen Zuschauer machte die ganze Scene einen unbeschreiblich widrigen und peinlichen Eindruck. Man denke sich das mit Blut beschmutzte Kleid und Gesicht des Mädchens, die zusammengeklebten Haare, ferner die unästhetischen Stellungen und die verschiedenen oben geschilderten Manipulationen. Vervollständigt man noch das Bild, indem man sich ein halbes Dutzend Geistliche, einige dito ältliche Damen aus allen Ständen und einige wallfahrtende Laien vorstellt, welche alle das Wunder anstarren und voll Ehrfurcht jede Bewegung der „Heiligen“ mit einer Aufmerksamkeit verfolgen, die einer bessern Sache würdig wäre, so kann man sich einen annähernden Begriff von dem jeden Freitag in Bois d'Haine sich abwickelnden Schauspiele machen.

Hier schließen wir die Mittheilungen des Herrn M. L über die Lateau, und nun möge Dr. Johnen die Führerschaft der Leser durch das Labyrinth der Untersuchungen der als Wunder verehrten Täuschung übernehmen. Wir können ihm natürlich nur zu den wichtigsten Sätzen folgen, indem wir sein Schriftchen selbst der Theilnahme, die es bereits gefunden (dritte Auflage, Köln und Leipzig, E. H. Mayer), in immer weiteren Kreisen empfehlen. Es ist nicht ohne Bedeutung für die Wirkung der Johnen'schen Schrift, daß ihr Verfasser selbst Katholik ist. „Der katholischen Religion von Herzen ergeben,“ sagt er, „habe ich die Ueberzeugung, daß nur die Wahrheit, welche sie auch sei, in dieser Angelegenheit der Kirche Nutzen bringen kann. Es bedarf keines Beweises, daß hier, wie überall, eine recht baldige Erkenntniß der Wahrheit, und, wenn diese gegen die Sache spricht, ein offenes Geständniß das Beste sein wird.“

Nach Johnen's Ansicht ist ein Besuch im Hause des Wunders zur Aufdeckung der Wahrheit völlig vergebens. Darum hält er es auch für ein Zeichen von Mangel an Urtheil und Erfahrung, wenn man daraus, daß Männer wie Virchow, trotz der wiederholten Einladung von Seiten der „Germania“, nicht nach Bois d'Haine pilgern, ein stillschweigendes Zugeständniß des Rückzuges der Wissenschaft ableitet. Auch Professor Schwann aus Lüttich erklärte vor Kurzem in einem in mehreren Zeitungen mitgetheilten Briefe, daß er an den Arbeiten der Commission (zu welcher Lefebvre gehörte) in Bois d'Haine nicht Theil genommen habe, weil die Bedingungen einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht erfüllt worden wären.

Ein sehr beachtenswerther Abschnitt der Johnen'schen Schrift handelt vom Zweck der Stigmatisation. Johnen sagt:

Nach Rohling ist derselbe folgender: „Seitdem die Thatsache von Golgatha bei Tausenden gleichgültiger Seelen wie in Vergessenheit kam, wollte Gott von Zeit zu Zeit Einigen seiner Auserwählten, welche durch Gottes- und Nächstenliebe glänzten, auf wunderbare Weise an ihrem Körper jene Wunden des Welterlösers von Neuem einprägen.“ Nach allen Berichten war der heilige Franz von Assisi der Erste, der dieser Gnade theilhaftig wurde; seit jener Zeit, 1226 nach Christo, bis auf unsere Louise finden sich nach unseren Gewährsmännern etwa sechszig bis siebenzig Personen, welche die Stigmata bald so, bald anders gezeigt haben. Wenn der eben angegebene Zweck der Stigmatisation richtig ist, so muß es auffallend erscheinen, daß bis zum Jahre 1224, also in den ersten zwölfhundert Jahren des Christenthumes, kein Fall von Stigmatisation verzeichnet ist, während von da ab, bis zum Jahre 1867, also in den folgenden sechshundert Jahren, sechszig bis siebenzig Mal das Wunder von Gott gesetzt wurde. Entweder war das Wunder bis zum Jahre 1224 nicht nöthig, oder es fand sich bis dahin kein Mensch, der desselben würdig gewesen, oder endlich drittens muß man annehmen, daß Gott sich bis dahin desselben nicht habe bedienen wollen. Herr Rohling und Herr Majunke bringen uns über diesen Punkt keine Aufklärung. Für uns ist die Thatsache wohl geeignet, die Stigmatisation in Mißcredit zu bringen.

Bei Betrachtung der Geschichte der Stigmatisation muß es ganz besonders auffallend erscheinen, daß die meisten Träger der Stigmata dem weiblichen Geschlechte angehörten. Wenn nun der Zweck, den Gott durch das Wunder im Auge hat, der ist, uns Menschen noch einmal recht eindringlich, ja gleichsam in natura das Leiden Christi in Erinnerung zu bringen – ein anderer ist auch kaum denkbar, da nach katholischer Lehre eine Wiederholung des Leidens Christi um der Verdienste willen unnöthig ist – , so widerstrebt es dem gesunden Menschenverstande und dem jedem Menschen eingeborenen Gefühle für das Schickliche, daß sich Gott hierzu des Körpers eines unreifen, kranken weiblichen Wesens bedienen sollte. Die kühne Hoffnung Rohling's auf das Wunder von Bois d'Haine, daß es die Katholiken stärken, die Protestanten und Juden in den Schooß der wahren Kirche führen werde, können wir nach dem Gesagten nicht theilen. Wenn diese Wirkungen durch die Betrachtung des Lebens, des Leidens und der Lehre Jesu selbst nicht hervorgebracht werden, durch das blutende Mädchen zu Bois d'Haine werden sie nimmer zu Stande kommen. Denn wenn das Original, Jesus selbst, ohne Wirkung bleibt, wie soll dann ein so zweifelhafter, naturwidriger Abklatsch so große Kraft besitzen?

In der Geschichte der Stigmatisation, fährt Johnen fort, begegnen wir noch einem andern Punkte, der die directe Urheberschaft Gottes zweifelhaft macht. Es ist dies, wie bereits angedeutet, die für alle Träger des Wunders constatirte und in den Berichten concedirte Thatsache, daß sie vor und während der Stigmatisation krank waren. Und da sollen wir eine Thatsache, die ebenfalls einem kranken Boden entsprossen ist, die in ihrem Werthe und Wesen auf derselben Linie mit jenen Erzeugnissen verstörter Gehirnthätigkeit steht, als ein von Gott gewirktes Wunder betrachten? Die Thatsache, daß Louise von frühester Kindheit an bis heute krank war und ist, bietet uns die psychologische Erklärung ihres Handelns; sie enthält zugleich die einzige Entschuldigung ihres Thuns. Denn nur die Annahme einer Krankheit kann sie ganz oder wenigstens theilweise entlasten von der Schuld, daß sie so Viele getäuscht hat und noch täglich täuscht.

Ein weiteres Bedenken, welches uns in der Geschichte der Stigmatisirten entgegentritt, ist die große Conformität in den Erscheinungen, wenigstens in den letzten Fällen. Die Wunder sind alle wie nach einem Muster gearbeitet und verrathen dieselbe Abstammung. Anfangs klein an sich, werden sie von der Umgebung selbst groß gezogen. Unbemerkt treiben der Wunderträger und diejenigen, welche sich für die Erscheinung interessiren, in eine Fährte, aus der ihnen der Rückzug schwer wird. So schreiten sie auf der eingeschlagenen Bahn voran; sie vervollkommnen und vergrößern das Wunder immer mehr und mehr, bis von dem natürlichen Menschen fast Nichts mehr übrig bleibt. So haben es bei Louise der Pfarrer, die Bischöfe und die medicinische Commission gemacht.

Das letzte Glied in der Kette der Erscheinungen ist daher bei vielen der Stigmatisirten die völlige Enthaltsamkeit von den Subsistenzmitteln der übrigen lebenden Erdenwesen: sie leben ohne Speise und Trank. Auch Louise Lateau fastet nun schon drei Jahre. Allerdings läuft die ganze „medizinische Untersuchung“ dieser Enthaltsamkeit auf den Satz hinaus: „Louise nimmt keine Nahrung zu sich, denn sie hat es selbst gesagt, und ihre Schwester Aline hat es auch gesagt.“ Der einzige wissenschaftliche Beweis für die völlige Enthaltsamkeit ist nur durch Constatirung der Leere des Magens zu liefern; aber eine Untersuchung des Inhaltes des Magens hat nicht stattgefunden; sie wäre durch Anwendung der Magenpumpe mit Leichtigkeit auszuführen gewesen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_087.jpg&oldid=- (Version vom 18.5.2019)