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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


aber weiß, wie wenig dazu gehört, daß ein unbescholtener Mensch plötzlich in die Kategorie der „bestraften Subjecte“ übergehe, wer sich jemals einen Einblick verschafft hat in die Methode, welche von gewissenlosen Denuncianten angewendet wird, um ihre vermeintlichen Rechte vor dem Criminalrichter zu verfolgen, der wird mit mir in die Parole einstimmen: Aufbesserung der Lage der Untersuchungsgefangenen durch Verkürzung der Haft und Herstellung anständiger Arrestlocale.

Die Stadtvogtei läßt, wie gesagt, im Punkte der innern Einrichtung viel zu wünschen übrig. Die Zellen sind so schlecht gelegen, daß eine Ventilation bei den meisten in das Bereich der Unmöglichkeit gehört. Und nun oft zwölf bis fünfzehn Personen in einem Zimmer! Berührt man diese Frage, so ist sofort die Antwort in Bereitschaft: Die Leute sind es nicht besser gewöhnt. Die meisten sind froh, daß sie eine Schlafstelle und ihr auskömmliches Essen haben. Mehr verlangen sie nicht. Das ist einfach sophistisch. Man frage der Reihe nach bei den Gefangenen herum, und man wird von der weitaus größten Mehrzahl den Wunsch hören, „die Untersuchung von draußen abzumachen“. Ein ganz kleiner Bruchtheil verkommener, altersschwacher oder kränklicher Subjecte stiehlt, um wenigstens im Winter ein warmes Zimmer zu haben. Den Anderen ist der Genuß der Freiheit mehr werth, als alle scheinbaren Comforts der Gefängnißzellen.

Für die Bevölkerung der „Riesenburg“ (das ist der Spitzname des Hauptgebäudes der Stadtvogtei) sorgt selbstverständlich am meisten das eigentliche Gaunerhandwerk, die Berliner Spitzbubenzunft. Das Verbot der „rechtswidrigen Zueignung fremder beweglicher Sachen“ ist zu allen Zeiten und bei allen Völkern am häufigsten übertreten worden, und die modernen Großstädte, wie sie in allen das Wohl der Menschheit betreffenden Hauptfragen vorangehen, bieten auch die bereitesten Mittel und Wege dar, den Krieg gegen das Eigenthum bis zum Aeußersten zu führen und manches schätzbare Material für die Lösung der socialen Frage zu gewinnen. Von zehn verhafteten Personen stehen gewiß sieben unter der Anschuldigung des Diebstahls, und von diesen sieben gehören sicherlich vier zur Classe der sogenannten Hausdiebe. Es ist erstaunlich, in welch rapider Art und Weise dieses sociale Ungeziefer unserer Hauptstadt sich vermehrt hat. Man wird mich der Schwarzseherei und der Uebertreibung beschuldigen, wenn ich sage, daß ein ehrlicher Dienstbote und ein getreuer Commis im engern Weichbilde Berlins fast ebenso selten sind, wie vor zwei Jahren ein Hausbesitzer, der wenigstens nicht vorübergehend die Absicht gehabt hätte, sein Haus zu verkaufen. Wer aber die Verhandlungen des Criminalgerichts, über welche die „Gerichtszeitung“ und die „Tribüne“ referiren, fleißig liest, wird mir Recht geben. Und doch kommt vielleicht nur die Hälfte der Hausdiebstähle zur Anklage und gerichtlichen Entscheidung; in ebenso vielen Fällen wird der Strafantrag vor Erhebung der Anklage zurückgenommen.

Ich kann aber die Ansicht Derer nicht theilen, welche behaupten, das Ueberhandnehmen der Hausdiebstähle habe in der mangelhaften Besoldung unserer Dienstboten seinen Grund. Eher könnte die zu humane Behandlung und die zu große Selbstständigkeit, welche unsere „dienstbaren Geister“ sich angemaßt haben, einen Theil der Schuld daran tragen. In der Hauptsache scheint mir hier die Theorie von der „Epidemie“ Platz zu greifen. Der Dienstbotenübermuth grassirt gegenwärtig, wie vor etwa einem Jahre das „Messern“ grassirte. Dank den verschärften Maßregeln, welche von der neuen Aera unserer Criminalrechtspflege ausgegangen sind, ist der Messerheld bis auf einen kleinen Rest Unheilbarer ausgerottet oder doch so eingeschüchtert, daß er in Erwartung besserer Zeiten vorläufig die Waffe ruhig in der Hosentasche läßt. Schwieriger dürfte der Kampf gegen den Hausdieb sein. Das einzige sichere Mittel, ihm die Absatzquellen für das gestohlene Gut zu verstopfen, würde einen neuen Paragraphen des Strafgesetzbuchs erfordern. Denn der alte criminalrechtliche Begriff, wonach „wer Sachen kauft, von denen er weiß, daß sie aus einem Diebstahle herrühren“, sich der Hehlerei schuldig macht, enthält eine so feine Unterscheidung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Handel, daß ein Geschworenengericht nur in äußerst seltenen Fällen einen nicht geständigen Hehler verurtheilen wird.

Es ist mir aber in meiner Praxis noch nicht vorgekommen, daß eine der Hehlerei beschuldigte Person zugegeben hätte, von dem unredlichen Erwerbe eines in ihren Besitz gelangten Gegenstandes Kenntniß gehabt zu haben. Die sogenannten Productenhändler, kleine Handelsleute, die Alles kaufen, was nur die entfernteste Aussicht hat, in gewinnbringender Weise weiterverkauft zu werden, würden gar nicht bestehen können, wenn sie jeden ihnen zum Verkauf offerirten Gegenstand einer so mikroskopischen Prüfung unterziehen wollten, wie das Gesetz sie zu erfordern scheint. Es hieße also dem kleinen Manne eine, wenn auch etwas trübe, so doch ziemlich nahrhaft fließende Lebensquelle verstopfen, wollte man ein strenges Gesetz gegen die Hehlerei in ihrer untergeordnetsten Bedeutung erlassen. Etwas Anderes dagegen ist es mit jenen gewerbsmäßigen Diebeshehlern („Schärfern“), welche in der Regel mit ziemlich bedeutenden Capitalien arbeiten und die im Besitze einer die Leistungen unserer Theater-Maschinisten tief in Schatten stellenden Verschwindungsmechanik sind.

Es wird hier nicht nach Minuten, sondern nach Secunden gerechnet. Apparate zur Einschmelzung von Gold- und Silbersachen, bei denen der Hauptwerth nicht in der Form liegt, stehen zu jeder Zeit bereit, ebenso Fuhrwerk, vermöge dessen Gegenstände, die am Platze nicht unterzubringen sind, sofort die Reise in das Ausland antreten. Andere Absatzquellen bieten die Werkstätten der kleinen Handwerker, von denen die „Schärfer“ immer eine beliebige Anzahl an der Hand haben. Genug, der Schmuggelhandel blüht dicht unter den Fenstern der hohen Obrigkeit.

Um von der Technik, mit welcher sich diese Leute in die Hände arbeiten, nur einen kleinen Begriff zu geben, will ich einen Fall erzählen, der vor etwa zwei Jahren in den betheiligten Kreisen nicht unbedeutendes Aufsehen erregte.

Eine Dame von nicht ganz tadellosem Ruf, die sich aber in ihrem bewegten Leben eine große Fertigkeit in der Kunst, das Vertrauen anderer Menschen zu gewinnen, erworben hat, macht die Runde bei unseren Pianoforte-Fabrikanten, stellt sich denselben – versteht sich, in jedem Falle unter anderem Namen – als eine strebsame Clavierlehrerin vor und bittet, ihr gegen Unterschrift und Miethscontract, ein Pianino oder Clavier in die von ihr angegebene Wohnung zu verabfolgen. Bei etwa einem Dutzend unserer renommirtesten Instrumentenmacher gelingt ihr dies. Sie weiß die Leute derart für sich einzunehmen, daß auch nicht einer nur den geringsten Zweifel in die Reellität ihrer Absichten setzt. Sie bezahlt die erste Miethsrate im Betrage von einigen Thalern und unterschreibt die ihr vorgelegten Contractsformulare. Inzwischen hat sie sich zwölf verschiedene Quartiere gemiethet und in jedes dieser Quartiere wird eines der gemietheten Pianinos dirigirt. Dort bleibt es vielleicht einen halben oder ganzen Tag stehen und verschwindet dann auf Nimmerwiedersehen. Mit ihm die strebsame Musiklehrerin. Wenn nach einigen Wochen die Herren Verleiher kommen, um sich nach dem Befinden ihrer Instrumente zu erkundigen, schwimmen diese bereits auf dem atlantischen Ocean oder werden in einer musikliebenden Stadt Schwedens oder Norwegens bearbeitet, wohin stets ein lebhafter[1] Handel mit Instrumenten aller Art stattfindet.

Dieser Betrugsfall hat an und für sich nichts Außergewöhnliches; denn es ist die Regel, daß das Verleihen von Instrumenten ohne Caution stattfindet. Der Verleiher begnügt sich damit, das Quartier zu recognosciren, wohin das Instrument geschafft wird. Und unsere Dame hatte in dieser Beziehung dafür gesorgt, daß selbst strengere Ansprüche befriedigt wurden. Das Ungewöhnliche des Falles liegt in gewissen Nebenumständen. Die musikalische Spitzbübin war eine im letzten Stadium der Schwindsucht stehende Person; sie starb bald nach ihrer Einlieferung in das Gefängniß. Sie mußte sich also bei Ausführung ihrer Manipulationen, deren Schnelligkeit und Zweckmäßigkeit in die Augen springt, eines zahlreichen Hülfspersonals bedienen, ohne diese doch in ihren eigentlichen Plan einzuweihen. Und dann ist zu berücksichtigen, daß sie die Zeit eigentlich schlecht gewählt hatte – es herrschte damals gerade die größte Wohnungsnoth in Berlin, und es war die Blüthe der Wintersaison, wo bekanntlich die Pianoforte-Verleiher sich ihre Leute doppelt genau ansehen.

Dergleichen Hindernisse von einer Person bewältigt zu sehen, welche bei jedem Schritt, den sie macht, von einem convulsivischen Husten durch und durch geschüttelt ward, hätte unter anderen Umständen einen erhabenen Eindruck machen können. In unserm

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_048.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)