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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

zurück. Da das Häuschen auf dem Hügel dem Friedhofe näher lag als das Stift, ließ man die Leiche bis zur Beerdigung dort. Ich wachte bei ihr Tag und Nacht. Da lag er nun kalt und steif, der schöne, sonst so geschmeidige Körper! Die nicht ganz geschlossenen Augenlider ließen unter den dunkeln Wimpern einen Streifen des Auges sehen; um den Mund lag ein Friede, um den ich den Todten beneidete. „Bodiwil, wo bist Du nun? Fliegt Dein Geist durch die Finsternisse der Ewigkeit, Marianen suchend? Sie kann nicht weit sein, Bodiwil; Du bist ihr ja so schnell nachgefolgt. Oder hat sie am Thore der Ewigkeit auf Dich gewartet und fliegt Ihr miteinander den ewigen Sonnen zu? Oder schläft sie traumlos im Tannengrund und schläfst Du traumlos hier auf der Bahre?“ – Ach, was ich zu ihm sprach, was ich ihn fragte, es blieb ohne Antwort. Seine Lippen öffneten sich nicht mehr, und sein sonst so beredter Blick war erloschen. Bodiwil gab mir keinen Aufschluß über den Tod und keinen Trost für mein zerrissenes Herz.

Ehe man den Deckel des Sarges schloß, legte ich ihm Mariana’s Briefe und Manuscripte, welche ich aus Bodiwil’s Koffer genommen, unter sein Haupt. Als er unter der Erde lag, trieb es mich mit Hast von Constantin hinweg. Ich hatte Bodiwil mehr geliebt als meinen eigenen Bruder; ich konnte den Ort, wo mir so Schmerzliches und so Entsetzliches geschehen, nicht mehr ertragen. Mit einem Gefühl von Trostlosigkeit, das ich nicht beschreiben kann, löste ich sein zerfetztes Bild aus dem Rahmen und nahm es mit mir.

Auf dem Rückwege zum Stifte weinte ich wie ein Kind – und ich schäme mich nicht, es zu bekennen.

Am folgenden Tage nahm ich Abschied vom Prälaten. Ich fand ihn geknickt und fühlte, daß er sich nicht mehr aufrichten werde. Mit einem Händedruck sagte er zu mir: „Nehmen Sie die Sphinx über Bodiwil’s Bett zum Andenken mit!“

Am nächsten Morgen reiste ich ab. Ich erwartete den Postwagen um sieben Uhr; es blieb mir noch eine Viertelstunde; ich ging in den Garten und setzte mich auf die Bank unter den Kastanienbäumen. Ein dichter Nebel lag über dem Moor und den Hügeln. Alles lag vor mir da wie eine Wüste. Ein Schwalbenzug strich durch die Luft – auch ich zog fort, aber nicht froh, wie jene Schwalben. – Als ich das Rollen des Wagens hörte, ging ich den Hügel hinab. Der Postillon blies eine lustige Weise, die mir in’s Herz schnitt.

Ich warf einen letzten Blick nach der Seite hin, wo im Nebel der Friedhof lag. Dann stieg ich in den Wagen und drückte meinen Hut tiefer in’s Gesicht hinab.




Fünfundzwanzig Jahre sind seitdem verflossen; ein Theil des Stiftes Constantin brannte ab, und mit ihm verbrannten Bodiwil’s Bilder. Das Stift ist aufgelöst; die Stiftsherren wurden da und dorthin zerstreut. Ich bin alt und lebe einsam auf der Haide. Wenn ich in lauen Sommernächten vor meinem Häuschen sitze und es fliegt ein Meteor am Himmel vorüber, dann rufe ich laut und inbrünstig: „Gruß Dir, mein Bodiwil!“




Der letzte Sonnensohn.
Nachdruck untersagt.
Eine Historie von Johannes Scherr.


(Schluß.)


Bei diesem Vortrag des guten Padre mag dem armen Atahuallpa geworden sein, wie dem wohlbekannten Schüler in Goethe’s Faust bei dem immerhin beträchtlich verständlicheren Vortrag Mephisto’s wurde: dumm, sehr dumm. Indessen scheint der Inka, wenn auch nicht sämmtliche Prämissen des Dominikaners, doch aber die praktischen Schlußfolgerungen ganz gut begriffen zu haben. Man bemerkte, daß während der Predigt des Mönches die Züge des Herrschers von Peru mehr und mehr sich verfinsterten. Jetzt, nachdem der Padre ausgesalbt hatte, brach er los:

„Wie, ich, der ich größer als irgendein anderer Monarch, sollte einem Menschen mich unterwerfen? Nimmer! Und der, welchen ihr den Papst nennt, muß ein Wahnsinniger sein; denn wie könnte er sonst über Länder verfügen wollen, die ihm gar nicht gehören? Meine Religion aber, warum sollte ich sie mit einer andern vertauschen? Ihr sagt, euer Gott sei von denselbigen Menschen, die er geschaffen habe, umgebracht worden. Nun wohl, mein Gott“ – (und dabei wies der Sprechende auf den abendlich-prächtig am Firmamente hinabsinkenden Sonnenball) – „mein Gott lebt da droben und wirft segnende Blicke auf seine Kinder herab. Im übrigen, Fremdling, wer oder was gibt dir Berechtigung und Vollmacht, so, wie du gethan, zu mir, dem Herrscher dieses Landes, zu sprechen?“

Padre Vicente sah etwas verblüfft aus und wußte zur Antwort nur auf sein Brevier zu weisen. Der Inka nahm ihm, von seinem Thronstuhle sich herabbeugend, das Buch aus der Hand und schlug die Blätter um, als wolle er darin eine Erklärung aller dieser wunderlichen Dinge suchen. Als aber das Brevier stumm blieb, warf er es, plötzlich in Jähzorn ausbrechend, verächtlich zu Boden und rief dem Mönche zu:

„Sag’ deinen Landsleuten, daß ich sie für alles, was sie in diesem Lande gethan, zur Rechenschaft ziehen werde.“

Ob Atahuallpa wirklich so drohend gesprochen hat? Wir besitzen hierfür eben nur das sehr zweifelhafte Zeugniß der Spanier. Freilich, die dem Inka widerfahrene Zumuthung war unverschämt genug, auch einen weit weniger stolzen Mann mit Groll und Zorn zu erfüllen.

Der Mönch, seinerseits über diesen Ausgang seines Bekehrungsversuches nicht wenig entrüstet, raffte sein Brevier auf, lief eilends in die Säulenhalle, wo Pizarro seinen Stand genommen hatte, und rief dem Conquistador zu:

„Seht Ihr denn nicht, daß sich rings die Felder mit rothen Heiden füllen, während wir an diesem hochmüthigen Hunde Lunge und Zunge verschwenden? Greift an! Greift an! Ich absolvir’ Euch.“

Also aus Priestermund der Verdienstlichkeit seines Werkes versichert, trat Pizarro aus der Halle auf den Platz und schwenkte ein weißes Tuch in die Luft.

Das war das Mordsignal. Alsbald wurden die beiden Feldschlangen und soviel der Arkebusen die Spanier hatten, abgefeuert; die Trompeten ertönten; die ganze Bande, Reiterei und Fußvolk, brach mit einmal aus den Hallen auf den Platz hervor und warf sich von drei Seiten her mit dem nationalen Schlachtrufe „San Jago!“ wüthend auf die arg- und waffenlosen Peruaner.

Der Ueberfall gelang vollständig. Schrecken und Entsetzen fielen auf die überfallene Menschenmenge, wie der Lämmergeier auf ein Mutterlamm fällt. Nichts von Widerstand, nicht ein einziger Anlauf dazu. Alles, was die armen Menschen wagten, war dieses, daß sie in dem angehobenen schrecklichen Gemetzel, welches bald den Platz mit Leichenhaufen bedeckte, die geheiligte Person ihres Inka mit rührender Hingebung und edler Selbstopferung zu schützen suchten. Die peruanischen Edelleute drängten sich scharenweise den anstürmenden spanischen Reitern entgegen und boten, einen Wall um den Tragsessel Atahuallpa’s bildend, die Brust den Mordschwertern dar. Wiederholt erneuerte sich dieser Wall. Umsonst! Reihe nach Reihe wurde von den mordmüthigen Spaniern niedergehauen – endlich auch die Sänfteträger; der Thronsessel stürzte zu Boden, der Inka mit ihm, und er wäre wohl erschlagen worden, so nicht Pizarro das Gewühle durchbrochen und sich nicht mit erhobenen Armen schützend vor Atahuallpa gestellt hätte.

Ein gefangener Inka galt zur Zeit dem Conquistador viel mehr als ein getödteter.

Nach also zuwegegebrachter Gefangennahme des Sonnensohnes hörte das Blutbad noch nicht auf. Es verbreitete sich in die Stadt und auf die Felder ringsum. Die Kunde, daß der Inka ein Gefangener der fremden Blassgesichter, vermehrte noch die Panik. Das ganze peruanische Heer zerstob in alle Winde. Tavantinsuyu war nur noch ein Mann, dem man das Haupt abgeschlagen hatte, ein langsam verblutender, willen- und regloser Rumpf.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 820. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_820.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)