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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

bekannten Orte, entfernt. Der Weg dahin führt über Neuenstadt an der Linde, das aus den Trümmern einer Römerniederlassung erbaut wurde, nachdem die Mutterstadt, der Ort Helmbund in der Niederung, im vierzehnten Jahrhundert durch Wassersnoth oder Krieg zerstört worden. Zwischen dieser „neuen Stadt“ und Cleversulzbach steht das „tausendjährige Kirchlein“, das allein von dem ehemaligen Helmbund übrig blieb. Halb zerfallen, sieht es traurig aus seinen drei gothischen Fensteraugen hinüber nach der auf dem Bergrücken liegenden Neuenstadt, die sein vergaß. Stolz und beschattend breitet die uralte Linde, nach welcher die Stadt mit benannt wird, ihre grünen Arme dort oben aus.

Auf dem Wiesenteppiche zur Rechten stehen Tausende der melancholischen Herbstzeitlosen. Links breiten sich bunte Saatfelder aus, und dann tauchen die Häuser des Pfarrdorfes Cleversulzbach auf und sein windschiefer, kleiner Thurm. Vor dem Eingange des Dörfchens liegt der Friedhof – und dorthin ist unser erster Gang. Die Thür knarrt in den rostigen Angeln; die Umfassungsmauer ist alt und schadhaft, und auf die letzten Ruhestätten der Dörfler brennt die Sonne sengendheiß herab. Nirgends ein schattenspendender Baum; das Gras ist verdorrt; die schlichten Holzkreuze hüben und drüben sind verwittert; am Wege ist ein Kindergrab halb zugeschüttet. Der Todtengräber ruht von seiner Arbeit; zwei Blumenkränze, die den neuen, kleinen Hügel schmücken sollen, hängen einstweilen auf fremden Kreuzen. Aus der naheliegenden Kirche klingt Orgelton und der Gesang der Gemeinde herüber.

Welch heilige Ruhe auf diesem schmucklosen Friedhofe! Wenige Schritte zur Rechten, nach der Mauer hinüber und unter dem einzigen Baume des Friedhofes, einer kümmerlichen Linde, ist ein rohes, steinernes Kreuz sichtbar. Schiller’s Mutter“, sagt die kunstlos eingegrabene Inschrift. Kein Geburtsjahr und kein Todestag, kein Bibelspruch und kein gereimter Vers ist auf dem schlichten Denkmal zu finden, und ich meine, so ist’s recht und würdig. Schiller’s Mutter unter dem Hügel da vor uns, den versengtes Gras und spärlicher Epheu bedecken! Eine einzige Blume, eine blaue Campanula blüht auf dem Hügel; sie beugt matt ihr Haupt. Einförmig zirpen die Grillen auf dem Boden; ein Vogel flattert erschreckt auf und duckt sich hinter der Mauer des Nachbargartens. Es ist traumhaft still auf dem kleinen Gottesacker.

Was die hier Ruhende der deutschen Nation, der ganzen Welt gab, ist ein Unsterbliches. Ob das deutsche Volk nicht auch der Mutter seines Dichters hätte gedenken und sorgen sollen, daß ihrer letzten Ruhestätte ein Denkmal würde, das länger der Zeit und dem Verfall trotzen könnte, als jenes unscheinbare Steinkreuz? Unwillkürlich fragt man so. Und die Antwort?

Mit dem Grabe der „Schillerin“ durch eine Stein-Einfassung vereint, befindet sich dort ein zweites, das ein gleiches Kreuz trägt. Ein blühender Rosenstrauch steht statt einer Linde darauf, und ein Kranz ist darüber gehängt – ein Zeichen, daß es kein „vergessen Grab“ ist. Charlotte Mörike – eines andern schwäbischen Dichters Mutter – schläft hier neben Elisabeth Dorothea Schiller. Und der, welcher dem Andenken seiner Mutter den Stein errichtete, war’s auch, welcher jenes fast schon verschollene Grab, nach welchem bisher Niemand gefragt, bezeichnete und so der Vergessenheit entriß.

Im Jahre 1834 wanderte ein „musengeküßter“ junger Pfarrer gen Cleversulzbach, um dort sein Amt als Seelenhirt der kleinen Gemeinde anzutreten, Eduard Mörike. Er wußte, was Andere lang vergessen, daß einer seiner Vorgänger, der Pfarrer Frankh, Schiller’s Schwager gewesen und daß Frau Elisabeth Dorothea hier ihre müden Augen geschlossen. Und als er endlich ihr einsames Grab gefunden, legte er einen unvergänglich schönen Schmuck auf dasselbe nieder, folgende Verse:

„Nach der Seite des Dorfs, wo jener alternde Zaun dort
     Ländliche Gräber umschließt, wall’ ich in Einsamkeit oft
Sieh den gesunkenen Hügel! Es kennen die ältesten Greise
     Kaum ihn noch, und es ahnt Niemand ein Heiligthum hier.
Jegliche Zierde gebricht und jedes deutende Zeichen;
     Dürftig breitet ein Baum schützende Arme umher.
Wilde Rose, dich find’ ich allein statt anderer Blumen;
     Ja, beschäme sie nur, brich als ein Wunder hervor!
Tausendblättrig öffne dein Herz! entzünde dich herrlich
     Am begeisternden Duft, den aus der Tiefe du ziehst!
Eines Unsterblichen Mutter liegt hier bestattet; es richten
     Deutschlands Männer und Frau’n eben den Marmor ihm auf.“

So viel aber auch die pietätvollen Verse gelesen und gehört wurden, es fand sich Niemand, der dazu aufgefordert hätte, den stillen Vorwurf, welcher in ihnen lag, zu nichte zu machen. So ließ Eduard Mörike selber, vielleicht damals, als man seine eigne Mutter in’s Grab legte, dasjenige von Schiller’s Mutter neu herrichten und setzte ihr das einfache Kreuz.

Als man am 10. November 1859 das Geburtshaus des „großen Marbacher Kindes“ ganz seinem Andenken weihte, wurde auch die Schenkungsurkunde vom Grabe der Mutter dort niedergelegt. Die Gemeinde Cleversulzbach überließ das Eigenthumsrecht an demselben dem Schillerverein. Eine kleine Summe ist für die Erhaltung des Hügels zwar bestimmt, aber die Bodenbeschaffenheit und der Sonnenbrand machen jede Blumenpflanzung auf demselben fast unmöglich.

Der gütigen Bemühung des jetzigen Herrn Pfarrers von Cleversulzbach verdanken wir den wörtlichen Auszug aus dem Todtenbuche – das Einzige, was sich noch Schriftliches über Schiller’s Mutter daselbst findet. Der Eintrag rührt von der Hand des Schwiegersohnes her und lautet:

„1802 D. 29. Apr. N. M. 2 Uhr starb meine Frau Schwieger, weil. Frau Elisabeta Dorothea, weil. Hr. Johann Caspar Schillers, Herzogl. Württembergischen Majors u. Intendanten der Herzoglichen Solitude Gemalin, an der Entzündung u. wurde den 1 Mai Nachmittags 2 Uhr standesmäßig beerdigt, 69 Jahre 4 Mon. 16 Tage alt.“

Ueber den Pfarrer selber fand sich nur folgende kurze Notiz in den Registraturacten:

„Pf. M. Johann Gottl. Frankh, geb. Stuttgart d. 26 Dz. 1760, hier angestellt als auf dem ersten Dienst, a. 1799 od. 1800, studierte fleißig die Bibel u. seine kirchlichen Autoren, hatte a. 1804 1 Knaben von 1½ J. u. verschwindet wieder, indem d. 1. Febr. 1805 ein neuer Pfarrer, Gottlieb Friedr. Hirzel eingetreten ist.“ – –

Bilder vergangener Tage ziehen an uns vorüber. Die Sonne lacht goldig in die Fenster des weißen, saubern Häusleins. Tritt da nicht eben aus der geöffneten Thür die etwas gebeugte und doch immer noch rüstige Gestalt Frau Elisabeth Dorothea’s? Ihr Gesicht schaut so freundlich aus der weißen, faltigen Haube, und ihre Augen blicken strahlend auf ein Etwas, das sie, in weißen Kissen sanft gebettet, behutsam in den Armen trägt. Das erste Enkelchen ist im Cleversulzbacher Pfarrhause geboren, und die Großmutter trägt es, nachdem es, alter schwäbischer Sitte gemäß, baldigst die Taufe empfangen, zum ersten Male in den sonnenwarmen Garten. Sie denkt dabei, wie sie einen andern Enkel gewiegt, den Erstgeborenen ihres Sohnes – damals stand noch der Gatte verklärt lächelnd neben ihr, und der „Fritz“, der einstige heimathlose Flüchtling, hatte im stolzen Glücke den Arm um sein Weib geschlungen und sah mit leuchtenden Augen die Freude seiner alten Eltern. Das war in dem fernen Ludwigsburg gewesen. Trübes und Freudiges lag für die Matrone zwischen jenem Tage und dem Heute. Der stramme alte Major Schiller hatte sein Haupt zur Ruhe gelegt und seine Wittwe mit der letzten Tochter, Luise, in dem verwitterten Leonberger Schlosse jenseits der Solitüde zurückgelassen.

„Ich und Luise befinden uns zum Preise Gottes auch recht erträglich. Außerdem leben wir so in der Stille beisammen, arbeiten mit Spinnen und Stricken und anderen häuslichen Geschäften, machen wenige Besuche, damit wir nicht wieder Gegenbesuche bekommen, weil es in den Landstädten der üble Gebrauch mit vielem Aufwande.“

Noch stiller wurde es, als Luise mit dem Manne ihrer Wahl davonzog. Nun saß die Matrone allein am Spinnrocken, und allerhand Gedanken und Erinnerungen umwebten sie, während das Rad schnurrte und ihre fleißigen Finger nicht müde wurden, den Faden zu drehen. Da war zuerst die schmucke Gestalt Johann Caspar Schiller’s, wie er als Brautwerber vor die Jungfer Elisabeth Dorothea Kodweis trat, die erröthend und züchtig die Blicke senkte. Dann tauchte das braungetäfelte Stübchen in Marbach auf, wo neben dem mächtigen Kachelofen ein Hausrath zu sehen war, den man im Verzeichniß der „Liegenschaft und Fahrniß“ des jungen Ehepaares noch als „anzuschaffen“ aufgeführt hatte – eine Wiege. In derselben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 808. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_808.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)