Seite:Die Gartenlaube (1874) 743.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Vorkämpfer der Sclaven-Emancipation waren solche Männer. Und gleich ihnen sind es mehr oder minder Alle, welche bisher auf amerikanischem Boden im Dienste der Humanität Rettendes, Befreiendes und Erlösendes geleistet. Charles L. Brace gehört ganz und gar zu dieser Kategorie. Er war eben im Begriff Geistlicher zu werden, Missionär. Aber an einem Decembertage des Jahres 1852 fiel sein himmelwärts gerichteter Blick auf die Erde – auf ein Häuflein kleiner Jammergestalten in einem der verwahrlosten Districte des großen Hudson-Babel – und seine Mission war gefunden. Die Idee der „Children’s Aid Society“ war die seinige.

Einige ähnlich gesinnte Männer waren schnell dafür gewonnen und im März 1853 erschien der erste Aufruf der neuconstituirten Gesellschaft in den New-Yorker Blättern. Es hieß darin: „Unser Unternehmen ist aus der tiefen Ueberzeugung entsprungen, daß irgend Etwas geschehen muß, um der überhandnehmenden Noth und Verführung zum Verbrechen unter den Kindern zu steuern. Unser Zweck ist, dieser Classe, auf der ein so großer Theil der Zukunft unserer Bevölkerung ruht, für’s Erste durch Sonntags-Meetings, Industrie- und sonstige Schulen, sowie durch Unterbringung bei guten Menschen zu Hülfe zu kommen, um später, wenn es möglich geworden sein wird, die Mittel dazu herbeizuschaffen, Unterkunftshäuser (Lodging-Houses) für heimathlose Knaben zu errichten und bezahlte Agenten anzustellen, deren einzige Aufgabe die Sorge für unsere Schützlinge sein soll.“ Die statistischen Angaben, welche dem Aufruf beigefügt waren, sowie die Schilderungen des Elends und der Gefahren, denen es in ebenso menschenfreundlicher wie praktischer Weise entgegenzutreten galt, verfehlten ihren Eindruck nicht.

Die immer offene Hand des reichen Amerikaners – ganz gleich, ob offen aus wirklichem Erbarmen, ob nur aus gesellschaftlicher Rücksicht, oder um sich mit dem Himmel abzufinden – erwies sich auch dieses Mal ebenso zuverlässig wie freigebig. Eine lebhafte persönliche Agitation und eine einmüthige Unterstützung seitens der Presse thaten gleichfalls das Ihrige zur Förderung des Unternehmens, so daß dasselbe bereits im Jahre 1856 genügenden Boden unter den Füßen fühlte, um sich mit einem eigenen Freibrief des Staates New-York ausrüsten zu lassen. Heutigen Tages aber ist die Gesellschaft nahezu eine halbe Millionärin, verfügt über die jährlichen Einkünfte eines kleinen Fürsten, hat einen ansehnlichen Grund- und Häuserbesitz, Schulen, Sonntagsschulen, Unterkunftshäuser, Asyle, Werkstätten, Bibliotheken und eine Anzahl anderer Anstalten, in denen der Kampf um die jungen Seelen gegen Elend, Armuth und Verwahrlosung ebenso tapfer, wie erfolgreich gekämpft wird.

Und es ist kein leichter Kampf. Vor Allem schwer war der Anfang. Zwar das Material, in welchem es zu arbeiten galt, war leicht gefunden. Auf den Straßen, auf den Plätzen, in den Gassen, am Hafen und in den Parks der riesigen Stadt bot es sich von selber dar. In der Gestalt von Hunderten und aber Hunderten kaum über die Schwelle des Lebens getretener und doch mit ihren Kinderhänden schon auf den Brust-an-Brustkampf um’s Dasein angewiesener Geschöpfe bot und bietet es sich dar: Die Araber der Straßen, die Nomaden der Weltstadt-Sahara, die Geburten des Pflasters, Zeitungsjungen, Stiefelputzer, Musikanten, Straßenkehrer – bis hieher etwa reicht die Aristokratie in dieser primitiven Welt – Bettelbuben, Lumpensammler, Lungerer und kleine Spitzbuben, zerlumptes, baarfüßiges, halbnacktes junges Volk – und doch seines Lebens froh, doch seine Existenz als ein ebenso Berechtigtes wie die Löcher in seinen Jacken und Hosen zur Schau tragend – ein Straßengeschlecht, von dem man Alles begreifen kann, nur das Eine nicht, daß die zu ihm Gehörenden nicht auch auf diesen granitnen Seitenwegen, in diesen Gassen, neben diesen Rinnsteinen geboren sind. Aber wer will sagen, daß sie es nicht doch sind? Taufscheine – ungeheure Naivetät! Genug, sie sind da. Wie ein Wespenvolk über eine Wiese, verbreitet sich ihr riesiger Schwarm tagtäglich über das Revier der Stadt, schwirrt er mit jedem Morgenroth darüber empor, um erst in später Nacht wieder zu verschwinden.

Aber wohin verschwinden sie? Schwer zu beantwortende Frage! Die Bevorzugtesten unter ihnen, die wahren Prinzen und Scheiks haben ein Elternhaus, ja Einige von ihnen sogar Eltern darin, welche sie mit freundlichem Worte willkommen heißen, und Geschwister, die ihnen froh neben sich Platz machen. Aber wie sehr bilden diese die Ausnahme unter den Arabern des Pflasters! Ein anderer Bruchtheil mag wohl auch etwas wie eine Heimath haben – nur daß die dazu Zählenden, wenn sich’s nur eben thun läßt, vorziehen, nicht dorthin zurückzukehren, wo betrunkene oder barbarische Angehörige nichts als Elend und Rohheit mit dem kleinen Wanderer zu theilen haben. Noch Andere – und sie sind die echten Beduinen dieser jungen Nomadenwelt – wissen absolut nicht, wohin sie ihr Haupt legen sollen, obschon sie Muth genug hätten, in ein Gespensterhaus oder in Satans eigene Cabine unterzuschlüpfen. Dann sind es Hausporticuse, Thorwege, Treppenabsätze, Maurergerüste, alte Kisten, umgestülpte Wagen etc., die sich bereitwillig zu nächtlichen Asylen darleihen. Auch Neubauten mit noch offenen Fenstern und Thüren, Wasserleitungsröhren, welche der Versenkung harren, Parkbänke und leere Keller bieten Verstecke, darin und darunter sich herrlich niederkauern läßt, und die dem Gaste im Sommer ein fürstliches Nachtquartier, im Winter aber eine Zuflucht gewähren, in der er doch wenigstens des ersten und grausamsten Anpralls der Elemente spotten kann.

Und er spottet so leicht und so gern. Furcht – es wurde dies schon gesagt – kennt er nicht. Er ist seinem Taufscheine (vorausgesetzt, daß er doch einen solchen habe) mindestens um die Hälfte der darauf verzeichneten Jahre voraus, und ob er auch auf dem besten Wege sei, ein vollkommener Taugenichts zu werden, was Tapferkeit anbelangt, ist er ein Spartaner, und in Betreff des leichten Sinnes beschämt er jeden Pariser. Damit ist denn auch seine hervorstechendste Eigenschaft berührt: seine vollkommene Unabhängigkeit. Die Beziehungen, in denen er und seines Gleichen zu der tausendköpfig und hundertschichtig über sie hinweg ebbenden und fluthenden Großstadtwelt stehen, sind keine anderen, als die, in denen der Indianer zu den Grenzansiedelungen des fernen Westens, oder der in Massen auf das Pflaster San Franciscos geworfene Chinese zum legitimen Californier steht. Sie leben unter den Sohlen dieser üppigen Welt – aber in vollkommener Freiheit. Und wenn man die Bezeichnung, welche die New-Yorker Polizei für sie hat – sie nennt sie „Straßenratten“ –, und daneben die Thatsache erwägt, daß ihre Reihen es sind, aus denen sich die gefährlichsten Classen der Metropole recrutiren, so vermeint man, sie thatsächlich mit leisen, aber sicheren Zähnen an den tiefsten und geheimsten Fundamenten der Gesellschaft nagen und schaben zu hören.

Dieses Geschlecht nun war das Material, welches sich den philanthropischen Männern, deren vornehmster Name oben genannt wurde, darbot, als ihre edlen und weisen Pläne in der Gründung der „Children’s Aid Society of New-York“ im Jahre 1853 Gestalt gewannen. Aber damit, daß es sich ihnen darbot, ja selbst auf allen Straßen und Plätzen, an allen Ecken und Enden darbot, hatten sie es noch nicht. Das größte Hinderniß, sich seiner zu bemächtigen, war nicht die diesem Geschlechte angeborene frühreife Nichtsthuerei, sondern jene Unabhängigkeit und jene Leichtigkeit, sich mit dem Leben in seiner dürftigsten Gestalt abzufinden, welche es noch in ungleich höherem Grade charakterisiren, als seine Nichtsnutzigkeit. Dieser Unabhängigkeitssinn und das mit ihm verbundene radicale Vorurtheil gegen Alles, was Schule, namentlich aber was Sonntagsschule heißt, in welch letzterer sie nichts Anderes als den Vorhof zum Correctionshause erblickten, mußte in erster Reihe überwunden werden.

Und es wurde überwunden. Nachdem Herr Brace mit seinen Schulen und sonstigen im Namen der neuen Gesellschaft in’s Leben gerufenen Unternehmungen gleich im ersten Jahre die erfreulichsten Erfolge erzielt, war er bereits Ende des Jahres 1853 in der Lage, den Directoren den Plan zu einem Logirhause für heimathlose Knaben vorzulegen, welcher, alsbald bewilligt, mit der dem Manne eignen Energie zur That gezeitigt wurde. Schon im Mai 1854 wurde im obern Stockwerk eines im Herzen der untern Stadt gelegenen Hauses (des alten „Sun-Gebäudes“ an der Ecke von Fulton- und Nassau-Street) das erste Unterkunftshaus eröffnet, in welchem heimathslose Knaben für einen geringen Entgelt ein Nachtquartier und gutes Essen erhalten und ein reinigendes Bad nehmen konnten. Es erhielt nach dem unter den Beschäftigungen und Erwerbszweigen seiner jugendlichen Kunden vorherrschenden Berufe den Namen Newsboys-Lodging-House – Zeitungsjungen-Logirhaus. Daß sich dieses

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 743. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_743.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)