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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

gewärtig, welche diesem Schauspiele nachgehen. Heute war ich der einzige Fremde, welchen der Wind hierher verweht, und wurde denn auch meiner Würde gemäß empfangen. In einer aus Birkenprügeln errichteten Verzäunung weideten gegen fünfhundert Rennthiere: wie ich vernahm, etwa der vierte Theil des Besitzstandes, über welchen das Familienhaupt gebietet. In den mannigfaltigsten Stellungen lagerten oder standen die schönen Thiere mit den sanften, klugen Augen umher, und jauchzend und plaudernd sprang eine Anzahl Kinder und Erwachsener zwischen denselben ab und zu; die Buben warfen den Kühen den Lasso um’s Genick, das Geweih war noch zu jung und noch mit Fell überzogen; dann wurden sie an einem der umherliegenden Birkenklötze festgebunden und von den Mädchen gemolken. Die Böcke, oft mit den kolossalsten Geweihen, sodaß man kaum begriff, wie das Thier dieses Gewicht tragen konnte, standen oder lagerten, von dieser Procedur unbehelligt, zwischen den anderen. Die Thiere waren ziemlich scheu, ließen sich nicht gern anrühren, auch nicht von den Lappen; sie wechselten eben das Haar, und über dem jungen ließ sich das alte leicht in dicken Büscheln ausraufen. Zwischen den braunen Thieren befand sich eine ganze Anzahl weißer.

Doch auch der männlichen Heerde blieb es nicht erspart, ihren Tribut zum Besten der Familie zu zahlen, wenn nicht in Milch, so doch in Blut; denn mit Verwunderung sah ich, daß auch einem Bocke die Schlinge über das Genick fiel und denselben an den Block fesselte. Afrajo, der Familienälteste, stieß ihm das Messer mit raschem Stoße in’s Herz und ließ es daselbst stecken. Mit unendlich hülfeflehendem Blicke seiner großen Augen blickte das arme Thier umher, bis es nach kurzer Frist wankte, in die Kniee sank und bald verendete. Es wurde dann rasch ausgeweidet, das Blut sorgfältig gesammelt und ein Theil das Fleisches zum Mahle bestimmt. Ich lud mich dazu ein.

Es waren echte Gammen, welche von den hier ansässigen Leuten bewohnt wurden, nicht die leichten Sommerzelte, welche die Lappen sonst auf ihren Wanderungen in der guten Jahreszeit begleiten. Diese Familien schienen wenigstens den ganzen Sommer hier zuzubringen und haben sich deshalb zu festen Wohnsitzen bequemt. Auf gekrümmten Hölzern sind Rasenstücke aufgebaut, und so ein halbkugeliger Erdhaufen aufgeschichtet, welcher in seinem Innern den Wohnraum birgt. Das Ganze ist etwa von Manneshöhe. In der Mitte ist der Feuerherd, über dem ein großer Kessel hängt; eine weite Oeffnung in der Decke gestattet dem Rauche den Abzug. Der Raum unter dem Rasendache ist am Boden mit weichen Rennthierfellen belegt und dient den Familiengliedern und den Hunden zur Lagerstatt. Die wenigen Geräthe, deren eine Lappenfamilie bedarf, sind unter den Zelten untergebracht, die in der Nähe der Gamme stehen; solcher Zelte bedienen sich die Lappen indessen nur bei schlechtem Wetter; jetzt waren es blos einige Stangengerüste, an denen allerlei Kleidungsstücke und Geräthe hingen.

Während das Mahl bereitet wurde, trieb ich mich noch außen herum und plauderte mit den Leuten, so weit es das beiderseitige gebrochene Norwegisch gestatten wollte. Allerlei kleine Gegenstände wurden mir zum Kaufe angeboten: Komager, die spitzen Schnabelschuhe aus Rennthierfell, sowie ganz zierlich geschnitzte Löffel aus Rennthierhorn u. s. f.; auch mit Rennthiermilch ließ ich mich bewirthen, die, indem sie durch einen Haarballen gegossen ward, nothdürftig von Haaren und Schmutz befreit wurde. Es ist eine köstliche, feste, aromatische Milch, von der aber jede Kuh nur äußerst wenig giebt.

Nun war es zum Abendessen Zeit, und die Familie versammelte sich in der Hütte; mir wurde der Ehrenplatz gegenüber der Thür angewiesen; zu meiner Rechten saß der Familienälteste, ein häßlicher, schmutziger Lappe von unangenehmem Gesichtsausdrucke, zu meiner Linken Prinzessin Gula, ein gar nicht häßliches Lappenmädchen von kleiner Gestalt und angenehmem Gesichte. Leider war die entsetzlich schmutzige Kleidung von abgeschabten Rennthierfellen wenig geeignet, ihre Reize zu erhöhen. Rechts und links folgten noch mehr Familienglieder, nächst der Thür saßen die Kinder zweifelhaften Geschlechts. Die älteren Frauenzimmer tragen einen grobwollenen Unterrock, die Kinder gehen ebenso gekleidet. Zwischen die Menschen drängten sich die Hunde; wir schienen im engern Familienkreise zu sein, die nächste Gamme schien dem Gesinde anzugehören.

Zuerst wurde nun ein Stück vom Bug des Thieres in dem brodelnden Kessel kaum halbgahr gesotten, von Prinzessin Gula auf ihrer Schürze zerlegt und an die einzelnen Glieder der Familie vertheilt. Auch ich bekam mein vollgemessen, gerüttelt und geschüttelt Maß und fand das Fleisch sehr wohlschmeckend, abgesehen davon, daß das Salz fehlte. Darauf wurde in die Fleischbrühe vom Blute des Thieres gethan, dann Milch, zerschnittene Stücke von Herz, Leber und Lunge und ein wenig Mehl; zuletzt wurde das Ganze abermals gekocht; als dieses Gemisch fertig war, ward es in hölzernen Näpfen an die Einzelnen vertheilt und mit gleicher Begierde wie das Fleisch, größtentheils mit den Fingern vertilgt. Auch diesem Gerichte konnte ich meinen Beifall nicht versagen, nur daß ich die gleiche Ausstellung wie bei dem vorigen zu machen hatte, nämlich in Betreff des Mangels an Salz.

Für die Bewirthung wie für die Kleinigkeiten, die ich gekauft hatte, waren die Forderungen nur mäßig. Auch die reichen Engländer werden nicht stärker geschröpft, wie ich früher aus den Preisen der von ihnen gekauften Sachen ersah.

Mitternacht war nun nicht allzu fern, aber es war doch nicht Nacht; zwar die Zeit der vollen Mitternachtssonne war vorüber, und das Gestirn tauchte schon fast seine volle Scheibe unter den Horizont, aber es blieb hell und warm. Die Rennthierheerde wurde nun aus der Fenz entlassen; die gesättigten Familienglieder mit den ihnen zugehörigen Hunden eilten jauchzend voraus, langsam folgte die Heerde und kletterte unter Grunzen und häufigem Stillstehen an den Berghängen empor – ein schöner Anblick, wie sich die Heerde an demselben zerstreute, von den kläffenden Hunden zusammengehalten, aufgescheucht vorwärts getrieben; das bekannte eigenthümlich knisternde Geräusch der Kniekehlen machte sie dem Ohre noch aus ziemlicher Ferne vernehmbar.

Kurz darauf hatte ich Gelegenheit, den echt nomadischen Lappen in ihren Eiswüsten einen Besuch zu machen und in ihren Sommerzelten auszurasten. Es war auf einem Ausfluge nach dem Sulitelma. Dieser Umstand war für uns Ursache, einem in der Nähe befindlichen Lappenlager einen Besuch abzustatten. Wir glaubten das Ziel noch weit und wollten nun eine förmliche Entdeckungsreise arrangiren: ein Pferd für’s Gepäck, Decken und Felle, um nöthigenfalls im Freien zu übernachten – alles das sollte herbeigeschafft werden. Es war aber gerade die Zeit der Heuernte; die Leute hatten wenig Zeit, und die dortigen Pferde sind weit von den berühmten norwegischen Bergpferden in Hardanger etc. verschieden, werden zudem wie Kindbetterinnen geschont. Sich selbst legen die Leute alle möglichen Anstrengungen auf, aber dem geliebten Gaul darf nichts passiren. Wir wurden daher an die Lappen gewiesen; diese seien vertraut mit Weg und Steg im Gebirge und den Pfaden über die Gletscher und Abgründe, bei ihnen könnten wir auch Rennthiere für’s Gepäck miethen.

Wir mußten nach unserm Ziel ein Stück über den Langvandsee rudern. Wenn es irgendwie weitere Entfernungen gilt, scheinen dem Normann die Füße ganz ungeeignete Beförderungsmittel; obgleich das Seeufer keine irgend bedeutenden Terrainhindernisse bot, führte doch kein Weg an demselben auch nur bis zum nächsten, etwa eine Stunde entfernten Nachbar, und nun ging’s durch das Langvandsthal hinan. Der See bietet keine besonderen Naturschönheiten, er ist rings von langgestreckten Fjelden umgeben, jenen sanften, endlos gedehnten Gebirgsformen, welche das nordische Hochland charakterisiren und aller kühnen Formen bar sind; aber an diesen Bergen, welche den See umgeben, donnern von allen Seiten ungeheure Wasserfälle herab; die Mulden des Hochgebirges sind von Ketten großer Seen ausgefüllt, oben wie in den tieferen Thälern läßt der Wasserreichthum keinen Fußbreit ebenen Landes frei, alle Tiefen sind mit Seen bedeckt; erst wo das Land ansteigt, findet der Fuß Raum. Diese Seen entleeren Gewässer in den Langvand, und sie stürzen in imponirenden Massen theils über sanfter geneigte Abhänge in raschem Schusse herab, theils donnern dieselben über Felswände in schauerliche Rotunden hinunter, die sie sich selbst gewühlt haben. Mehrere dieser Fälle würden in besuchten Gegenden Ziel mancher Wallfahrten von Naturschwärmern werden, zumal ob der ungeheuren Wassermassen, die sie zu Thale senden. Hier donnern sie Jahr aus, Jahr ein ihre gewaltige Melodie, ohne daß ein Mensch derselben lauscht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 632. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_632.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)