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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

„Aber? So mußt Du auch wählen zwischen ihr und uns.“

„Du entwickelst ja auf einmal eine ganz ungewöhnliche Bestimmtheit,“ rief Reinhold gereizt. „Ich muß? Und wenn ich es nun nicht thue? Wenn ich diese ideale Künstlerliebe für vollkommen vereinbar halte mit meinen Pflichten, wenn –“

„Wenn Du ihr nach Italien folgst,“ ergänzte Ella.

„Also auch das weißt Du schon?“ fuhr der junge Mann heftig auf. „Du scheinst ja so vortrefflich unterrichtet zu sein, daß mir nur noch übrig bleibt, die Nachrichten, die man Dir so freundlich zugetragen, zu bestätigen. Es ist allerdings meine Absicht, in Italien meine Studien fortzusetzen, und wenn ich dort Signora Biancona begegnen sollte, wenn ihre Nähe mir neue Begeisterung zum Schaffen giebt, ihre Hand mir die Künstlerwelt öffnet, so werde ich nicht der Thor sein, das Alles zurückzustoßen, blos weil ich nun einmal das Schicksal habe – eine Frau zu besitzen.“

Ella zuckte zusammen bei der schonungslosen Härte dieser letzten Worte.

„Schämst Du Dich dieser Frau so sehr?“ fragte sie leise.

„Ella, ich bitte Dich –“

„Schämst Du Dich meiner so sehr?“ wiederholte die junge Frau scheinbar ruhig, aber es war ein seltsamer, nervendurchzitternder Klang in ihrer Stimme. Reinhold wendete sich ab.

„Sei nicht kindisch, Ella!“ erwiderte er ungeduldig. „Glaubst Du, daß es für einen Mann wohlthuend oder erhebend ist, wenn er von seinen ersten Erfolgen nach Hause kommt und findet hier Klagen, Vorwürfe, kurz, die ganze nüchterne Prosa der Häuslichkeit. Du hast mich bisher damit verschont und solltest das auch in Zukunft thun. Du könntest sonst die Erfahrung machen, daß ich nicht der geduldige Ehemann bin, der dergleichen Scenen widerstandslos über sich ergehen läßt.“

Es bedurfte nur eines einzigen Blickes auf die junge Frau, um die grenzenlose Ungerechtigkeit dieses Vorwurfs zu erkennen. Sie stand da, nicht wie eine Anklägerin, sondern wie eine Verurtheilte, fühlte sie doch, daß in dieser Stunde das Urtheil ihrer Ehe und ihres Lebens gesprochen wurde.

„Ich weiß wohl, ich bin Dir nie etwas gewesen,“ sagte sie mit bebender Stimme, „habe Dir nie etwas sein können, und wenn es sich jetzt nur um mich handelte, so ließe ich Dich gehen, ohne ein Wort, ohne eine Bitte weiter. Aber das Kind steht ja noch zwischen uns, und da“ – sie hielt einen Augenblick inne und athmete tief auf – „da wirst Du es wohl begreifen, wenn die Mutter Dich noch einmal bittet – daß Du bei uns bleibst.“

Die Bitte kam scheu, zaghaft heraus; man hörte ihr die Ueberwindung an, die es sie dem Manne gegenüber kostete, in dessen Herzen auch nicht mehr eine Stimme für sie sprach, und doch bebte in den letzten Worten ein so rührend angstvolles Flehen, daß es nicht ganz ungehört an dem Ohre ihres Gatten verhallte. Er wandte sich wieder zu ihr.

„Ich kann nicht bleiben, Ella,“ entgegnete er milder als vorhin, aber doch mit kühler Bestimmtheit. „Es handelt sich um meine Zukunft. Du ahnst nicht, was in dem Worte für mich liegt. Begleiten kannst Du mich nicht mit dem Kinde. Abgesehen davon, daß dies bei einer Studienreise unmöglich ist, würdest Du Dich bald genug unglücklich fühlen in einem fremden Lande, dessen Sprache Du nicht verstehst, unter Verhältnissen und Umgebungen, denen Du auch nicht entfernt gewachsen bist. Du wirst Dich jetzt überhaupt gewöhnen müssen, mich und mein Leben mit einem andern Maßstabe zu messen, als mit dem des engherzigen Vorurtheils und der kleinbürgerlichen Beschränktheit. Du bleibst mit dem Kleinen hier im Schutze Deiner Eltern; in spätestens einem Jahre kehre ich zurück. In diese Trennung mußt Du Dich fügen.“

Er sprach ruhig, freundlich sogar, aber jedes Wort war eine eisige Zurückweisung, ein ungeduldiges Abschütteln der ihm lästigen Bande. Hugo hatte Recht: er lag bereits zu tief im Banne der Leidenschaft, um noch auf irgend eine andere Stimme zu hören – es war zu spät. Ein kaltes, mitleidloses „Du mußt Dich fügen“ war die einzige Antwort auf jene rührende Bitte.

Ella richtete sich mit einer ihr sonst fremden Entschlossenheit empor, und es war auch ein fremder Klang in ihrer Stimme; es lag etwas darin von dem Stolze des Weibes, der, jahrelang getreten und unterdrückt, sich endlich doch aufbäumte, als man ihm das Aeußerste bot.

„In die Trennung, ja!“ erwiderte sie fest. „Ich bin ja machtlos dagegen. Aber nicht in Deine Rückkehr, Reinhold. Wenn Du jetzt gehst, mit ihr gehst, trotz meiner Bitte, trotz unseres Kindes, so thue es – aber dann gehe auch für immer!“

„Willst Du mir Bedingungen stellen?“ rief Reinhold auflodernd. „Habe ich es nicht jahrelang getragen, dieses Joch, das die sogenannten Wohlthaten Deines Vaters mir aufzwangen, das meine Kindheit verbittert, meine Jugend vernichtet hat und mich jetzt an der Schwelle des Mannesalters zwingt, mir das erst in endlosen Kämpfen zu erobern, was ein Jeder als sein natürliches Recht beansprucht, die freie Selbstbestimmung? Ihr habt mich losgelöst von Allem, was Anderen Freiheit und Glück heißt, habt mich festgekettet an eine verhaßte Lebenssphäre mit allen nur möglichen Banden und glaubtet nun Eures Eigenthums sicher zu sein. Aber endlich ist doch für mich die Stunde gekommen, wo es beginnt, zu tagen, und wenn es dann auf einmal wie ein Blitz in die Seele niederschlägt und in flammender Klarheit das Ziel zeigt und den Preis am Ziele, dann erwacht man aus dem jahrelangen dumpfen Traume und findet sich – in Fesseln.“

Es war ein Ausbruch der wildesten Leidenschaftlichkeit, des glühendsten Hasses, der schrankenlos hervorbrach, ohne danach zu fragen, ob er sich über Schuldige oder Unschuldige ergoß. Das ist ja eben das furchtbar Dämonische der Leidenschaft, daß sie den Haß gegen Alles kehrt, was sich ihr entgegenstellt, und träfe dieser Haß auch die nächsten und heiligsten, träfe er auch die selbstgeknüpften Bande.

Es folgte eine lange, todtenstille Pause. Reinhold hatte sich, überwältigt von der Aufregung, in einen Sessel geworfen und die Hand über die Augen gelegt. Ella stand noch an demselben Platze wie vorhin; sie sprach nicht, regte sich nicht; selbst das Beben, das so oft während der Unterredung sie durchzitterte, hatte aufgehört. So vergingen mehrere Minuten, da endlich näherte sie sich langsam ihrem Gatten.

„Das Kind läßt Du mir doch wohl?“ sagte sie mit zuckender Lippe. „Dir würde es nur eine – Last sein in Deinem neuen Leben, und ich habe ja sonst nichts weiter auf der Welt.“

Reinhold sah auf und sprang dann plötzlich empor. Es waren nicht die Worte, die ihn so seltsam erschütterten, auch nicht die todtenstarre Ruhe ihres Gesichtes; es war der Blick, der sich auch ihm jetzt so unerwartet und überraschend entschleierte, wie einst seinem Bruder. Zum ersten Male sah auch er in dem Antlitze seiner Gattin die „schönen blauen Märchenaugen“, die er so oft an seinem Knaben bewundert, ohne je danach zu fragen, woher sie stammten, und diese Augen waren jetzt groß und voll auf ihn gerichtet. Es stand keine Thräne darin, auch keine Bitte mehr, aber ein Ausdruck, dessen er Ella nie für fähig gehalten, ein Ausdruck, vor dem sein Auge zu Boden sank.

„Ella,“ sagte er ungewiß. „Wenn ich zu heftig war – was hast Du, Ella?“

Er wollte ihre Hand ergreifen; sie wich zurück.

„Nichts. Wann gedenkst Du zu reisen?“

„Ich weiß nicht,“ antwortete Reinhold immer mehr betreten. „In einigen Tagen – oder Wochen – es eilt nicht.“

„Ich werde die Eltern benachrichtigen. Gute Nacht!“ Sie wandte sich, um zu gehen. Er that ihr heftig einen Schritt nach, als wolle er sie zurückhalten. Ella blieb.

„Du hast mich mißverstanden.“

Die junge Frau richtete sich hoch und fest auf. Sie schien auf einmal eine Andere geworden zu sein; diesen Ton und diese Haltung hatte Ella Almbach nie gekannt.

„Die ‚Fessel‘ soll Dich nicht länger drücken, Reinhold. Du wirst ungehindert Dein Ziel erreichen und Deinen – Preis. Gute Nacht!“

Sie öffnete rasch die Thür und trat hinaus. Das Mondlicht fiel hell auf die schlanke Gestalt ist dem dunklen Kleide, auf das starre blasse Antlitz und die blonden Flechten. Im nächsten Augenblicke schon war sie verschwunden. Reinhold stand allein.




„Das ist jetzt ein Elend hier im Hause!“ sagte der alte Buchhalter im Comptoir, indem er die Feder hinter das Ohr steckte und das Rechnungsbuch zuklappte. „Der junge Herr seit drei Tagen fort, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben, ohne nach Frau und Kind zu fragen – der Herr Capitain setzt den Fuß nicht mehr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 445. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_445.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)