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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

durchaus unähnliche Gemüthsbewegungen ausdrücken kann, je nachdem man ihm eine untere Gesichtspartie mit veränderter Nasenrichtung und verschiedenem Mundwinkel-Ausdruck anfügt. Wenn bei einem Portrait Augapfel und Gesicht nach ungleichen Richtungen gewendet sind, so ist es oft schwer, mit Bestimmtheit zu erkennen, wohinaus der Blick schweift. Dies ist die Gesichtslage, welche die besseren Portraitmaler und Photographen mit Vorliebe festhalten, um das störende Ueberallhinblicken des Portraits zu vermeiden.

Wenn uns Jemand anschaut, so wendet er nicht nur sein volles Gesicht gegen uns, sondern die Pupille befindet sich auch genau in der Mitte des Auges, so daß auf beiden Seiten der Iris gleich große Ausschnitte des weißen Augapfels sichtbar sind. Verharrt diese Person nun in Blick und Stellung unverändert, während wir vor ihr auf- und niedergehen, so treten wir auf beiden Seiten alsbald aus der Richtung ihres Blickes, während wir uns die Profilansicht verschaffen; der fixirte Blick trifft eben nur einen Punkt oder einen beschränkten Umkreis. Ganz anders bei einem Portrait. Ist dieses einmal en face gemalt, und sind seine Augen auf einen gerade davorstehenden Beobachter gerichtet, so wird Letzterer unverwandt den gleichen Anblick erhalten müssen,

er möge nun das Gemälde seitwärts von rechts oder links, von oben oder unten betrachten. Ja sogar, wenn er sein Auge ganz nahe an die Gemäldewand legt, werden die Augen in dieser sehr schrägen Richtung auf ihn zugewendet bleiben, sobald nur die Umrisse des Bildes recht scharf und die Bildfläche vollkommen eben, zum Beispiel eine Holzplatte ist. Denn wenn durch eine solche Veränderung des Standpunktes auch einzelne Linien verkürzt erscheinen, so geschieht dies doch mit ziemlicher Gleichmäßigkeit und die Pupille behauptet unverändert die Mitte der Augenlidspalte, wie dies der Fall sein muß, wenn der Blick auf uns gerichtet bleiben soll. Da nun eine Person, die uns dergestalt mit ihrem Blicke folgen wollte, sich unserer Bewegung entsprechend herumdrehen oder wenigstens die Augäpfel bewegen müßte, so werden wir, namentlich bei einer hastigen Wendung, die Täuschung erhalten, als führe das Bild wirklich die erforderliche Bewegung aus.

Der Leser wolle sich hiervon an dem Bilde des römischen Hirtenknaben oder Pifferari überzeugen, welcher, mit einigen Veränderungen aus einer größeren Composition von Heinrich Lehmann herauscopirt, deutlich die Augen zu rollen scheint, wenn man das Blatt hin- und herbewegt. Besitzt das Gesicht zugleich einen drohenden Ausdruck oder das Auge eine stechende Schärfe, so kann sich der Eindruck einer solchen Malerei leicht in’s Unheimliche steigern. Ein von Raphael gemaltes Portrait des Cesare Borgia, welches sich im Palaste Borghese in Rom befindet, soll sich durch eine derartige, fast dämonische Wirkung auszeichnen. Alte Madonnen- und Heiligenbilder sind sehr häufig absichtlich so gemalt worden, daß ihr Blick vom Altare auf die Augen aller in der Kirche versammelten Gläubigen gleichmäßig trifft. Der schöne, von Correggio auf Seide gemalte Christuskopf der Berliner Galerie, welcher bei vielen kirchlichen Ceremonien unseres Kaiserhauses als Hausaltar dient, verdankt einen Theil seiner bedeutenden Wirkung der nämlichen Eigenschaft des tiefschwermüthigen Blickes. Nicht selten geben derartige Bilder zu Wundererscheinungen Anlaß, indem die Gläubigen behaupten, eine Augenbewegung ober ein Wimperzucken wahrzunehmen. Noch im Jahre 1850 fand ein Madonnenbild in dem Städtchen Subiaco des ehemaligen Kirchenstaats wegen dieses häufig an ihm beobachteten „Wunders“ vielen Zulauf. Die älteren Portraitmaler haben sich desselben Mittels mit Vorliebe bedient, um den Zügen ihrer Schöpfungen eine von der Darstellung unabhängige Lebendigkeit mitzutheilen.

Wenn einzelne Theile einer solchen Figur in starker Verkürzung dargestellt sind, so kann die scheinbare Bewegung einen gewaltsamen Charakter annehmen. Ein lehrreiches Beispiel hierzu

giebt die Darstellung eines Leichnams auf dem Secirtische, welchen ein belgischer Maler in solcher Verkürzung gemalt hat, daß man das Gesicht mit den starrgeöffneten Augen zwischen den Fußspitzen erblickt. Geht man vor diesem Bilde schnell auf und nieder, so scheint sich der Körper auf dem Tische um seinen Kopf zu drehen; macht man dagegen mit darauf gerichteten Augen einen kleinen Sprung, so scheint der Leichnam sich ebenso plötzlich herumzuwerfen. Diese Wirkung läßt sich am leichtesten erläutern durch die Abbildung eines Schützen, der so dargestellt ist, als ziele er genau nach dem Auge des Beschauers. Alsdann sieht man natürlich von dem ganzen Gewehre fast nichts weiter als die Mündung des Laufes, durch die man würde hindurchsehen können, wenn das Rohr hinten unverschlossen wäre (vergleiche die Abbildung). Ginge die Richtung des Laufes auch nur ein ganz klein wenig neben dem Auge vorbei, so müßte sofort etwas von der Seitenfläche des Gewehres sichtbar werden. Wir können uns deshalb, insbesondre wenn wir das eine Auge schließen, zu einem solchen Gemälde stellen, wie wir wollen, der Schuß wird stets, sogar wenn man das Blatt verkehrt nimmt, unsern Kopf bedrohen, denn wir sehen ja von allen diesen Standpunkten in die Mündung des Rohres hinein. Man hat dieses Kunststück früher mit großer Vorliebe angebracht. So sah man Freund Hein mit einem überallhin treffenden Bogen auf den Klosterwänden dargestellt und den Spruch darunter. Semper ubique suos mors inopina videt! (Immer und überall ersieht der unvermuthete Tod seine Opfer.) Ein Bild dieser Art befindet sich unter anderen in dem Wallraf-Richartz’schen Museum zu Köln, einen Schweizer Scharfschützen darstellend, der mit seinem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 387. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_387.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2023)