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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

wird sich dieser drolligen Figur noch erinnern. Brenicke trug Winter und Sommer einen hechtgrauen Anzug mit gleichen Gamaschen. Mochte es regnen oder schneien, mochte Sonnenschein oder Sturm herrschen, stets trug er sein graues Mützchen in der Hand auf seinem Rücken. Niemand hat Brenicken auf der Straße je mit bedecktem Kopfe gesehen. Aus den weiten Taschen seines Rockes sahen neugierig verschiedene Brenneisen in die Welt. Jeden Morgen zehn und Abends fünf Uhr sah man dieses originelle Männlein von der „Alten Schönhauser Straße“ nach dem Opern- oder Schauspielhause gehen. So hat der berühmte Maler Wilhelm Krüger unsern Brenicke auf einem Bilde verewigt, das sich gegenwärtig im Winterpalaste zu St. Petersburg befindet; es stellt eine große Parade „Unter den Linden“ vor Nicolaus dem Ersten von Rußland dar.

Brenicke gehörte schon unter Iffland dem königlichen Theater an und wurde erst unter dem Generalintendanten Herrn von Küstner pensionirt. Zeger, der alte verdienstvolle Regisseur Weiß und dieser Brenicke waren ganz besonders befreundet; sie gaben zusammen ein kostbares Trifolium ab. Obgleich Brenicke schon lange nichts mehr im Theater zu thun hatte, konnte er es nicht über’s Herz bringen, je eine Aufführung zu versäumen. War in beiden Häusern Vorstellung, so ging er aus dem einen in das andere, ordnete hier und da an den Frisuren der Damen etwas, und war solches geschehen, ging er in die Garderobe des alten Weiß, wo er entweder mit Letzterem eine Partie Schach oder, war Zeger zugegen, Präferenz spielte. Dieses harmlose Vergnügen wurde dem Trifolium durch ein Mandat des Generalintendanten bald zu Wasser gemacht.

Als Hermann Hendrichs in voller Jugendblüthe zum ersten Male die königliche Bühne als Don Carlos betrat, saß während der Vorstellung das Trifolium in der Garderobe, um sich an einer Partie Schach, die Weiß und Brenicke spielten, während Zeger interessevoll zusah, zu ergötzen. Weiß, im Costüm des Domingo, die hohe Stirn mit der Hand stützend, dachte eben einen siegverheißenden Zug zu thun, als plötzlich von unten herauf aus dem Zuschauerraum ein ungeheures Pfeifen und Trommeln erscholl. Weiß, im Zuge inne haltend, sagte: „Na, das ist doch zu toll von den Berlinern! So einen talentvollen Menschen wie den Hendrichs auszupfeifen! Was wollen denn die Berliner? Die jugendlichen Liebhaber und Helden wachsen nicht auf den Bäumen.“

Da wird plötzlich die Thür der Garderobe aufgerissen und der Inspicient ruft mit Stentorstimme: „Herr Weiß! Um des Himmels willen! Sie kommen ja! Das Publicum wüthet! Eine Mordpause!“

„Ach so!“ antwortete Weiß, indem er mit dem weiten Aermel seiner Mönchskutte das ganze Schachspiel zusammenfegte, „das galt mir.“

Und damit ging er gelassen zur Garderobe hinaus. Dieser Affaire wegen wurde dem alten Brenicke der Zutritt zur Bühne verboten. Mit jenem Verbote hat die Generalintendanz den alten Mann schach und matt gesetzt; Niemand sah das freundliche Männlein mehr Abends fünf Uhr hinter der „neuen Wache“ hervor kommen, um in’s Opern- oder Schauspielhaus zu gehen, sein Schach oder Präferenz zu spielen – der Tod setzte ihn bald darauf matt. Kurz nach ihm starb auch Zeger, von Allen geehrt und geachtet.

Adolph Meyer.




Die Feuerbestattung.


Vor einigen Jahren wurde mir das Glück zu Theil, den Frühling in der Schweiz zu verleben. Zu keiner Jahreszeit ist die Poesie der Berge holder und großartiger als im Lenze. Dann wird das Grün der Vegetation nicht vom Schnee und Eise der Bergesspitzen durch einen breiten Gürtel öden, grauen Gesteins getrennt, sondern jeder der stolzen Bergesriesen erscheint in der Majestät eines Gletschers, dem das weiße Gewand vom hohen Gipfel herab bis dicht und unmittelbar an das Grün der Föhren- und Lärchenwaldungen sich erstreckt. Man erkennt seine alten Freunde kaum wieder. Dieselben Berge, welche im August bedeutungslos und unschön erschienen, treten jetzt in vollen Prachten dem Besucher entgegen und entzücken durch die nun scharf hervorleuchtenden Einzelheiten ihrer Formen.

Und die Bäche, die Wasserfälle! Während der herbstlichen Reise hielten sie ebenso ihre Ferien wie der sie Besuchende. Jetzt aber sind sie in voller Arbeit. Rauschend und schwatzend schnellen sich die grünlichweißen Achen über das Steingeröll ihres Bettes. In mächtigen Garben gesellt sich zu ihnen das von der Höhe herabstürzende frischgeschmolzene Wasser, welches mit dem Tosen und Brausen des Jugendübermuthes seiner Fessel entrinnt und in’s Dasein tritt. Welche Umgebung ist ihm aber auch bereitet! Kaum ist der Schnee in dem Thale oder auf dem Bergeshange verschwunden, so zeigt sich ein Teppich des saftigsten Smaragdgrüns, und nach wenigen Tagen ist er mit Blumen übersäet. In allen Farben blühen sie hervor, leuchtend und strahlend im hellsten Farbenglanze. Fällt noch einmal eine leichte Schneedecke, so wird sie bald von der wirksamen Mittagssonne durchsichtig gemacht, und unter dem eisigen Schleier schauen vertrauensvoll und froh die Blumenaugen empor. Zauberhafte Schönheit!

Wer inmitten dieser Herrlichkeiten die reine Bergesluft einschlürfen darf, deß Auge schweift mit Entzücken von Bild zu Bild und saugt sich Kräftigung. Wenn irgendwo, so ist hier der Monat Mai ein Liebeskuß, der Erde aufgedrückt vom Himmel. Ich genoß diese Zeit am schönsten in Schuls (Graubünden), dem herrlich gelegenen Oertchen, welches oberhalb des tief unten in feuchter Schlucht dicht am Flusse gelegenen Curhauses Tarasp in schönster Umgebung und Aussicht erbaut ist. Nur das noch höher auf dem Bergesrücken aus höchst reizvoller Umgebung weit in das Land schauende Fettan kann mit ihm wetteifern; eine kleine, wohlhabende, von Touristen viel zu wenig gekannte und besuchte, zum klimatischen Aufenthalte vorzüglich geeignete Ortschaft. Vor meinem Fenster thronte das Kirchlein von Schuls hoch oben auf dem schroff aus dem Inn aufsteigenden Felsen. Die Glocke lud zur Kirche ein, und ich eilte, dem Rufe zu folgen, um der Aussicht von dem am Werkeltage verschlossenen Kirchhofe mich zu erfreuen. Dicht um die Kirche fanden sich Grabhügel ist engen Reihen. Sie schienen alle neu, denn noch hatte kein Rasen sie überzogen. Aber – kein Grab war verziert. Kein Kreuz, kein Denkstein verkündete des Schläfers Namen. Selten nur, auf wenigen Gräbern, blühten ausgehobene Wiesenblumen. Sollte die Bewohnerschaft so arm sein? Sollte sie der Pietät für ihre Todten entbehren? Daß das Letztere nicht der Fall war, hatte ich schon aus der anmuthenden Sitte erkannt, daß für jeden Gestorbenen in Schuls nicht nur die Hinterlassenen, sondern die Bewohner des ganzen Dorfes trauern. Die gesammte Gemeinde fühlte sich also als eine einzige große Familie. Um so mehr überraschte mich der schmucklose Zustand der Gräber.

Wie ward mir aber, als ich näher trat und auf der dunklen Erde der Grabhügel zahllose weiße Gegenstände im Sonnenlichte blinken sah. Es waren menschliche Gebeine! – Als ich später ein Grab graben sah, zeigte sich die Kirchhofserde an allen Stellen von Knochen durchsetzt. Knirschend fuhren Hacke und Grabscheit durch Schädel und Knochen. So kam es, daß auch die Oberfläche der Hügel dieselbe widerliche Beimengung zur Schau trug. Hier lag ein Stirnbein, dort ein Hinterhauptsbein, da ein halb zerbrochener Oberarm, daneben Stücke des Fußes. Alle Knochen waren von den Weichtheilen befreit, aber so wohlerhalten, als ob ein Anatom sie sorgfältig präparirt hätte. Zwischen den Knochen aber lagen Fetzen der Kleidung, hier ein Aermel von einer Männerjacke, weiterhin ein Stück des Beinkleides, und unten ragte ein Stiefelabsatz aus der Erde. Aus einem Grabhügel hing ein wohlerhaltenes Leinenband, blau mit weißen Streifen. Ich zog an dem derben, groben Bande. Da kam eine Schleife zum Vorschein, das andere Ende des Bandes, und nun hängt die noch fest gebundene Schleife mit beiden Enden an zwei langen Bändern aus dem Grabe. Ein altes Mütterchen belehrte mich, daß dies das Schürzenband eines jungen ihr wohlbekannten Mädchens gewesen, welches vor wenigen Tagen durch neue Benutzung des Grabes in seiner sogenannten „ewigen Ruhe“ gestört worden sei; sie habe die Verstorbene gekannt, und eine ihr ebenfalls bekannte Freundin habe der Entschlafenen damals den Liebesdienst der letzten Bekleidung erwiesen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_308.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)