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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Ehrfurcht nur Mitleid einflößt, wenn wir seinen Namen hören, der einst einen so guten Klang in Deutschland hatte. Es ist der oft genannte Professor Ewald, einer der sieben Göttinger Kämpfer gegen die Willkür des Königs Ernst August von Hannover, jetzt der wüthendste und verbissenste Particularist, dessen tragikomische Erscheinung und Reden unwillkürlich Heiterkeit erregen, eine traurige Ruine, in der statt des früheren Geistes der Freiheit jetzt nur das Gespenst des Welfenthums spukt. Mit dem Centrum mehr oder minder verbunden sind die Polen, unter denen der Abgeordnete Dr. Niegolewski durch Geist und Rednergabe hervorragt, ferner die reichsfeindlichen Elsasser, welche eine ganz besondere Beachtung verdienen. An ihrer Spitze steht der Bischof Räß von Straßburg, ein kleiner, klug aussehender Greis mit scharfen Zügen, der in seinem violetten Talare und mit dem gleichfarbigen Käppchen auf dem weißen Kopfe einen recht würdigen Eindruck macht, obgleich ihn Herr About wegen des bekannten Protestes gegen den Antrag seines Collegen Teutsch für einen verkleideten Weinhändler hält. Ein nicht gewöhnliches Redetalent entwickelte der Canonicus Gerber oder Guerber aus Hagenau, der mit vielem und rührendem Pathos den Klagen seiner Landsleute Worte lieh, und sein College, der Pfarrer Winterer aus Mühlhausen, welcher in ähnlichem Sinne mit jener leidenschaftlich theatralischen Rhetorik sprach, welche die französische Rednerschule charakterisirt. Ihre zum Theile begründeten Vorwürfe gaben dem Fürsten Bismarck die Gelegenheit, eine seiner glänzendsten Reden zu improvisiren, gegen die ihre französische Rhetorik sich nicht behaupten konnte, obgleich sie sichtlich Eindruck machten.

Auf der rechten Seite des Hauses herrscht wieder entschieden das aristokratische Element vor, das sich auch äußerlich durch die hohen, eleganten und vornehmen Gestalten kund giebt. Mitten unter diesen Herren zeichnet sich Graf Moltke durch seine schlichte, bescheidene Erscheinung aus. Der weltberühmte Stratege hat sich auch als bedeutender Redner mehrfach gezeigt, obgleich er sich nur selten hören läßt und es vorzieht, gedankenvoll zu schweigen. Sein schlanker Nachbar mit aristokratischem Gesichte und blondem Vollbarte ist der Prinz Wilhelm von Baden, Bruder des regierenden Großherzogs, früher Commandeur der badischen Truppen im Jahre 1866, gegenwärtig preußischer General der Infanterie und Commandeur der ersten badischen Infanterie-Brigade im Feldzuge gegen Frankreich, ein fein gebildeter und allgemein beliebter Herr. In seiner Nähe sitzt der Fürst von Lichnowski, der Bruder des genialen, unglücklichen Felix, mit dem er jedoch wenig oder gar keine Aehnlichkeit zu haben scheint. Interessanter sind die nächsten beiden Abgeordneten, die als Führer der sogenannten deutschen Reichspartei gelten, der bekannte Graf Bethusy-Huc, ein gewandter Redner, der nur mitunter allzu kühne Bilder braucht, und Herr von Kardorff, jener schlanke Herr mit feinen intelligenten Zügen. An Beide schließt sich der frühere Landrath Friedenthal an, zwar kein Aristokrat von Geburt, aber ein reicher Gutsbesitzer, der sich um die neue Kreisordnung entschiedene Verdienste erworben hat und dessen Rath in allen ähnlichen Fragen von der Regierung gern gehört und beachtet wird. Hinter demselben erblicken wir die beiden Herzöge von Ratibor und Ujest, den Fürsten von Pleß und den – Cultusminister Falk, einen angehenden Vierziger, dessen schlichte äußere Erscheinung keineswegs den energischen Gegner aller kirchlichen Uebergriffe vermuthen läßt. Das Gleiche gilt von seinem Collegen, dem Handelsminister Achenbach, dem Nachfolger des vielberufenen Grafen Itzenplitz. Eine besondere Gruppe bilden die alten Excellenzen, unter denen man manche interessante und bedeutende Persönlichkeit findet, wie den früheren Reichsminister für Justiz im Jahre 1848 und jetzigen Präsidenten der Oberrechnungskammer von Mohl aus Karlsruhe, der die deutschen Grundrechte verkündigt hat, ferner von Bernuth, gleichfalls Justizminister der neuen Aera in Preußen unter dem Ministerium Hohenzollern und endlich noch den ehemaligen bairischen Ministerpräsidenten Fürsten von Hohenlohe-Schillingsfürst, den Nachfolger des Herrn von der Pfordten, Vicepräsidenten des Zollparlaments und des deutschen Reichstags, bekannt durch seine echt patriotische Gesinnung.

Die aus so verschiedenartigen Elementen zusammengesetzte Versammlung bietet natürlich dem Beobachter ein ebenso interessantes wie bewegtes Schauspiel, das an manchen Tagen, wenn eine besonders wichtige Verhandlung vorliegt, einen bedeutenden Eindruck macht. Im Ganzen herrscht meist ein ruhiger, gemessener Ton vor, der nur selten durch einen stürmischen Auftritt unterbrochen wird und den Ordnungsruf des Präsidenten nöthig macht. Die politischen Gegensätze haben im Laufe der Zeit von ihrer Schärfe verloren und sich aneinander abgeschliffen; auch finden sie in den Commissionssitzungen hinlängliche Gelegenheit, sich auszusprechen und zu bekämpfen. Nur in den religiösen Fragen verrathen die Heißsporne des Centrums eine große Reizbarkeit, die sich zuweilen in scharfen Worten oder unarticulirten Lauten Luft macht. Auch fehlt es nicht an Rednern, welche eine unwillkürliche Heiterkeit erregen oder durch ihre bloße Erscheinung eine wahre Panik verbreiten, indem sie den Saal leeren und die Fraction Rubin füllen.

Dagegen giebt es Momente der höchsten Spannung und einer wahrhaft heiligen Stille. Dies ist stets der Fall, wenn bei einer großen Verhandlung sich ein besonders hervorragender Redner zum Worte meldet, oder wenn gar Fürst Bismarck sich von seinem Sitze erhebt, um in seiner bekannten Weise sich selbst oder eine Maßregel der Regierung gegen die Angriffe eines Abgeordneten zu vertheidigen. Meist beginnt er mit leiser Stimme, von der Tribüne kaum vernehmbar, stockend und zögernd, bis er wärmer und erregter Schlag auf Schlag immer dichter und vernichtender auf das Haupt seiner Gegner niederfallen läßt, bald mit würdigem Ernste und staatsmännischer Größe, bald mit vernichtendem Spotte und schlagendem Witze ihre Gründe widerlegend, trotz Krankheit, Schmerzen und sichtlicher Schwäche die Hörer fesselnd und mit sich fortreißend, kein eigentlicher kunstvoller, schulgerechter, aber ein geborener, genialer Redner, den wir unwillkürlich bewundern müssen, auch wenn wir nicht mit seiner Politik immer einverstanden sind.

Ein ganz besonderes Interesse erregte in der letzten Zeit die große und wichtige Debatte um die Militärvorlage, wobei es sich eigentlich um das Budgetrecht handelte. Wenn auch die Mehrzahl der Versammlung die Nothwendigkeit einer starken Heeresmacht anerkannte und auch bereit war, aus diesem Grunde die Forderungen der Regierung zu bewilligen, so war doch selbst ein großer Theil der Nationalliberalen nicht geneigt, sich für ewige Zeiten durch die Annahme des Gesetzes binden zu lassen und auf das Bewilligungsrecht der nöthigen Kosten für immer zu verzichten. Von Neuem drohte daher ein sowohl für die Regierung wie für den Reichstag und das ganze Land höchst gefährlicher Conflict, der durch den bekannten Compromiß beseitigt wurde.

Während der schwebenden Verhandlungen herrschte die größte Aufregung, die sich auch in den Debatten des Hauses kund gab und leider eine Spaltung der Fortschrittspartei herbeiführte, indem zehn Mitglieder derselben unter der Führung von Löwe-Calbe, wie wir hören, mehr aus persönlichen als aus sachlichen Gründen ihren Austritt aus der Fraction erklärten, ohne deshalb ihre politische Gemeinschaft mit derselben aufzugeben. Obgleich durch die vorher erfolgte Vereinbarung, woran sich hauptsächlich der kranke Reichskanzler und die Herren von Forckenbeck und Bennigsen lebhaft betheiligten, dem Kampfe die Spitze abgebrochen war und der Erfolg sich mit Gewißheit voraussehen ließ, so waren doch die Tribünen bis auf den letzten Platz besetzt und die Abgeordneten selbst leidenschaftlich bewegt. In den Gängen und der großen Halle des Hauses machte sich schon früher eine fast stürmische Unruhe bemerkbar; alte Freunde und Fractionsgenossen begegneten sich in heftigem Streite und schieden als Gegner, da sie sich über ihre Stellung zu der Militärvorlage nicht vereinigen konnten. Selbst ist dem Lager der Nationalliberalen drohte ein Zwiespalt auszubrechen, weil Lasker mit anerkennungswerther Festigkeit das Budgetrecht gewahrt wissen und sich höchstens zu der siebenjährigen Frist verstehen wollte. Unterdessen fanden an dem Lager des leidenden Fürsten Bismarck in der Wilhelmstraße fortwährende Besprechungen mit den bereits genannten Herren und selbst ernste Berathungen unter dem Vorsitze des greisen Kaisers statt, deren Resultate die Abgeordneten jetzt mehr oder minder erregt besprachen.

Unter so gespannten Verhältnissen wurden die höchst interessanten Verhandlungen über die Militärvorlage mit einem durchaus objectiven und klaren Bericht des Abgeordneten Miquel

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_296.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)