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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

dessen am 9. März 1867 im Bureau vor drei Zeugen abgegebenes, ausdrückliches Anerkenntniß, es habe mit dem Postscheine seine Richtigkeit – was wünschen Sie mehr?“

Wie mit einem Schlage trat mir jetzt der Vorfall vom 9. März mit voller Helligkeit vor die Seele, und der kalte Angstschweiß kam mir auf die Stirn.

„Daß der Brief nicht angekommen ist,“ fuhr Herr Helmreich fort, „hat Ihnen Herr Justizrath Giese schon erzählt.“

„Ich habe Ihnen bereits gesagt,“ warf dieser ein, „daß ein solcher Beweis meines Erachtens ganz unerheblich ist, weil wir den Schaden nicht tragen würden, sondern Sie oder die Post; aber wenn es darauf ankäme, könnte ich ihn allerdings führen. Mein Freund, der Postvorsteher Lauk in Hagen, hat schon privatim constatirt, daß ein solcher Brief in Hagen nie eingelaufen und ausgegeben ist. Er sagte, erfahrungsmäßig verschwänden Werthsachen, wenn sie fortkämen, in der Regel am Aufgabe- oder Ausgabeort, selten dagegen auf dem Transporte, und Alles spreche hier dafür, daß der Geldbrief nicht am Ausgabeort verschwunden sei. Ich und mein College haben uns ganz zufällig hier getroffen und dachten die Sache kurzer Hand durch eine Audienz bei Ihnen, Herr Oberpostdirector, abmachen zu können. Wollen Sie die Güte haben, uns Bescheid zu geben, so werden wir Sie auch keine Minute länger als nöthig belästigen.“

Der Oberpostdirector hatte während des ganzen Gesprächs dasselbe gleichgültige Aussehen beibehalten. Er sagte höflich zu den Advocaten: „Die Herren werden wohl so freundlich sein, einen Augenblick in mein Sprechzimmer hier links zu treten. Ich muß mit meinen Beamten conferiren, ehe ich Ihnen Bescheid geben kann.“

Als die Beiden abgetreten waren, wandte er sich an den Director mit der Aufforderung, ihm Vortrag über die Sache zu halten, und hieß mich, so lange dieser dauere, draußen zu verweilen. Nach einer für mich endlos langen Zeit rief er mich wieder hinein. Er war allein. Sein gutes Gesicht sah sehr bekümmert aus.

„Haben Sie am 31. December 1866 einen Geldbrief mit dreitausend Thalern angenommen?“

Ich konnte nicht Ja und nicht Nein antworten. In den letzten Tagen des December ist der Geldverkehr ein außerordentlich reger und er hatte kurz vor Neujahr 1867 zehn- bis zwanzigtausend Thaler täglich betragen. Ob darunter auch ein Brief mit dreitausend Thalern gewesen war, wer konnte sich dessen erinnern? Ich sagte das dem Vorgesetzten.

„Schlimm,“ erwiderte er, „dann haben wir als nächsten Anhalt nur den Schein und die Bücher. In den Büchern – hier sind sie – ist der Brief nicht verzeichnet …“

„Um Gotteswillen,“ stieß ich, auf das Höchste erschreckt, hervor. „Unmöglich, unmöglich …“

„Nicht verzeichnet, also bleibt nur der Schein. Betrachten Sie den! Ist er von Ihnen ausgestellt worden?“

Bleich vor innerer Aufregung, starrte ich das Papier an. Ich hoffte, es sollte mir irgend etwas daran fremd sein; aber nein, es war das gewöhnliche Formular, ausgefüllt mit meinen Schriftzügen und an diesen meinen Buchstaben war kein Häkchen und kein Punkt, den ein Anderer als ich gemacht haben konnte. Und doch sagte mir eine innere Stimme, die Sache könne nicht in Ordnung sein.

„Es ist unbestritten,“ antwortete ich, „daß ich das Papier beschrieben habe. Es hat jedoch schon einmal in meinem Leben eine Rolle gespielt, und zwar folgende.“ Ich erzählte dem Vorgesetzten darauf den Vorfall vom 9. März, den er kopfschüttelnd anhörte.

„Das ist ja eine fatale, merkwürdige Geschichte,“ sagte er nachdenklich, „das heißt nur dann merkwürdig, wenn Sie von jeder Schuld frei sind. Das ist aber schon der dritte Geldbrief, der seit Ihrer Amtsführung verloren gegangen ist. Sie wollen heirathen; Ihre Braut ist arm; Sie schaffen die ganze Aussteuer an; Sie brauchen dazu Geld –“

„Halten Sie ein, Herr Oberpostdirector!“ rief ich empört, „verurtheilen Sie nicht, ehe Sie die Sache kennen! Ich schwöre Ihnen, daß ich niemals auch nur einen Pfennig bei Seite gebracht habe.“

Der Oberpostdirector sah mir mit bewegter Miene einen Moment tief in die Augen. Sein Blick war so scharf und durchdringend, daß ich ihn nicht ausgehalten haben würde, hätte ich auch nur das mindeste Schuldbewußtsein gehabt. Ich blickte ihm frei und frank in’s Gesicht, dann lenkte er seine Augen wieder auf das verhängnißvolle Papier, das vor ihm lag, und sagte kurz:

„Leider spricht der Schein gegen Sie. Ich kann unter diesen Umständen nichts Anderes thun, als Ihnen achtundvierzig Stunden Bedenkzeit gehen. Binnen dieser Frist haben Sie den Beweis zu schaffen, daß der Brief niemals eingeliefert worden ist. Gelingt Ihnen dies nicht, so haben Sie um Ihre Entlassung einzukommen. Dies ist mein letztes Wort. Sie können Gott danken, daß ich Sie, nachdem Sie die Ausstellung des Scheines eingeräumt haben, nicht sofort verhaften lasse.“

Dann schritt er zu dem Zimmer, in dem die Adressaten verweilten, gab Helmreich den Schein zurück und theilte ihnen mit, daß er ihnen nach drei Tagen die bestimmteste Antwort geben könne und werde. Ich hörte dies, auf meinem Platz wie angenagelt stehen bleibend, mit an, ja, ich sah deutlich, wie einer der Adressaten, der Justizrath Giese, beim Fortgehen sein Taschentuch verlor; ich machte die Bemerkung, wie dick die Stiefelsohlen des Herrn Oberpostdirectors seien, und zugleich wußte ich, daß ein ungeheures Unglück über mir schwebte und daß ich nach achtundvierzig Stunden wahrscheinlich ein ehrloser und brodloser Mensch sein würde, ein Hund, auf den die Anderen mit Fingern zeigten, ein –

Eine Handbewegung des Oberpostdirectors wies mich zur Thür hinaus.




Es begann jetzt die Hetzjagd auf Beweise. Ich hatte bis zum Sechszehnten Mittags Zeit für meine Nachforschungen und überlegte in der ersten Stunde, wie ich diese Zeit verwenden solle. Ich entwarf einen Feldzugsplan. Zunächst schien mir die Ermittelung erforderlich, ob der Rittergutsbesitzer Kuntz Gründe zur Vornahme einer Fälschung hatte. Ich begann deshalb damit, daß ich Erkundigungen über seine Verhältnisse einzog, und hatte das große Glück, sehr bald auf einen Mann zu stoßen, der mit der Lage des Herrn Kuntz genau vertraut war und mir für einen Zehnthalerschein noch an demselben Abend Alles erzählte, was ich wissen wollte. Der Inhalt seiner Mittheilungen war kurz folgender.

Der Rittergutsbesitzer Kuntz besaß ein sehr hübsches und ertragreiches Areal. Dasselbe war für jene sechszigtausend Thaler, die der Gutsbesitzer Fernow zu fordern hatte, verpfändet. Außerdem hatte Herr Kuntz aber noch andere Schulden zum Betrage von sechs- bis achttausend Thalern, nicht eingetragene große und kleine Lappenschulden. Um die Schuld von sechszigtausend Thalern auf einen niedrigeren Zinsfuß zu bringen und die Lappenschulden zu bezahlen, hatte er sein Gut zur Aufnahme in die sogenannte „Landschaft“ angemeldet und um ein Darlehen von achtzigtausend Thalern in Pfandbriefen nachgesucht. Die Gewährung dieses Gesuches hing von dem Syndicus des Verbandes der Rittergüter ab, und dieser, das wußte man allgemein, befürwortete kein Darlehen an einen Schuldner, gegen den im letzten Jahre Execution vollstreckt war. Unter diesen Umständen mußte sich Kuntz, wollte er die Aussicht auf Ordnung seiner Verhältnisse nicht verscherzen, ängstlich vor Executionen hüten. Er hatte im December 1866 gerade das Geld zusammen, das er als Zinsen nach Hagen zu schicken hatte, als sich plötzlich das Gerücht verbreitete, er sei insolvent geworden. Jetzt stürmten ihm die Gläubiger das Haus. Er hatte sich darauf an Bekannte, Verwandte, Freunde und Fremde mit der Bitte gewandt, ihm wenigstens so lange das Geld für die Befriedigung der am meisten stürmischen Gläubiger zu leihen, bis er die Pfandbriefe erhalte, sie verkaufe und mit dem Erlös ihnen Alles zurückzahle. Meine Quelle wußte, daß ihm diese Bitten an vielen Orten abgeschlagen worden waren. Am letzten December 1866 hatte er dann die dreitausend Thaler eingepackt und sie zur Post getragen. Er war darauf mit dem Annahmeschein zurückgekehrt. Im Anfang des Monats Januar hatte er sämmtliche auf Bezahlung dringende Gläubiger befriedigt und dazu mindestens drei- bis viertausend Thaler ausgegeben. Bis zu einer Execution war es so nicht gekommen.

Der, welcher mir das erzählte, war bisher Inspector,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_114.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)