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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Die alten Buchen des Webichtwäldchens bei Weimar mit allen ihren gemeinen, Silber- und Goldfasanen, ein Bild der Welt, grüßten mich als alten Bekannten, denn auch „in diesen heil’gen Hallen“ hatte ich als Knabe, an der Hand meines Onkels und meiner Tante frisches Waldleben genossen und zum ersten Male ein Hoftheater und darin das „Tausendschönchen“ gesehen, eine Zauberoper aus älterer Zeit, dieselbe würde mir längst entschwunden sein, wenn nicht darin der Hauptheld, ein zwerghafter Jägersmann, die kleinen „Gernegroße“ aller Zeiten in Wort und Bild auf’s Trefflichste persiflirt hätte. Er und nur er hatte Alles gedacht, vorausgehen, erfunden und gethan, und mit hoher Selbstbefriedigung sang er der Welt sein schönstes Lied mit dem ewigen Refrain:

„Denn in der Stadt
Nennt man mich nur
Den Riesen Goliath.“ –

In Weimar verließ mich mein treuer Begleiter, und ich besuchte Tante, Vettern und Bäschen. Die treue Tante und zwei Bäschen – ich hatte sie, wie so viele herzige Freunde meiner Jugend, zum letzten Male gesehen. Die Tante war eine dichterische, ideale Seele, von kleinbürgerlichen Verhältnissen in eine Lebensbahn gedrängt, die sie hohen Muthes wandelte, doch war sie, als Spiegelbild und spätes Echo jener frühen Dichter- und Künstlerzeiten ihrer Heimath, zu Höherem geboren. Ob sie glücklicher geworden wäre? – Sie ruhe sanft auf jenem weiten Friedhofe Weimars, auf welchem eine große Zeit begraben liegt. Sie, die stille, bescheidene Frau, gehörte ihr geistig an wie Wenige.

Bald jedoch drängte mich ein lieber freundlicher Verwandter, ein Hofbeamter der vierziger Jahre, möglichst rasch „zum Städtle hinaus“. Er hatte nicht ganz Unrecht, denn leicht konnte es dem Telegraphen einfallen, mich auf der Vetternstraße zu überraschen. Wir wanderten selbander hinaus auf ein einsames Dörfchen, das schon in der Nähe von Erfurt, dem Gärtnerparadiese, liegen mußte, denn es war gewürzig reich umkränzt von langen und breiten Feldern, von Coriander, Hirse, Mohn, Raps, Hanf, Flachs, kurz von einem wahren Meere von Handelspflanzen. Hier suchten wir bei einer freundlichen Lehrerfamilie behagliches Nachtquartier. Ich galt als ein Verwandter meines Vetters, als irgend ein Jäger aus Kurpfalz – – aber statt allein zu bleiben, trafen gleichzeitig noch mehrere Lehrer ein. Es mußten Ferien sein. Unter Anderen war auch ein redseliges Haus dabei, der, alle Hochachtung vor seiner Pädagogik vorbehalten, ein ganz vorzügliches Jägerlatein sprach.

Dieser Herr Lehrer erzählte uns beim Morgenkaffee mit allen möglichen Ausschmückungen meine Fluchtgeschichte, da er soeben aus dem obern Voigtlande ankam. Im Anfange glaubte ich, er kenne mich und wolle sich einen Spaß mit mir machen; allein bald erkannte ich, daß er auf eigene Faust fabelte. Man hatte uns in tiefer Nacht mittelst langer Himmelsleitern, die man an die Frohnveste gelegt, herausgeholt. Wer die „Man“ waren, wußte er nicht, wahrscheinlich ein Corps Böhmen aus den böhmischen Wäldern. Bei alle dem Eindringen über Gärten und Hofmauern und bei allem Einbringen von fürchterlich langen Feuerleitern – denn das Dach war sehr hoch – hatte Niemand etwas gehört. Der gute Dichter ahnte nicht, daß er dem Helden seines Romanes gegenüber saß; denn er fügte mir noch die Versicherung bei, daß er den Rödiger von Jena her ganz gut kenne. Mir machte dies natürlich viel Spaß; mein Hofmann saß dagegen sichtlich auf Kohlen.

Die Gesellschaft begleitete mich noch eine Strecke hinaus in die bäuerlichen Gewürzparadiese; dann wandelte ich allein zum Vetter Anton nach Gebesee, und von dort ließ mich der Vetter mit zwei fetten Ackergäulen nach dem 1866 so viel genannten Langensalza kutschiren. Meine Mutter hatte als Jungfrau einige schöne Jahre in dieser Stadt zugebracht, Grund genug, ihr ebenfalls einige Stunden zu widmen. Dort sah ich auch zum ersten Male Ulanen, jene preußische Reiterschaar, die in dem Kriege von 1870 und 1871 eine so glänzende Rolle gespielt hat.

Ein Langensalzaer Fiaker rumpelte mich glücklich nach Eisenach hinein. Ich war von Jena aus in den „Rautenkranz“ gewiesen. Dort sollte ich alte und sichere Freunde treffen. Ja wohl! Alte Freunde traf ich dort schon, allein mit der Sicherheit schien es mir so, so.

An der Speisetafel erschienen zu meiner Rechten und Linken zwei alte gute Freunde von ehedem, dermalen aber total umgesattelte Burschenschafter, der eine davon, Schmid von Jena, vulgo Flez – noch hängt sein sprechendes Portrait über meinem Clavier – Polizeisecretär und aus puren Reactionsgelüsten katholisch geworden. Beide kannten mich natürlich, wie ich sie, auf der Stelle. Von dem Andern, Förster mit Namen, fürchtete ich nichts. Von Flez merkwürdiger Weise Vieles; obgleich ich gerade in Jena mit Flez, wo er eine bedeutende Rolle in unserem Verbindungsleben spielte, sehr intim war und ihm in Kneipe, Versammlung und Mensur stets auf’s Tapferste secundirt hatte. Allein mir kam dabei der verflixte Becker aus Chemnitz nicht aus dem Sinn, der seinen ehemaligen Studiengenossen Heubner ja auch verrathen hatte, und dabei erschien mir Flez merklich unruhig und unangenehm berührt zu sein; kurz, ich zog mich so rasch wie möglich zurück, durchschlenderte aber doch noch einige Gassen, da ich mich ja doch so wie so in Flezens Hand gegeben sah; sobald ich aber auf einen öffentlichen Platz heraustrat, stand merkwürdiger Weise Freund Flez, gar nicht fern, mir gegenüber. Und doch – es ist zum Lachen heute – wagte Keiner den Anderen anzureden. Ich sah Gespenster, und ihn hinderte seine Stellung, und wahrscheinlich mehr noch seine Wandlung, sich mir zu nähern. Darauf besuchte Flez die Schweiz und erzählte daselbst einem unserer gemeinsamen Freunde selbst dieses Abenteuer und lachte, wie ich heute, über unser „kindliches“ Benehmen. Der Mann soll längst schon „zur großen Armee“ einberufen worden sein.

Es scheint, daß es, wie damals, so auch heute noch, wie ein Beispiel im reformirten Zürich andeutet, zur Taktik der Ultramontanen gehört, auch auf protestantischen Universitäten Proselyten zu suchen und zu machen; denn neben Schmid sind noch zwei „Burschenschafter“ jener Tage und jenes engeren Kreises von Jena her mir bekannt geworden, die heute zu den Säulen der Unfehlbarkeit zählen.

Bald genug schüttelte ich den Eisenacher Staub von den Füßen und zog mich, wieder zu Fuß, unter der Wartburg herum, hinein in tiefe und frischgrüne Waldreviere, dann durch prächtige Walddörfer und über fruchtbare Waldwiesen, bis ich nach einigen Stunden abermals in der Nähe einer meiner Vetterstationen anlangte.

Lange und freundlich blickte mir durch enge Waldthäler und neugierig durch die hohen Baumwipfel herab die alte ehrenfeste Wartburg nach. Sie hat im Laufe vieler Jahrhunderte viele Tausende deutscher Patrioten und Flüchtlinge kommen und gehen sehen und hat manch wackeres deutsches Herz bewirthet und beherbergt. Ihr Name ist mit den Kämpfen für Deutschlands innere Befreiung schon seit Luther’s Tagen auf’s Innigste verwachsen. Ich winkte ihr herzlichen Gruß hinüber und meine beste Entschuldigung, daß ich sie diesmal nicht besuchen könne. Sie schien dem alten gesinnungsverwandten Burschenschafter recht glückliche Reise zu wünschen. Hierauf verklärte die Sonne noch einmal auf’s Freundlichste ihr faltenreiches Antlitz und vergoldete weithin das rauschende und brausende Waldmeer, aus dem die alte deutsche Burg wie ein Zaubereiland glühend emporragte.

Bald zeigte mir ein reitender Gensdarm meinen Vetter „Förster“, denselben, den ich in jenem Lehrerkränzchen bei Erfurt vorzustellen die Ehre gehabt hatte. Den guten Reiter hielt ich im ersten Augenblicke für einen Sendling meines Polizeifreundes Flez, doch auch hierin hatte ich mich getäuscht. – Nach einiger Rast kutschirte mich der joviale „Vetter“ mit des Gensdarmen Gaul abermals zu einem lustigen Vetter und dessen Schwester, zur letzten Vetterschaft in deutschen Landen.

Ich verlebte im einsamen Dorfe Dermbach einige fidele Tage. Meine strategische Idee war – und fünfzehn Jahre später haben mir die Preußen das exact nachgemacht –, von hier aus durch Hessen oder Baiern gegen Frankfurt am Main vorzudringen, um sodann den Rhein, von Mainz aufwärts, zur Grundlage meiner nächsten Operationen gegen Frankreich zu benutzen und vor allen Dingen – Straßburg zu gewinnen.

Und dem geschah also. Von meinen nicht uninteressanten Erlebnissen in Frankfurt und auf dem Vater Rhein, der mich einen vollen Tag und eine ganze Nacht lang auf seinem geduldigen Rücken schaukelte, vielleicht ein anderes Mal.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_103.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)