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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

der Lippen ist sein Gesicht vollständig mit langen, weichen, braun-schwärzlichen Haaren bedeckt; auch der übrige Körper ist stellenweise stark, obgleich nicht in demselben Grade, behaart. Der Kopf empfängt dadurch eine wirklich frappirende Aehnlichkeit mit dem eines schlichthaarigen Pudels oder Spitzes, ja, der Anblick würde noch wilder sein, da hier auch die Nase bis zur Spitze mit Haaren bedeckt ist, wenn nicht Augen und Mundbildung einen menschlichen Zug in ihre thierische Umrahmung zurückbrächten. Jedenfalls bleibt der Anblick für Jeden unvergeßlich. Das Merkwürdigste indessen ist, daß diese ungewöhnliche Behaarung mit einer unvollkommenen Gebißbildung vergesellschaftet ist. Andrian soll bis zu seinem siebenzehnten Jahre vollkommen zahnlos gewesen sein; seitdem hat er vier Schneidezähne im Unterkiefer erhalten, während der hartgaumige Oberkiefer bis auf einen linken Eckzahn gänzlich zahnlos geblieben ist.

Sein jetzt ungefähr dreijähriger Sohn Fedor scheint die meisten dieser Eigenthümlichkeiten geerbt zu haben. Sein hübsches kindliches Gesicht wird bereits durch zahlreiche Bäuschchen eines ungemein weichen, seidenglänzenden weißblonden Haares, welches über den Augen wohl Zolllänge erreicht hat, entstellt. Wie dem Vater, hängt auch ihm aus dem innern Ohre und den Nasenlöchern je ein Haarlöckchen hervor; das äußere Ohr ist wie bei einem Seidenhäschen lang behaart. Das Kind hat ebenfalls einen zahnlosen Oberkiefer, aber bereits vier Schneidezähne im Unterkiefer. Es scheint von einem ungemein munteren Temperamente zu sein und wendet sich auf den Armen des Wärters, der es bei den Vorstellungen durch den Zuschauerraum trägt, mit der Lebhaftigkeit eines Aeffchens hin und her, hastig nach den Zuckerdüten und Süßigkeiten greifend, welche ihm meist in reichlicher Menge geboten werden. Es küßt die Spender und stößt zuweilen einen hellen Freudenschrei aus, während der Vater, welcher nur Russisch versteht und spricht, bärbeißig hinterdrein schreitet und, wie man sagt, den Jungen um die Gunst des Publicums beneidet. Einigen Personen, die sich mit ihm in seiner Muttersprache unterhalten konnten, soll er sogar gesagt haben, es sei nicht sein Kind, man habe es ihm nur der Aehnlichkeit wegen beigegeben. Uebrigens wird er als ziemlich sanft und im Essen mäßig geschildert; er läßt seine Behaarung und seine Kiefer ohne eine Miene zu verziehen befühlen, obwohl er dabei von übermüthigen jungen Leuten zuweilen, wie ich selbst gesehen, derb an den Haaren gezogen wird.

Das Vorkommen solcher pudelköpfigen Familien scheint nicht so gar selten zu sein, wenn man die große Menge von Berichten überblickt, die von älteren Naturhistorikern und Reisenden über ähnliche Sehenswürdigkeiten gegeben wurden. Die Schriften der Alten sind voll von Erzählungen über europäische, indische und afrikanische Völkerschaften mit behaartem Gesicht und Körper, die sie Hundsköpfe oder gewöhnlicher Waldmenschen nennen. Es ist heute bei den meisten dieser, wie gesagt, sehr zahlreichen Berichte nicht mehr zu unterscheiden, in welchen Fällen etwa ähnliche Phänomene wie das beschriebene, in welchen Verwechselungen mit thierfellumhüllten Wilden, menschenähnlichen Affen, oder bloße Schiffersagen die Veranlassung zu diesen Sagen gegeben haben. Einige darunter lassen sich indessen ziemlich sicher auf entsprechende Abnormitäten zurückführen. Der gelehrte Dominicanermönch Vincentius von Beauvais erzählt, zu seiner Zeit (etwa 1260) habe sich ein Waldmensch am französischen Hofe aufgehalten, im Uebrigen gestaltet wie ein anderer Mensch, nur daß er einen Hundskopf und einen dicht behaarten Rücken gehabt habe. Aldrovandi, einer der Begründer der wissenschaftlichen Zoologie im sechszehnten Jahrhunderte, hat in seiner „Historia monstrorum“ Portraits und Bericht von einer von den canarischen Inseln stammenden Waldmenschenfamilie gegeben. Das Gesicht dieser Menschen war dicht behaart, ebenso der ganze Körper mit Ausnahme der Kehle, Brust, der Hände und Füße. Am stärksten behaart war auch hier der Rücken. Ueber die Beschaffenheit des Gebisses sagt er, oder wenigstens meine unmittelbare Quelle (Caspar Schott’s „Physica curiosa“) leider nichts. Im Jahre 1663 ließ sich wiederum eine Frau mit völlig behaartem Antlitze, Namens Barbara van Beck, in London öffentlich sehen.

Der für die Deutung dieser Abnormitäten neben den russischen Waldmenschen wichtigste Fall wurde indessen in neuerer Zeit bei einer siamesischen Familie beobachtet. John Crawford in seinem „Journal der englischen Gesandtschaft in Ava“[WS 1] erzählt, im Jahre 1829 am dortigen Hofe einen dreißigjährigen Mann gesehen zu haben, dessen Gesicht mit Ausnahme der Lippen, dafür aber bis in die Nasenlöcher und Ohrmuscheln hinein, dicht mit schlichtem silbergrauem Seidenhaare bedeckt war, welches an Wangen und Ohren acht Zoll, an Kinn und Nase etwa halb so lang war. Auch der übrige Körper war mit Ausnahme von Händen und Füßen mit dichtem Seidenhaare bedeckt, welches auf den Schultern eine Länge von fünf Zoll erreichte. Im Uebrigen war er von mittlerer Größe und zarter Körperconstitution; er besaß einen hellen Teint und braune Augen; das Merkwürdigste aber ist, daß dieser Mann, wie Andrian, keine Backzähne erhalten hatte, sondern nur je vier Schneidezähne im Ober- und Unterkiefer und einen Eckzahn im Unterkiefer. Alle diese Zähne waren überdem klein und erst im zwanzigsten Jahre hervorgetreten.

Der König hatte diesen Mann, welcher Schwe-Maon hieß und aus dem Canton Laos gebürtig war, im Alter von fünf Jahren von dem Cantonschef gesendet erhalten und, da er sich für diese Naturmerkwürdigkeit interessirte, den Werbungen des Waldmenschen um eine Frau Vorschub geleistet, um zu sehen, ob die Abnormität fortarten würde. Aus seiner Ehe entsprang ein Mädchen, Maphoon, welches, wie ehemals ihr Vater, mit innen und außen behaarten Ohren geboren wurde. Das Haar verbreitete sich wiederum über den ganzen Körper. Als Capitain Yule im Jahre 1855 diesen Hof besuchte, fand er das Mädchen erwachsen und ihr Antlitz gänzlich behaart, während auch sie nur vier Schneidezähne oben und unten bekommen hatte. Der regierende König hatte Sorge getragen, ihr einen Mann zu verschaffen, was in Ansehung ihres sehr fremdartigen Aussehens nur unter Aufwand einer bedeutenden Summe Geldes gelungen war. Aus dieser Ehe ward ein Knabe geboren, der, obgleich er bei Yule’s Anwesenheit erst vierzehn Monate alt war, schon einen Kinn- und Schnurrbart besaß. Auch die Ohren waren wiederum behaart. Ob er Zähne bekommen hat, weiß ich nicht. Vater und Tochter hatten außerdem andere normal gebildete Kinder.

Man entnimmt leicht aus dem Mitgetheilten, daß dieses Zusammentreffen eines übermäßigen Haarwuchses mit abnormer Zahnbildung in zwei wohlconstatirten Fällen und jedesmal durch mehrere Generationen hindurch doch schwerlich ein bloßer Zufall sein kann, und die Vermuthung des nähern Zusammenhanges der beiden Abnormitäten wird ferner auch durch das Beispiel der wegen ihres behaarten Gesichtes und ihrer abschreckenden Häßlichkeit auf ihren Kunstreisen viel bewunderten spanischen Tänzerin Julia Pastrana bestätigt, welche nach dem Berichte des Zahnarztes Dr. Purland mit einer unregelmäßigen doppelten Zahnreihe im Ober- und Unterkiefer versehen war, wodurch das affenartige Hervorspringen der Kieferpartie ihres Gesichtes bedingt war. Aus allen diesen einen tiefern Zusammenhang mit der Entwickelungsgeschichte bekundenden Abweichungen haben mehrere Naturforscher den Schluß gezogen, daß man es in diesen Fällen mit einer Art von Rückschlagbildung zu thun haben möchte, die uns in mancher Beziehung in der jetzt so vielfach verhandelten Frage nach der Abstammung des Menschen als Wegweiser dienen könne. Selbst der in diesen Fragen so höchst vorsichtige Forscher Professor Virchow in Berlin, welcher der sogenannten Vogt’schen Affen- und Mikrocephalentheorie immer einen entschiedenen Widerstand geleistet hat, empfing bei seiner Untersuchung der russischen Waldmenschen „den Eindruck eines bis zu den Löwenaffen und Affenpintschern zurückgehenden Atavismus“ und gesteht, daß man sich durch den Zahnmangel noch weiter rückwärts bis zu den sogenannten Edentaten (Zahnarmen) leiten lassen könne.

Was es mit jenem Rückschlagen, welches man nach der oft beobachteten Thatsache, daß Kinder zuweilen weniger Aehnlichkeit mit ihrem Vater als mit ihrem Großvater oder einem ihrer Urgroßväter (atavus) zeigen, Atavismus genannt, für Bewandtniß hat, und welche Schlüsse man aus ihm für die Abstammungslehre ziehen kann, wollen wir sogleich sehen. Wenn der geneigte Leser den vortrefflichen Aufsatz über die Abstammungslehre von Professor Bock (Nr. 43 und 44 des vorigen Jahrganges) nachschlagen will, so findet er dort auf Seite 713 eine Erläuterung der Lehre von der Ontogenie, die, namentlich in neuerer Zeit von Häckel entwickelt, ganz abgesehen von allen erdgeschichtlichen Theorien uns von der[WS 2] Entwickelungsgeschichte jedes organischen Wesens, den sichtbaren Beweis liefert, daß dasselbe aus niederen Vorstufen herausgebildet sein muß. Erinnern wir hier kurz an

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Arta, siehe Berichtigung
  2. Vorlage: und von der, siehe Berichtigung
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_060.jpg&oldid=- (Version vom 2.8.2018)