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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Gerichtes, nicht anders ausfallen, ohne Verletzung des von den Geschworenen geleisteten Eides. Der den Geschworenen vorgelegte Beweis war einfach eine mathematische Demonstration Ihrer Schuld. Im Besitze eines hohen Amtes, geehrt und geachtet von einer zahlreichen Classe der Gemeinde, in der Sie lebten, und geliebt, wie ich nicht zweifle, von Ihren Gefährten, haben Sie, bei all diesem in Sie gesetzten Vertrauen, bei all den vielen Gelegenheiten zu treuer Pflichterfüllung, wodurch Sie Ehre und die Achtung des ganzen Gemeinwesens gewinnen konnten, es vorgezogen, die Macht, mit der Sie bekleidet waren, auf eine nichtswürdigere und schändlichere Weise zu mißbrauchen, als dies je in der Geschichte irgend einer civilisirten Nation geschehen. Statt das Gemeinwesen zu schützen, haben Sie es geplündert. Anstatt bei dem Schatze, der Ihnen anvertraut, Wache zu stehen, haben Sie ihn weit geöffnet gehalten, nicht nur Ihrer eigenen Gier, sondern auch der Ihrer Gefährten, und zwar unter Umständen, die keinen Zweifel lassen, daß zwischen Ihnen und Jenen eine Verschwörung zur Beraubung desselben und zu Ihrer und Jener Bereicherung bestand. Der Beweis über diesen Punkt läßt keinen Zweifel über Ihre moralische Verschuldung zu.

Am 5. Mai begannen Sie Ihr Amt mit der Organisation des Rechnungshofes und Annahme der Bestimmungen, wie Rechnungen vorgelegt und belegt werden sollen. Am 6. Mai und von da ab hintereinander, bis die hundertneunzig Rechnungen angenommen und angewiesen und die Beträge bezahlt waren, ist der Beweis unumstößlich, daß Ihr ganzes Verfahren blos ein wohlüberlegter Plan war, sich selbst und Ihre Gehülfen zu bereichern. Gäbe es keine weiteren Umstände, um es darzuthun, so würde, meines Bedünkens, die Thatsache genügen, daß Ihr Raubantheil an jeder einzelnen Rechnung, wie sie zugelassen und bezahlt wurden, ein für allemal auf vierundzwanzig Procent bestimmt war, und der Antheil Ihrer Genossen scheint ähnlich fixirt gewesen zu sein. Es ist unmöglich, anzunehmen, daß Ihr Antheil in hundertneunzig Vertheilungsfällen des geraubten städtischen Geldes stets vierundzwanzig Procent sein sollte, wenn das nicht Ihr voraus vereinbarter Antheil gewesen wäre.

Wenn wir eine Maschine bei jeder Umwälzung ein bestimmtes gleichmäßiges Product liefern sehen, so schließen wir aus diesem Erfolge, daß er das Werk des Nachdenkens und Beschlusses Eines Gedankens ist. Und wenn wir erfahren, daß die Maschinerie, deren Sie und Ihre Genossen sich bedienten, ein ebensolch gleichmäßiges Resultat ergab, dann bleibt kein anderer Schluß möglich als der, daß kraft einer wohlorganisirten Verschwörung Sie mit Andern die Beute theilten. Es ist also vergeblich zu behaupten, daß politischer Haß oder Aemtergier in der Untersuchung mitgewirkt habe. Nein, der ganze Kampf war zwischen Ehrlichkeit und Tugend auf der einen, und Betrug und Verbrechen auf der andern Seite. Wohl hat eine große Zeitung der republicanischen Partei zuerst den Augen der Bürger die infamen Betrügereien vorgelegt, allein redliche Männer aller Parteien haben sich vereinigt, um Licht in die Sache zu bringen, so die demokratischen Leiter Karl O’Connor und Jilden. Ihre Schuldigerklärung ist nicht das Ergebniß von Verfolgungssucht Einzelner oder von Parteien, nein! sondern von einer Beweisaufnahme so einfach und klar, daß ich mich nicht erinnere, weder in meiner Praxis noch in meiner Lectüre einen Fall getroffen zu haben, wo der Beweis so überwältigend und es so unmöglich für die Geschworenen war, sich zu irren. Durch die ganze Untersuchung hindurch bis zu Ihrer Schuldigerklärung blieben Sie so ruhig und heiter, als ob Sie sich für Ihre Freisprechung ganz auf Ihre Unschuld verließen, während es so klar wie die Sonne, daß Ihre Heiterkeit nichts war als Dreistigkeit, Vertrauen auf die Allmacht der Corruption eher als Verlaß auf Unschuld und reines Gewissen. Es ist meine Pflicht, über Sie eine Ihrem Verbrechen einigermaßen angemessene Strafe auszusprechen.“

Tweed’s Benehmen während der Verhandlungen war so, wie es Richter Davis geschildert, ja es war geradezu impertinent. Es drückte sich darin die Bulldogköpfigkeit seiner Race mit der Ueberhebung des verhätschelten Parvenu aus. Das für unmöglich, ja für geradezu lächerlich gehaltene „Schuldig“ schmetterte ihn zusammen wie ein Blitzstrahl. Vorher ein schöner kräftiger, fein aussehender Mann der besseren Jahre, voll geistiger und animalischer Federkraft, erschien er wie durch Wunder in einen hinfälligen, theilnahmlosen, gebrochenen alten Mann verwandelt. Und in der That sind die zwölf Jahre bei seinem Alter gleichbedeutend mit „lebenslänglich“. „Lebenslängliches Zuchthaus in Sträflingstonsur und Jacke für einen Mann, der Millionen auf Millionen besitzt, der in der Stadt und um sie herum Paläste und prachtvolle Landhäuser sein nennt, der seit zehn Jahren Stadt und Staat New-York despotisch regierte, vor dem Hunderttausende schmutzwinselten und den die Besten fürchteten!

Bereits sind gegen zwei seiner Spießgesellen weitere Verurtheilungen ergangen, und es unterliegt keinem Zweifel, daß die ganze Bande, soweit sie nicht den atlantischen Ocean zwischen sich und die Nemesis geschoben, bald im Staatszuchthaus, das den melodischen Namen Sing-Sing führt, sich zusammenfinden wird.

So hat sich denn des Erdballes Lasterhöhle gereinigt; Redlichkeit ist nicht mehr lächerlich, und die Stadt, der Staat und das ganze Land athmen nach einem schwerem langedauernden Alpparoxysmus wieder auf.

Darf man es nun übel nehmen, wenn wir stolz auf dieses Resultat sind und neugierig, was nun im alten Vaterlande mit ähnlichen Millionären und Candidaten der Criminalzelle geschehen wird? Vivat Sequens!




Aus dem Lebens- und Leidensbuche eines Dichters.
Nach handschriftlichen Quellen. Von Adolf Strodtmann.
2. Molly.


Wie kam es, daß der Friede einer Ehe, die offenbar nicht aus äußeren Rücksichten, sondern aus inniger Herzensneigung geschlossen ward, so kurzen Bestand hatte? Denn so viel ist sicher, daß Bürger jedenfalls unter dem Einflusse einer trügerischen Erinnerung stand, wenn er später in der sogenannten „Beichte“ an das Schwabenmädchen Elise Hahn behauptete, daß er seine erste Frau geheirathet habe, ohne sie zu lieben. Auch war Molly-Auguste zu der Zeit, als er mit ihrer Schwester vor den Altar trat, keineswegs ein „Kind von vierzehn bis fünfzehn Jahren“; sie hatte das erste Viertel ihres siebenzehnten Jahres vollendet und war kaum zwei Jahre jünger als Dorette. Wenn Bürger damals wirklich „schon den Zunder der glühendsten Leidenschaft für sie im Herzen trug“, so ist gewiß seiner weiteren Versicherung zu glauben, daß er dies aufkeimende Liebesgefühl aus mangelnder Selbstkenntniß „höchstens für einen kleinen Fieberanfall hielt, der sich bald geben würde“. Es lag ja durchaus im Charakter jener empfindsamen Zeit, die Begriffe „Liebe“ und „Freundschaft“ im Verkehr der Geschlechter auf eine uns heute fast unverständliche Art zu verwechseln. Theilte doch zum Beispiel auch Schiller lange nach der Verlobung mit Lotte von Lengefeld seine Neigung zwischen seiner Braut und ihrer lebhafteren Schwester, ohne diese Doppelliebe in seinem Gewissen für Sünde zu erachten! Bei der Befriedigung, welche Bürger in der ersten Zeit seiner Ehe empfand, hätte er vielleicht die aufflackernde Leidenschaft für Augusten ebenso wohl zur ruhigen Flamme einer unschuldigen Freundschaft herabgedämpft, wenn nicht besondere Verhältnisse den glimmenden Funken unablässig geschürt hätten.

Verhängnißvoll war zunächst der Umstand, daß das junge Ehepaar ein volles Jahr nach der Hochzeit auf Niedeck wohnen blieb. Schwankte Bürger, nachdem er Doretten zur Gattin gewählt, in allem Ernste über die Natur des Gefühles, das ihn zu der jüngeren Schwester hinzog, so konnte der Ruhe seines Herzens nichts gefährlicher sein, als der tägliche Anblick Augustens, die im Hause ihrer Eltern, gleichsam unter einem Dach mit ihm, wohnte und, bei dem zärtlichen Verhältnisse zwischen den Geschwistern, auch als er nach dem nahegelegenen Wöllmershausen übersiedelte, den regsten Verkehr mit ihm und Doretten unterhielt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_011.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)