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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


den Angriffen und Ueberfällen der im Rücken und den Flanken vorrückender Colonnen streifenden Tscherkessen am allermeisten ausgesetzt waren.

Diese Truppe war mit gezogenen kleincalibrigen englischen Doppelstutzen versehen und bestand aus meist ausgezeichneten Schützen und stets tüchtigen und kundigen Jägern, welche auf’s Genaueste gleichgekleidet waren, wie die Tscherkessen. Von geschickten, auf’s Aeußerste verwegenen Officieren befehligt, leistete dieses Corps, sowohl als Kundschafter operirender Abtheilungen, wie auch als meist unsichtbarer Beschützer einzelner, nicht in unmittelbarer Nähe der Truppen sich befindender Soldaten, Transportzüge und alleinstehender Gehöfte wirklich ausgezeichnete Dienste. Gewöhnlich zu Zweien oder Dreien, höchst selten zu mehr als sechs Mann, durchstreiften diese Parteigänger in allen Richtungen das von Truppen durchzogene Terrain, gleich ihren Feinden, sich hinter jedem Felsen, hinter jedem Busche versteckend, wie die Schlangen durch Dick und Dünn kriechend, unermüdlich der Spur der Tscherkessen folgend und Gleiches mit Gleichem vergeltend, wo einer in Schußweite kam, denselben unerbittlich niederknallend. Meist an Körperkraft und Gewandtheit ihren Gegnern überlegen, nahmen sie oft den Kampf mit den ihnen an Zahl dreifach gegenüberstehenden Feinden auf, hatten dann aber auch im Falle des Unterliegens keine Gnade und Barmherzigkeit zu erwarten.

Plastuni (die Kriegenden, auf der Erde Liegenden) wurden sie genannt wegen ihrer Gewohnheit, gleich den Katzen auf dem Bauche bis an ihre Beute hinanzukriechen. Von ihren wilden Gegnern nahmen sie nur zu oft rohe und unmenschliche Gebräuche an; so war es bei ihnen lange Zeit Sitte, die Köpfe oder die rechte Hand ihrer getödteten Feinde, sowie die Ohren der gefangenen als Siegestrophäen abzuhauen.“


Fluthwellen und Sturmfluthen. Selten ist Blick und Theilnahme unseres Volks so anhaltend und lebhaft nach unseren Nordmeeren gerichtet gewesen, als seit der November-Sturmfluth, die unsere deutschen Landsleute am ganzen Saum der Ostsee so furchtbar heimgesucht hat. Daß mit der Theilnahme für die See-Anwohner auch die Wißbegierde sich regt und den Wunsch erzeugt, vom Leben und Weben der Fluth in Ruhe und Sturm einige Kenntniß zu erlangen, ist natürlich, und so glauben wir einem ziemlich allgemeinen Verlangen der Binnenländler nachzukommen, wenn wir die nachfolgende kurze Skizze mittheilen.

Die Gewässer des Meeres werden durch vier Ursachen in Bewegung gesetzt: durch die Strömungen, durch die Gezeiten (Ebbe und Fluth), durch die Erdbeben und durch die Winde. Die Strömungen erhalten das Wasser in beständigem Umtriebe vom Aequator nach den Polen und zurück; sie werden bedingt durch Verschiedenheiten an Salzgehalt und Temperatur der einzelnen Meerestheile und bewirken einen steten Ausgleich derselben. – Die Gezeiten sind weitreichende, durch die Anziehungskraft von Sonne und Mond bewirkte, langsame Schwingungen des flüssigen Elementes, welche im periodischen Wechsel von fast zwölf und einer halben Stunde wiederkehren. In Binnenmeeren sind sie kaum fühlbar; an den langgestreckten Küstenlinien der Continente beträgt der Unterschied zwischen Ebbe- und Fluthmarke nur einige Fuß, vergrößert sich aber bedeutend in den einspringenden Winkeln der Küsten und wächst in tief einschneidenden, sich verengenden Buchten bis zu vierzig, sechszig und siebenzig Fuß. In einzelnen Strömen wälzt sich oft die rückkehrende Fluth in Form einer flüssigen Mauer viele Meilen weit mit großer Schnelligkeit landeinwärts.

Diese Erscheinungen finden jedoch regelmäßig statt; mit ihnen ist der Mensch vertraut; er kennt ihre Zeit und ihre Macht und weiß sich zu schützen. Anders steht er den ungeheuren Fluthwellen gegenüber, welche durch Erdbeben oder Stürme erzeugt werden und welche plötzlich hereinbrechen. – Wenn Erdbeben den Boden der Oceane erschüttern und plötzliche Hebungen oder Senkungen ausgedehnter Strecken verursachen, sucht das Meer sein dadurch gestörtes Gleichgewicht wieder herzustellen und fluthet in ungeheurer Bewegung hin und zurück. Auf offener See werden die entstehenden, weniger hohen als außerordentlich breiten Fluthwellen kaum verspürt; erreichen sie aber Untiefen, treffen sie auf Widerstand, wie die Küsten ihn bieten, so thürmen sich die pfeilschnell und mit furchtbarer Wucht heranrollenden Wassermassen zu unglaublicher Höhe, oft bis weit über hundert Fuß hoch, auf. Schiffe werden von ihren Ankern gerissen und hoch auf’s Land geschleudert, die mächtigen Steindämme der Hafenbauten, Häuser, ganze Ortschaften im Nu hinweggewaschen, Inseln gänzlich überfluthet. Selten erhalten die Bewohner der Küsten rechtzeitige Warnung; Flucht ist kaum möglich. Zuweilen strömt das Meer erst von der Küste hinweg, oft für Stunden meilenweit den Grund bloßlegend; dann kehrt es mit ungeheurer Gewalt zurück; drei, vier mächtige Wogen stürzen sich in rascher Folge hoch über das Land – und das Schreckliche ist geschehen.

Die Cyclone (siehe meinen Aufsatz im Jahrgang 1870, Seite 153) verursachen ähnliche Fluthwellen. Im Centrum des Sturmes werden große Wassermassen aufgehäuft und üben, sobald sie vom Druck befreit sind, eine entsprechende Gegenwirkung aus. Von solchen Fluthwellen wurde in Ostindien, im December 1789, die Stadt Coringa mit zwanzigtausend Einwohnern verschlungen; im Juni 1822 am Ganges die Stadt Burisal mit fünfzigtausend Einwohnern; im Mai 1833 an der Bai von Bengalen dreihundert Dörfer und zehntausend Menschen; im October desselben Jahres an der nämlichen Bai (Hugly-Mündung) sechshundert Ortschaften mit fünfzigtausend Menschen. Der berüchtigte Orkan von 1780, welcher die Westindischen Inseln in entsetzlicher Weise verheerte, vernichtete Hunderte von Schiffen und trieb die Gewässer des Golfstromes in den Busen von Mexico zurück, so daß das Meer dreißig Fuß über die Fluthmarke stieg. Wohl über hunderttausend Menschen verloren dabei ihr Leben.

Doch nicht nur die Tropengegenden leiden durch solche Unglücksfälle, aus deren langer Reihe hier nur einige herausgegriffen sind, auch die gemäßigten Zonen werden, wenn auch seltener, von ihnen heimgesucht. Im Jahre 1282 durchbrachen Fluthwellen die mächtigen Deiche, durch die sich Holland gegen die Uebergriffe des Meeres schützt, und bildeten die Zuider-See; 1421 fielen dort einer andern Fluth zweiundsiebzig Dörfer und hunderttausend Menschen zum Opfer; 1686 vernichtete eine dritte Fluth fünfundzwanzig Dörfer und zehntausend Menschen.

Das letzte schreckliche Ereigniß dieser Art ist die Stumfluth vom 13. November vorigen Jahres, welche einen Theil der Ostseeküste Deutschlands und die dänischen Inseln heimsuchte. Dort waren es nicht durch Erdbeben oder Cyclone erzeugte Fluthwellen, welche plötzlich über jene Küsten hereinbrachen, es war eine wirkliche, allmählich steigende Sturmfluth, welche durch einen lange aus derselben Richtung blasenden Sturm verursacht wurde. Ein Blick auf die Karte lehrt, daß dieser Sturm aus Nordost das Becken der Ostsee in seiner ganzen Länge bestrich; bei seiner Stärke und langen Dauer mußte er große Wassermassen vor sich hertreiben und im westlichen Theile des Beckens um so mehr anhäufen, als die dort plötzlich nach Norden ausspringende Küste und die nach Norden vorgelagerten dänischen Inseln ein rasches Abfließen unmöglich machten. Die sich immer höher stauenden Gewässer mußten endlich die meist flachen Ufer überschreiten. Durch den furchtbaren Anprall der Wogen wurden die vorhandenen Dämme zerstört, die langgestreckten Dünenreihen durchbrochen, und die tosenden Wasser ergossen sich über die schutzlosen Ländereien, in Verbindung mit dem rasenden Sturm alle Gräuel der Verwüstung über den Menschen und seine Werke bringend. Von welcher furchtbaren Art die Verheerung – das haben alle Zeitungen geschildert.

M. E. Plankenau.



Die Noth an der Ostsee und die Hülfe.

Wir sind abermals in den Stand gesetzt, für reichliche Gaben quittiren zu können, die aus den verschiedensten Gegenden und Lebenskreisen uns zugekommen sind. Für all diese Opferfreudigkeit sprechen wir recht von Herzen unsere Freude und unsern Dank aus. Es ist die Hülfe aus dem Volk; sie kommt größtentheils aus den Geldbeuteln, die nur durch Arbeit gefüllt werden.

Um so lauter ist es zu beklagen, daß trotz alledem die Hülfe Deutschlands, des großen, mächtigen Reichs, in welchem gegenwärtig fast alle Industrien glänzende Früchte tragen, eine so geringe ist, daß wir beschämt vor dem kleinen, von gleichem Unglück betroffenen Dänemark dastehen müssen. Das ganze Deutschland mit allen seinen Kronen- und Geldfürsten hat die Unterstützungssumme noch kaum erreicht, welche das Dänenvolk allein aufzubringen vermochte.

Wo liegt die Ursache? Sie ist die Schuld derjenigen, welche in Deutschland über die großen Summen verfügen und deren Gebahren längst den Verdacht erregt, daß der Mammon kein Vaterland kenne. So unerhört das Unglück, so unerhört müßte die Hülfe sein, – und sie ist’s auch: sie ist noch heute, wo wir dieses schreiben, noch am 12. Januar, unerhört gering!

Uns liegt ein hoher Stoß Briefe und Berichte über die Noth und die Hülfe namentlich aus Schleswig-Holstein vor, das allein drei Viertel des ganzen Ostseeunglücks zu tragen hat. Dort besteht seit dem 17. November ein in Neumünster begründetes „Schleswig-Holsteinisches Centralcomité für die Nothleidenden an der Ostsee“, dessen unermüdlicher Cassirer Kaufmann Richard Behne in Altona ist. Von diesem Comité gingen die ersten Aufrufe in die Welt hinaus; es unternahm mit Blick und Hand praktischer Geschäftsmänner die erste dringendste Hülfe in der Noth und faßte zugleich mit tüchtigem Organisationsgeschick die Rettungsmaßregeln für die Zukunft in’s Auge. Durch das freundliche Engegenkommen der Militärbehörden im Bezirke des neunten Armeecorps erwarb das Comité eine Anzahl überzähliger, aber gut erhaltener Militärmäntel und Wollhemden, theilweise zu sehr billigen Preisen, theilweise auch unentgeltlich; diese mußten vielen Armen den nächtlichen Schutz ersetzen, den ihnen früher ihre Betten gewährten, denn an diesen ist der größte und empfindlichste Mangel – namentlich für Alte, Kranke, Frauen und Kinder an der rauhen Küste und gegenüber dem nahenden Winter. Dringend bittet das Comité besonders um Strümpfe, derbes Fußzeug, Betten, Mobilien, Naturalien (besonders fehlt es an Kartoffeln, Korn und Brennmaterial!), hauptsächlich Kaffee, um verheerenden Krankheiten unter der Masse der Armen vorzubeugen.

Eine Veröffentlichung vom 18. December setzt als Norm bei Schadenanmeldung und Vertheilung fest, daß kein Unterschied der Politik und Religion gelte, daß es für das Comité nur nothleidende Menschen gebe. Als eine Hauptsorge wird aufgestellt, Denen, bei welchen es möglich, wieder zum Selbsterwerb ihres Brodes zu verhelfen. So wurde einem jungen Mädchen, das ihre alte Mutter durch Clavierunterrichtgeben ernährt hatte, ihr zertrümmertes Instrument wieder ersetzt, – natürlich ohne daß deshalb die zahlreichere arme Einwohnerschaft, welche zwar viele, aber nicht große Posten erfordert, verkürzt worden wäre.

Ein Brief aus Burg auf Fehmarn klagt bitterlich über die großen Transportkosten über Land für die Naturaliensendungen. Sollte für solche Frachtstücke noch keine Erleichterung namentlich auf Eisenbahnen gegeben sein? – Wo die Mildthätigkeit selbst die Kinderherzen ergreift, müßten die Alten doch in jeder Beziehung mit gutem Beispiele vorangehen. In Osterburg haben die Kinder eine Pfennigsammlung in den Schulen veranstaltet, um den durch die Sturmfluth ihrer Eltern beraubten Waisen eine Weihnachtsfreude zu bereiten, und es gelang ihnen. Diese Bescheerung kam auch dem armen Knaben Fritz Kruse zu Gute, dessen wunderbare Rettung wir in Nr. 49 der Gartenlaube erwähnt haben. Der Pastor K. Trede in dem arg verwüsteten Großenbrode am Fehmarnsunde, wo vierzig arme Taglöhner- und Fischerfamilien obdach- und brodlos geworden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_071.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)