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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Ich Immanuel Christian Wilhelmi, geboren am 3. September 1745, war Hofapotheker, Commerzienrath, auch einmal Posthalter, lebte beunruhigt von manchen Zweifeln, starb aber nicht unvorbereitet. Unwissenheit und Irrthum über das Jenseit ist das Loos der Menschen. Auf einen allmächtigen und allgütigen Gott vertrauend, habe ich aber einundachtzig Jahre gelebt und werde nun zu Staub und Asche.“

Die andere Seite aber meldet uns:

„Redlichkeit, Freundschaft, Liebe und Wein war sein Element und Wohlthun seine Uebung.“

Für noch Viele der Vorübergehenden steigt beim Anblick des Grabsteins aus der Erinnerung wieder das äußere Bild des drolligen Selbstbekenners auf. Sie sehen dann ihn deutlich in der Hofapotheke, auf der nordwestlichen Ecke des Marktes, im Fenster liegen, die hohe weiße Zipfelmütze über das Haupt tief herabgezogen, so daß von dem Gesicht fast nichts übrig bleibt, als die lange, mächtig große Nase, deren rosiger Anhauch durch den Contrast der weißen Mütze wesentlich gehoben wird, während unterhalb derselben der lange Stiel einer Thonpfeife hervorragt und auf der stark entwickelten Unterlippe bequem sich schaukelt. Durch die aufgeblasenen Dampfwolken aber dringt noch der stechende Blick von zwei lebhaften, großen Augen.

Dann taucht auch eine Erinnerung aus der eigenen Kindheit auf. Dann schreitet derselbe Mann, diesmal im Dreimaster oder niedrigen Hute, mit einer mächtigen Brustkrause, die aus der langen sogenannten Bratenweste hervorquillt, mit Kniehosen und kurzen Wadenstiefeln, an seinem Rohrstocke durch das alte Johannisthor, hinter ihm drein eine lärmende Schaar Kinder, welche ihn mit lautem Rufen „Wilhelmi! Commerzienrath!“ verfolgen, bis derselbe sich endlich derb fluchend umwendet, um – einen Regen von Zuckerplätzchen unter die Schaar seiner jugendlichen Verfolger zu werfen.

Dann sehen die noch lebenden Zeitgenossen auch wieder im Geiste die bekannte niedrige, breitspurige Jagdkalesche mit den Allstedter Rapphengsten auf dem Markte vor der Hofapotheke halten, in welcher der „alte Herr“, der allverehrte Fürst, in seinem Lande herumzufahren pflegte. Dann steigt dieser selbst in seiner wohlbekannten Pekesche mit der breitgestreiften Schirmmütze von dem Wagensitze. Und nun treten wir schon ein in den Sagenkreis, der sich um beide Personen gezogen hat. „Herzog Karl August geht zu Tische bei seinem Hofapotheker.“ Dies wäre etwa die Ueberschrift des ersten Capitels dieser Sagenreihe. Es war nicht das erste Mal, daß der Herzog bei einem seiner Unterthanen zu Gaste ging, geladen oder ungeladen, wie es Laune, Zufall oder Absicht eingaben. So trat er denn auch diesmal mit einer Selbsteinladung bei Wilhelmi ab.

„Hm! Hoheit müssen fürlieb nehmen mit einer schlichten Bürgermahlzeit!“ meinte Wilhelmi, dabei schlich aber ein pfiffiges Lächeln über sein Gesicht.

„Ich lasse mir nicht bange werden, Du wirst schon nichts Schlechtes essen,“ erwiderte der Herzog.

Als nun Mittagszeit gekommen war, trat Jungfer Rose, die Köchin und zugleich das Factotum des einer Hausfrau entbehrenden Hauses, mit einer mächtigen, dampfenden Schüssel herein, welche sie auf den Tisch setzte. Es waren Klöße von der bekannten großen, runden Thüringer Sorte. Aber welch verdächtige Farbe! Da war nichts zu spüren von der sonstigen blendenden Weiße. Tiefschwarz wie das Erdreich glotzten sie aus der Schüssel. Als sie dann auf dem Teller lagen, widerstanden sie hartnäckig nach allen Richtungen der Bearbeitung durch die Gabel. Weit hartnäckiger noch war der Widerstand, welchen sie der Arbeit der Zähne entgegensetzten. Der begleitende General von Seebach gab zuerst die Arbeit auf und schaute verlegen nach dem Herzog.

„Gelt,“ herrschte der Gastgeber ihn an, „an so ein Essen seid Ihr in Weimar drüben nicht gewöhnt. Die armen Bürger in Jena müssen froh sein, wenn sie’s noch alle Tage haben. Die Steuern und Abgaben, die wir zahlen müssen, damit Ihr drüben in Herrlichkeit und Freude leben könnt, werden alle Tage größer; da können wir kein Weizenmehl zu den Klößen nehmen.“

Karl August fand hierauf das Essen gar nicht so unschmackhaft und wußte sein Kloßexemplar glücklich hinunterzubringen. Seebach nahm dann auch seinerseits die Arbeit mit Todesverachtung wieder auf. Zuletzt löste aber doch beim Dessert der Commerzienrath Wilhelmi den Bürger Wilhelmi ab.

Der Herzog aber sann darauf, den ihm gespielten Streich seinem Gastgeber zu entgelten. Er war in solchen Dingen nicht lange verlegen. Als er andern Morgens vor der Hofapotheke wieder vorfuhr, um sich für die genossene bürgerliche Mahlzeit zu bedanken, sah Wilhelmi wieder in seinem stereotyp gewordenen Negligé zum Fenster heraus. Er lüftete ehrerbietigst die weiße Zipfelmütze.

„Komm herunter, Du kannst mit nach Deinem Garten fahren. Aber mach’ schnell!“

Wilhelmi erschien alsbald in der Thür, um sich wegen seiner Morgentoilette zu entschuldigen. „Steig nur auf! In Jena kennen sie Dich schon. Am Garten setze ich Dich ab!“

Ehe sich’s Wilhelmi recht versah, saß er schon auf dem niedrigen Wagensitze neben dem Herzoge. So komisch das Bild sich ausnahm: Wilhelmi in Zipfelmütze, Schlafrock, Unterhosen und Pantoffeln neben Seiner Hoheit dem Herzoge von Weimar, den Jenensern fiel es weiter nicht auf, sie hatten Wilhelmi nicht zum ersten Male so gesehen. Fort ging es also in gestrecktem Trabe durch die Johannis- und Wagnergasse zum Erfurter Thore hinaus. Als man an die Oelmühle kam, der gegenüber der Garten Wilhelmi’s lag, schickte der Letztere sich an, abzusteigen, aber die Pferde sausten in noch rascherem Tempo dort vorüber immer weiter das Mühlthal hinaus. Wilhelmi wetterte und fluchte, der Herzog schüttelte sich vor Lachen, daß der letzte Rest der bürgerlichen Klöße seiner Verdauung entgegenging.

Also zog nach zwei Stunden Wilhelmi in Schlafrock und Pantoffeln durch’s Kegelthor ein in die Residenz des Landes. Am Schloßhofthor wurde er vom Herzog gnädigst entlassen. Spornstreichs rennt er unter möglichster Vermeidung der inneren Stadt nach dem nächst gelegenen „Gasthof zum Erbprinzen“. Der Herzog hat ihn noch mit dem Blick verfolgt und schickt sodann an alle weimarischen Bekannten die Meldung, daß ihr Freund, der Commerzienrath Wilhelmi von Jena, im „Erbprinzen“ sie zum Frühstück erwarte, gleichzeitig läßt er an alle Fuhrwerksbesitzer die Weisung ergehen, Wilhelms kein Geschirr zu verabfolgen. Man kannte auch in Weimar die Gastfreundschaft und Noblesse des alten Wilhelmi und es beeilten sich deshalb seine Freunde, dem an sie ergangenen Rufe Folge zu leisten. Wilhelmi hatte sich indessen in einen Winkel des Gastzimmers zurückgezogen und harrte vergebens auf den Wagen, der ihn wieder heimwärts bringen sollte. Statt dessen kam nur die lange Reihe der guten Freunde mit dem Anspruche auf das Frühstück. Wilhelmi mußte nun wohl oder übel die Galacour in Schlafrock und Pantoffeln abhalten und, dem freigebigen Zuge seines Herzens folgend, ein auserwähltes Frühstück geben, dem er in der weißen Zipfelmütze präsidirte. Dann fuhr ein geschlossener Hofwagen vor, der den gefoppten Commerzienrath, der gaffenden Menge diesmal entzogen, wieder nach Jena in seine Hofapotheke beförderte.

Das war die Revanche Karl August’s für die schwarzen Klöße Wilhelmi’s. Die mündliche Chronik erzählt noch weiter von dergleichen dem Charakter jener „guten alten Zeit“ angemessenen Späßen.

So war – um wenigstens noch eines Erwähnung zu thun – Wilhelmi einmal zu einem Hofmaskenball eingeladen und hatte dabei mit Karl August gewettet, daß er in seiner Maske nicht werde erkannt werden. Er hatte sich’s Geld kosten lassen und einen der schönsten Maskenanzüge, einen Türken mit weitem seidenem Kaftan, der die Eigenart seiner Figur am besten verbarg, requirirt. Der Herzog hatte indeß leicht ausgekundschaftet, in welchem Gasthofe Wilhelmi abgestiegen war, und hatte die Kellner instruiren lassen, daß sie gelegentlich der Beihülfe beim Anziehen ihm einen Zettel auf den Rücken anhefteten, auf welchem mit Fracturschrift stand: „Commerzienrath Wilhelmi aus Jena.“ Der breite Kaftan bot hierzu eine geeignete Fläche und Wilhelmi gab dem Kellner, welcher behauptete, eine im Rücken aufgegangene Naht noch zustecken zu müssen, ein anständiges Trinkgeld.

In der sicheren Hoffnung, daß unter dem Turban und Seidentalar so leicht Niemand den Commerzienrath von Jena erkennen würde, trat er mit der Majestät eines Großsultans in den Maskensaal. Noch hatte er aber kaum einige Schritte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 839. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_839.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)