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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Gesicht dulde ich in meiner Nähe, wenn ich schreibe. Meine Muse ist scheu, wie ich es wohl im Grunde meiner Seele sein mag; daher die unwiderstehliche Neigung, in Einsamkeit und Zurückgezogenheit zu leben, die sich stets geltend macht, sobald ich mir allein überlassen bin. Einmal auf das unbescheidene Terrain der Selbstbiographie gerathen, will ich auch noch bestätigen, daß ich allerdings plötzlich schwerhörig geworden und in Folge dessen gezwungen gewesen bin, meinen Beruf als Sängerin aufzugeben. Im Lauf der Jahre und bei größerer Mäßigung im Singen hat sich das Uebel wieder gebessert. – wer langsam mit mir spricht, braucht die Stimme nicht besonders zu verstärken. Neuerdings machst ein sehr tüchtiger Arzt abermals Versuche und spricht von völliger Wiederherstellung, ein schöner Gedanke, den ich indeß noch zurückweise. Ich habe mich klaglos in mein Geschick ergeben, denn so unweise bin ich nicht, mich stürmisch gegen das aufzulehnen, was sich einmal nicht ändern läßt.“


(Fortsetzung folgt.)




 Album der Poesien.

 Hermann und Dorothea.

 Von Goethe.

„Hab’ ich den Markt und die Straßen doch nie so einsam gesehen!
Ist doch die Stadt wie gekehrt! wie ausgestorben! Nicht fünfzig,
Däucht mir, blieben zurück von allen unsern Bewohnern.
Was die Neugier nicht thut! So rennt und läuft nun ein Jeder,
Um den traurigen Zug der armen Vertrieb’nen zu sehen.
Bis zum Dammweg, welchen sie zieh’n, ist immer ein Stündchen,
Und da läuft man hinab, im heißen Staube des Mittags.
Möcht’ ich mich doch nicht rühren vom Platz, um zu sehen das Elend
Guter, fliehender Menschen, die nun mit geretteter Habe
Leider das überrheinische Land, das schöne, verlassend,
Zu uns herüberkommen und durch den glücklichen Winkel
Dieses fruchtbaren Thals und seiner Krümmungen wandern.
Trefflich hast Du gehandelt, o Frau, daß Du milde den Sohn fort
Schicktest, mit altem Linnen und etwas Essen und Trinken,
Um es den Armen zu spenden; denn Geben ist Sache des Reichen.
Was der Junge doch fährt! und wie er bändigt die Hengste!
Sehr gut nimmt das Kütschchen sich aus, das neue; bequemlich
Säßen Viere darin und auf dem Bocke der Kutscher.
Diesmal fuhr er allein; wie rollt es leicht um die Ecke!“
So sprach, unter dem Thore des Hauses sitzend am Markte,
Wohlbehaglich, zur Frau der Wirth zum goldenen Löwen.

Und es versetzte darauf die kluge, verständige Hausfrau:
„Vater, nicht gerne verschenk’ ich die abgetragene Leinwand;
Denn sie ist zu manchem Gebrauch und für Geld nicht zu haben,
Wenn man ihrer bedarf. Doch heute gab ich so gerne
Manches bessere Stück an Ueberzügen und Hemden;
Denn ich hörte von Kindern und Alten, die nackend dahergehn.
Wirst Du mir aber verzeih’n? denn auch Dein Schrank ist geplündert.
Und besonders den Schlafrock mit indianischen Blumen,
Von dem feinsten Kattun, mit feinem Flanelle gefüttert,
Gab ich hin; er ist dünn und alt und ganz aus der Mode.“

Aber es lächelte drauf der treffliche Hauswirth und sagte:
„Ungern vermiss’ ich ihn doch, den alten kattunenen Schlafrock,
Echt ostindischen Stoffs; so etwas kriegt man nicht wieder.
Wohl! ich trug ihn nicht mehr. Man will jetzt freilich, der Mann soll
Immer geh’n im Sürtout und in der Pekesche sich zeigen,
Immer gestiefelt sein; verbannt ist Pantoffel und Mütze.“
              
              

Und so saß das trauliche Paar, sich, unter dem Thorweg,
Ueber das wandernde Volk mit mancher Bemerkung ergötzend.
Endlich aber begann die würdige Hausfrau und sagte:
„Seht! dort kommt der Prediger her; es kommt auch der Nachbar
Apotheker mit ihm: die sollen uns Alles erzählen,
Was sie draußen geseh’n und was zu schauen nicht froh macht.“
              
              




Aus den Zeiten der schweren Noth.


Napoleon der Erste in Potsdam.


Alle geschichtlichen Ereignisse haben in sich einen tiefen Zusammenhang, mögen sie noch so heterogener Natur sein, mögen sie auch noch so weit auseinander liegen. Die Katastrophe, durch die im Jahre 1806 bei Jena der preußische Staat zusammenbrach, war eine Folge einer Reihe politischer Fehler und ein Beginn besserer Einsicht, einer inneren Kräftigung und Erstarkung, aus welcher die Erfolge der jüngst entschwundenen großen Jahre langsam, aber sicher herangereift sind. Das Ende der welthistorischen Verwicklung, durch welche zwei der geistig begabtesten und geistig bewegtesten Völker ihre innere Correction erhalten haben, ist in der einfachen Thatsache zusammengefaßt: König Wilhelm in Versailles; der Anfang und das Seitenstück dazu in der rückwärtsliegenden: Napoleon der Erste in Potsdam. Wir kennen ersteres Capitel der allerneuesten Geschichte genau aus den Berichten unserer Zeitgenossen. Es wird gut und lehrreich sein, mitten aus unserem stolzen Siegesbewußtsein den Blick rückwärts zu wenden in eine Zeit, wo das Vaterland, das jetzt so groß und herrlich dasteht, darniederlag und aus tausend Wunden blutete, in eine Stadt, die Lieblingsresidenz der preußischen Könige, an der sich deutlicher und charakteristischer als an jedem anderen Orte der Wechsel großer Geschicke kennzeichnete und fühlbar machte.

Die Schlacht von Jena war geschlagen. Man wollte am Tage derselben, am 14. October, an ruhigen Havelstellen den Donner der Kanonen von Jena gehört haben. Bis zum 16. October hatte man in den beiden Residenzstädten Berlin und Potsdam keine Nachricht. An dem genannten Tage brachte die „Berliner Zeitung“ endlich die Hiobspost der verlorenen Schlacht. Die Spannung, die Angst, die Aufregung war in allen Gemüthern auf’s Höchste gestiegen. Am 16. October Abends fuhr die von Leipzig nach Berlin über Potsdam führende Leipziger Straße entlang ein sechsspänniger Wagen; er rollte über die Havelbrücke in Potsdam dem Stadtschlosse zu, wo er hielt. Es wurden Anstalten zum Umspannen gemacht. Ein sechsspänniger Wagen war unter diesen Umständen ein Ereigniß, umsomehr, als man in demselben den Wagen der Königin Louise erkannte. Alsbald war er von einer dichten Menschenmasse umringt. Voll Schmerz und Bestürzung mußte das Publicum in einer der Damen, die mit verweinten gramvollen Zügen in dem Innern saßen, die Königin erkennen – ernst und traurig sie, die einst so schön, so heiter, so strahlend ihr königliches Glück genoß. Sie, die vielleicht des Trostes am bedürftigsten war, sie fühlte, daß sie denen, die sie umstanden, die ihr, dem Könige und den Truppen, als sie Anfang Septembers ausgezogen waren, mit freudiger Siegeshoffnung zugejauchzt hatten, daß sie den Bewohnern, die treu an ihr hingen und von denen sie viele persönlich kannte, ein Wort des Trostes und der Beruhigung schuldig war. Und sie neigte sich zum Wagenfenster heraus und sprach mit ihnen, und versicherte sie, daß noch Alles gut gehen werde. Dann fuhr der Wagen ab. Wohin? das wußte Niemand und Niemand wagte die Frage, obwohl sie auf allen Mienen geschrieben stand, aber daß die Königin in Potsdam nicht geblieben war, das war schon ein schlimmes Vorzeichen, und die schlimme Ahnung, die es erzeugte, sollte sich denn auch bald erfüllen.

Am 20. October war es außer allem Zweifel, daß die französischen Truppen die Kurmark besetzen würden. In der Nacht vom 21. auf den 22. October traf denn auch eine französische Husarenpatrouille unter Führung eines Officiers ein. Derselbe kündigte die Ankunft des dritten, des Davoust’schen Armeecorps an und daß in der Stadt tausend Officiere, größtentheils vom Generalstabe, einquartiert werden sollten, daß zwölf Reitpferde für den Stall des Marschalls zu stellen seien, und daß sechszigtausend Mann in der Stadt und um dieselbe bivouakiren würden und verpflegt werden müßten. Und sie ließen auch nicht auf sich warten. Die Städte Potsdam und Berlin mußten täglich sechszig- bis achtzigtausend Portionen Brod, zwei- bis dreihunderttausend Flaschen Wein und Fourage für fünfzehntausend Pferde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_827.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)