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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

sind, jene Geschichten, bei denen uns immer die Worte auf der Zunge schweben, mit denen Schiller in seiner Parodie „Shakespeare’s Schatten“ die Iffland’schen Familienstücke geißelte:

„Aber ich bitte Dich, Freund, was kann denn dieser Misere
     Großes begegnen, was kann Großes durch sie denn geschehn?“

Und welcher Mißgriff ist es nun vollends, in diesen Erzählungen die liebe Jugend selbst in den Vordergrund zu stellen und sie redend und handelnd auftreten zu lassen! Wahrlich, der versteht sich schlecht auf das Kindesherz, der sich einbildet, daß Kinder sich nur im Mindesten für ihresgleichen interessiren, daß sie im Stande seien, das Leben und Treiben der Kinderwelt objectiv zu betrachten, oder gar, daß jene moralischen und unmoralischen Paradekinder, der „fleißige Anton“ und der „ehrliche Karl“ und das „naschhafte Käthchen“ und wie sie Alle heißen, dem kindlichen Gemüthe nur die geringste Theilnahme entlocken können.

Eine gute Erzählung soll weiterhin lehrreich sein; unsere Kindergeschichten aber sind aufdringlich lehrhaft. In aller Literatur sind zwischen Poesie und Wissenschaft scharfe Grenzen gezogen, und Jeder, der diese beiden Gebiete vermengen wollte, würde sich unrettbar lächerlich machen. In der Kunsttheorie nimmt die didaktische, das heißt die lehrhafte Dichtung den untersten Rang aller Poesie ein, sie ist eigentlich gar keine Poesie mehr. Blos in den Jugenderzählungen glaubt man wunder was zu thun, wenn man auf Tritt und Schritt belehrenden Stoff hineinstreut, und so werden jene zahllosen widerwärtigen Bücher fertig, mit deren Hülfe im Rahmen einer gleichgültigen Erzählung aller mögliche geschichtliche, geographische und naturwissenschaftliche Stoff der Jugend „spielend beigebracht“ werden soll. Zum Belehren sind Lehrbücher da, aber nicht die Poesie. Wer je mit Knaben oder Mädchen von sechszehn, siebzehn Jahren Goethe’s „Hermann und Dorothea“ gelesen, der wird wissen, wie unendlich lehrreich diese Dichtung für die Jugend werden kann; aber wo ist auch nur die leiseste Spur zu finden, daß der Dichter Jemanden damit habe belehren wollen?

Eine echte Jugenderzählung soll ferner der allezeit regen Phantasie des Kindes in maßvoll schönen Bildern und Vorstellungen Nahrung geben; unsere Kindergeschichten aber überbieten sich förmlich darin, die kindliche Einbildungskraft mit unwahren, aufregenden Zerrbildern anzufüllen. Man sehe nur diese Robinsonaden an, die ungeschickten, übertriebenen Nachahmungen des echten, alten Robinson, diese Indianergeschichten, diese Nordpolfahrten, diese Jagdabenteuer, diese Wüstenbilder: welche haarsträubenden, schaudererregenden Scenen drängen da einander! Ein einzelner Mensch fünf Löwen oder einer Rotte Rothhäuten oder einem ganzen Rudel Eisbären gegenüber – um ein Geringeres thun es diese Geschichten nie.

Und so ließen sich noch gar mancherlei unerfüllte Wünsche aufzählen. Eine gute Erzählung soll sittlich bildend sein, indem sie durch die vorgeführten Handlungen ganz von selbst das Urtheil der Kleinen über Gut und Böse, über Recht und Unrecht herausfordert; unsere Kindergeschichten aber wimmeln von flachen moralischen Gemeinplätzen, so daß man jeden Augenblick die Absicht merkt und verstimmt wird; sie sollen in einfacher, echt kindlicher Sprache erzählt sein, aber sie verfallen in ein kindisches Plärren und Stammeln; sie sollen von echtem Humor durchleuchtet sein, aber sie ergehen sich in platten Späßen; sie sollen voll frischer, unverfälschter Empfindung sein, aber sie sind übertrieben gefühlvoll und sentimental und, anstatt das Gefühl zu wecken, setzen sie Gefühle voraus, die das Kind, glücklicher Weise noch gar nicht hat.

„Ja ein derber und trockener Spaß, nichts geht uns darüber;
     Aber der Jammer auch, wenn er nur naß ist, gefällt,“

heißt es bei Schiller in dem erwähnten Gedichte, und auch dies paßt auf unsere Jugendschriften so gut wie auf die Iffland’schen Rührstücke.

Es ist ein trübseliges Bild, das wir da zeichnen, aber ein Bild, das der Wirklichkeit sehr, sehr nahe kommt. Es soll nicht geleugnet werden, daß gar manche dieser erfundenen Kindergeschichten den einen oder anderen der genannten Fehler vermeidet; aber es ist ganz entschieden zu leugnen, daß es unter tausenden auch nur eine giebt, die allen den genannten Ansprüchen genügte. Denn um das zu können und um alle die angeführten Bedingungen zu erfüllen, dazu gehört freilich nicht mehr und nicht weniger, als daß man ein poetischer Genius oder mindestens ein poetisches Talent ersten Ranges sei. Das kann man aber doch von unseren Jugendschriftstellern und ‑Schriftstellerinnen schwerlich voraussetzen.

Wer sind sie denn, diese erzählenden Dichter der Jugend? Im günstigsten Falle sind es wohlmeinende Lehrer oder Pfarrer, die vielleicht wirklich der ehrlichen Ueberzeugung leben, daß sie ein gutes Werk stiften und sich eine Stufe in den Himmel erbauen, wenn sie die ungeheure Fluth überflüssiger Kindergeschichten noch um ein paar vermehren. Oder aber es sind von der Feder lebende Literaten, die, weil sie unfähig sind, für das reife und gebildete Publicum zu schreiben, ihre geistesarmen Erzeugnisse nun den Unmündigen anbieten zu dürfen glauben, oder die auf Bestellung die Kindergeschichten dutzendweise aus den Aermeln schütteln; denn aus purem dichterischem Drange und ohne Hunger zu haben schreibt ganz gewiß Niemand in einem Athem „Hundert moralische Erzählungen“. Oder endlich – und das ist das Schlimmste –, es sind schriftstellernde Blaustrümpfe, denen die Langeweile und die bodenloseste Eitelkeit die Feder in die Hand drückt. Wir begehen wohl keine Indiscretion, wenn wir hier wörtlich anführen, was uns im vorigen Jahre einer der hervorragendsten deutschen Jugendschriftenverleger schrieb: „Es ist ein in Deutschland sehr verbreiteter Irrthum, das Schreiben von Jugendschriften für leicht zu halten; so sind namentlich unzählige adelige Damen in dem Irrthume befangen, sie seien zu dieser Beschäftigung berufen. Alle Jahre erhalte ich eine ganze Menge solcher Manuscripte eingeschickt, welche meistens, nachdem ich zwei bis drei Seiten mit geringer Befriedigung durchlesen, ‚unter höflichem Danke‘ zurückwandern. Vielen dieser Sachen begegne ich dann später im Sortimentsladen wieder, ein Beweis, daß sie trotz ihres schwachen Gehaltes doch einen Verleger gefunden haben.“

So also sieht es mit der Berechtigung dieser gemachten Kindergeschichten aus. Wie aber steht es mit ihrer Nothwendigkeit?

Und wenn ein Knabe noch so viel von der freien Zeit, die ihm die Schule läßt, über den Büchern säße, er würde nicht im Stande sein, alle die Bücher zu lesen, worin jene echten und wahren Kindererzählungen niedergelegt sind, die alle die oben aufgestellten Forderungen im vollsten Maße erfüllen. Und welche Erzählungen das sind? Nun, es sind vor Allem jene ewigen und unvergänglichen, wahrhaft classischen Erzählungsstoffe, die nicht blos der Jugend, aber der Jugend vor Allem gehören: die Volksmärchen und die Volkssagen, und zwar nicht die deutschen allein, sondern die aller Zeiten und Völker.

So lange das Kind nicht selber lesen kann, muß ihm die Poesie durch „mündliche Tradition“ und natürlich am liebsten durch den Mund der Mutter vermittelt werden. Aber wie viele Mütter giebt es denn noch heutzutage, die ein echtes Volksmärchen, wie die Sternthaler, Hühnchen und Hähnchen, Rothkäppchen, Schneewittchen u. a., unverkürzt und unverfälscht ihren Kindern erzählen können? Wie viele sind es denn, die jene unendliche Fülle echter Kinderpoesie noch im Gedächtniß haben, die in an den kleinen Wiegenliedern (Schlaf’, Kindchen, schlaf’), Tanzliedern (Buko von Halberstadt), Reiterliedern (Schacke, schacke, Reiterlein), Fingerspielen (Backe, backe Kuchen, oder: Da hast en Daler), Kinderpredigten (Ihr Diener, meine Herr’n, Aeppel sind keine Bern) und Kinderräthseln (Erst weiß wie Schnee) enthalten ist? Alle diese Märchen, Lieder, Sprüche, Räthsel, in denen viel mehr Geist steckt, als in den albernen Kinderversen unserer bunten Bilderbücher, findet die Mutter beisammen in dem Buche von Dittmar, „Der Kinder Lust“ (1 Thlr.). Das mag sie sich selber bescheeren, denn sie bescheert es dann auch ihren Kindern mit.

Das erste Lesebuch, welches jedes deutsche Kind, Knabe wie Mädchen, auf seinem Weihnachtstische finden sollte, sind die Kindermärchen, die die Gebrüder Grimm gesammelt haben (Dümmler, 15 Sgr.). Reichere mögen außerdem die Auswahl daraus kaufen, welche, hübsch illustrirt, bei Thienemann in Stuttgart erschienen ist (2 Thlr.). Bechstein’s Märchenbuch enthält zwar auch echte Volksmärchen, ist aber nicht eigentlich für Kinder bestimmt, noch weniger die künstlich gemachten Märchen von Musäus und Andersen. Mädchen sind ja oft bis in’s Backfischalter hinein wahre Märchentigerinnen und verschlingen gierig Alles, was Märchen heißt; ihnen mag man denn auch, wenn sie etwas reifer sind, nach Grimm noch andere Sammlungen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 794. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_794.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)