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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 48.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


27.


Sie gingen rasch auf den Hof zu, der alte Boslaf mit langen gleichmäßigen Schritten immer voran, den Blick jetzt auf den Boden gesenkt, jetzt scharf in die Dämmerung hineinlugend; aber er sprach kein Wort, und Gotthold fragte nicht. Dennoch wußte er, ehe man den Hof erreichte – aus einzelnen Bemerkungen der anderen Männer, – daß, als sich gegen Mittag unter den Leuten das Gerücht verbreitete, die Frau und das Kind seien verschwunden – seit dem Morgen, vielleicht schon seit gestern Abend – sogleich die Rede ging, daß sie sich dann das Leben genommen habe. Es hatte es Keiner zuerst, es hatten es eben Alle zugleich gesagt, und daß Einer nach Vetter Boslaf laufen müsse. Vetter Boslaf war denn auch alsbald gekommen – die alte langschäftige Büchse auf der Schulter – und hatte die Leute eingetheilt: Statthalter Möller mit dem einen Trupp über die Felder in den Strandwald, Schmied Prebrow, den man abgeholt, mit dem andern die Haide aufwärts nach den Schanzenbergen, Vetter Boslaf selbst mit dem Rest die Haide abwärts auf das Moor; nun wollten sie Alle auf dem Hof wieder zusammentreffen. Vor zwei Stunden – sie waren noch weiter unten auf dem Moor, es nebelte aber noch nicht so stark, – hätten sie Herrn Brandow zurückkommen und bald wieder wegfahren sehen. Er habe auch gut daran gethan, denn die Leute hätten unter sich ausgemacht, daß der Mörder nicht lebendig wieder vom Hofe solle; an Hinrich Scheel sei nichts gelegen, der sei so schlecht gewesen, wie er selber; aber Frau und Kind – das sei zu arg, und sie Alle hätten ja auch immer gesagt, daß es noch einmal so kommen würde.

Sie hatten es Alle gesagt und hatten es so kommen lassen! Sie hatten es ja nicht verhindern können; aber er! Gotthold meinte, das Herz müsse ihm springen vor Scham und Gram.

Man gelangte auf den Hof, in demselben Moment fast mit den beiden andern Trupps. Sie hätten das ihnen zugewiesene Terrain sorgfältig abgesucht, und nichts gefunden, keine kleinste Spur. Was nun geschehen solle?

Es konnte wenig mehr geschehen. Zwar der Nebel war vorübergezogen, aber die Dämmerung bereits stark hereingebrochen; in einer halben Stunde, höchstens einer Stunde mußte es Nacht sein. Auch waren die Leute, die seit Mittag ununterbrochen in Gestrüpp und Wald, Sturzacker und Moor auf den Beinen waren, sichtlich ermüdet und erschöpft, dennoch waren sie gern bereit, auch noch den Wald nach Dahlitz zu durchsuchen, sobald sie das Vesperbrod verzehrt, das Vetter Boslaf hatte vor das Haus schaffen lassen. Vetter Boslaf aß nichts, trank nichts; er stand, die Arme verschränkt, an den Stamm einer der beiden alten Linden gelehnt und wartete geduldig, bis die Leute wieder bereit sein würden, ihm sein Urenkelkind, die letzte aus seinem Geschlecht, suchen zu helfen, auf dem Grund der Mergelgruben, in der Tiefe der Waldschluchten, oder wohin sie sich sonst geflüchtet, um mit ihrem Kinde zu sterben.

Gotthold war in das Haus getreten, um sich nach Mine umzusehen, einem guten, noch ganz jungen Mädchen, die er manchmal mit Gretchen hatte spielen sehen und die Cäcilien sehr ergeben schien; vielleicht daß er von ihr irgend etwas erfahren konnte, was einen Anhalt gab. Er fand die Kleine in der Küche, wo sie, mit verweinten Augen, der Ausgeberin Butterbrode für die Leute hatte zubereiten helfen. Sie ließ, als sie Gotthold ansichtig wurde, mit einem Freudenschrei das Messer fallen und kam auf ihn zugelaufen; Gotthold hieß sie mit ihm gehen.

Das gute Kind konnte anfangs vor Weinen kaum sprechen. Die Frau sei immer so traurig gewesen in den letzten Wochen, noch viel trauriger als sonst; sie habe beinahe gar nicht mehr gesprochen, kaum noch mit Gretchen, welche sie nie von der Hand gelassen, und mit ihr nur das Allernöthigste. Gestern sei sie noch bis spät in den Abend draußen gewesen, ohne Gretchen, und als sie zurückgekommen, habe sie so bleich und erschöpft ausgesehen, und mit den Augen hätte sie so starr vor sich hingeblickt; aber sie habe sich nicht zu Bett legen wollen, sondern darauf bestanden, daß sie zu ihrer Mutter nach Neuenhof gehe, die das böse Wesen wieder so arg gehabt, und hinzugefügt, daß sie vor Mittag nicht wiederzukommen brauche, und da sei die Frau ja schon wer weiß wie lange fortgewesen. Die Rieke habe es sicher längst gewußt, aber sie habe aus Furcht vor den andern Leuten nichts gesagt, und sich oben versteckt gehalten, bis der Herr zurückgekommen. Der habe sie anfangs arg ausgescholten und mit der Reitpeitsche nach ihr geschlagen; da habe die Rieke geheult und geschrieen, sie wolle es dem Herrn eintränken, und so schlimme Reden geführt, und zuletzt habe sie der Herr in der Kutsche mitgenommen; und ihre liebe, gute Frau habe zu Fuß hinaus gemußt aus dem Hause in tiefer finsterer Nacht, und das liebe, süße Gretchen habe nicht einmal die neuen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 781. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_781.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)