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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 47.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


25.


Die Ueberfahrt nach der Insel dauerte heute ungewöhnlich lange. Der heftige Wind war umgesprungen und wehte gerade entgegen; das Boot war mit Menschen und Pferden überfüllt, man mußte vorsichtig laviren. Die Unterhaltung der Passagiere – Gutsbesitzer, Pächter von der Insel – drehte sich fast ausschließlich um die Rennen, die in wenigen Tagen beginnen sollten. Es würden die glänzendsten Rennen werden, die noch je stattgefunden. Es seien Pferde aus Schlesien, ja aus Ungarn gemeldet; Fürst Prora hätte sich wahrlich nichts vergeben, wenn er auch hätte laufen lassen. Der große Staatspreis sei um tausend Thaler erhöht; aber das Hauptrennen werde doch das Herrenreiten werden. Man habe anfangs geglaubt, daß von den vierundzwanzig gemeldeten Pferden nicht drei erscheinen würden, da bereits im Mai sechs aus Furcht vor Herrn Brandow’s Brownlock Reugeld gezahlt hätten; aber jetzt habe sich das Blatt gewendet, jetzt wollten Alle laufen lassen, denn daß der Brownlock das Moor nicht würde nehmen können, sei notorisch, und dann müsse er die Führung abgeben, um den Umweg zu machen, und könne es nicht mehr holen, da hinter dem Moore bis zum Pfosten nur noch ein unbedeutendes Hinderniß sei und auf freier Bahn es andere Pferde gut und gern mit ihm aufnähmen.

So sprachen die Männer, ihre Köpfe zusammensteckend, eifrig untereinander, während Regen und Sprühwasser über ihre breiten Schultern hinwehten, und Gotthold faßte an den Brief, den er in der Tasche trug. „Der Brownlock könne das Moor nicht nehmen, Brandow habe es selbst gesagt!“ er hatte Ursache, es zu sagen, und nicht blos, um die Wettlust seiner Gegner anzustacheln, wie Einer der Debattirenden gemeint hatte!

Endlich langte das Boot drüben an. Gotthold eilte in den Gasthof, sich einen Wagen nach Prora zu verschaffen. Die drei Wagen des Herrn Peters waren sämmtlich unterwegs, der eine könne bald zurückkommen, ja müßte eigentlich schon zurück sein; aber es sei ja kein Verlaß mehr auf die Knechte, der einzige Verläßliche, den er jemals gehabt, habe vor drei Wochen geheirathet, ein gewisser Jochen Prebrow aus Dollan, das heißt, nicht vom Gute, sondern aus der Schmiede, in deren Nähe neulich das Unglück passirt sei, von dem der Herr auch wohl gehört.

„Ja, mein Gott,“ rief Herr Peters, „aber das sind Sie ja selbst! Hätte ich Sie doch kaum wiedererkannt! Sie sehen ja noch blasser und kränker aus als vor drei Wochen, als Sie mit dem Herrn Assessor und dem Herrn Wollnow hier durchkamen. Ich habe noch vor ein paar Stunden mit Herrn Brandow wieder von der Geschichte gesprochen. Schade, daß Sie das Zwölf-Uhr-Boot verpaßten! Hätten ja mit Herrn Brandow weiter fahren können, der sich immer von hier mit eigenen Pferden abholen läßt. Und von dem Hinrich Scheel ist noch keine Spur; der Kerl ist gewiß seit drei Wochen unterwegs nach Amerika.“

Herr Peters mußte sich um seine andern Gäste bekümmern, von deren breitschulterigen Gestalten heute die große Gaststube überfüllt war. Gotthold hatte bereits neugierige Blicke auf sich gerichtet gesehen; vermuthlich hatte ihn Herr Peters als einen der Helden der Unglücksgeschichte auf der Dollaner Haide bezeichnet, die schon viel von sich hatte reden machen und von welcher jetzt, wo Brandow’s Name in Aller Munde war, mehr als je vorher geredet wurde. So verließ er denn den von Tabakrauch erfüllten Raum und trieb sich draußen in dem sprühenden Regen umher, bis endlich, nach einer Stunde ungeduldigsten Harrens, der versprochene Wagen kam – eine alte gebrechliche Chaise, vor welche glücklicherweise ein paar frische Pferde gelegt wurden. Herr Peters kam heraus, sich zu verabschieden und Gotthold zu sagen, daß er, bei der großen Nachfrage, das Fuhrwerk nicht für den gewöhnlichen Preis lassen könne. Gotthold willigte in die unverschämte Forderung und würde, um nur fortzukommen, noch mehr bewilligt haben.

„Ich sah es ihm gleich an, daß was im Gange ist,“ sagte Herr Peters zu seinen Gästen. „Vor zwei Stunden Brandow, jetzt Der; passen Sie Achtung: sie sind hinter dem Scheel her.“

„Dummes Zeug!“ sagte ein dicker Pächter; „Der ist längst, wo der Pfeffer wächst.“

„Ich denke, er hat sich das Leben genommen,“ meinte ein Anderer.

„Oder es ist ihm genommen worden,“ brummte ein Dritter.

Man steckte die Köpfe dichter zusammen. Daß Hinrich Scheel nicht die Früchte seines Verbrechens allein geerntet, ja möglicherweise ganz darum betrogen sei, war eine Ansicht, die sich im Publicum festgesetzt hatte, ohne daß die Sache eine bestimmte Gestalt annahm. Man wollte oder konnte auch diesmal keinen Namen nennen; im Gegentheil, die Sache wurde immer dunkler,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 765. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_765.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)