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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Freilich, freilich! aber eigentlich doch noch weiter, viel, viel weiter! eigentlich bis Amerika. Finden Sie nicht, gnädige Frau?“

Jetzt verstand ich. „O ja, gewiß! nach Holland, da habe ich einen Bruder, nach England, da haben wir viele Freunde, und wenn Sie wollen, auch nach Amerika. Das spielt in der heutigen Welt ungefähr die Rolle des heiligen Altars von ehemals. Verbrecher, Flüchtlinge und Compromittirte, die seinen gesegten Boden berühren, kann man nicht fassen.“

„Dies elende Fahrzeug könnte mich retten!“ citirte er, mit der Hand auf einen Kahn deutend, der am Ufer angekettet lag. „Besitzen Sie ein Boot, Madame?“

„Nein, aber wir haben öfter davon gesprochen, eins anzuschaffen; es soll auch geschehen, ganz gewiß, denn ich liebe Wasserfahrten so sehr.“

„Und das Rudern ist eine so gesunde Bewegung. Ich kann es aufrichtig dem Herrn Gemahl empfehlen,“ sagte Schönlein, indem er sich erhob.

„Ich werde nicht ermangeln, mich auf des Herrn Professors Autorität zu berufen,“ entgegnete ich. „Wenn Sie einmal wieder kommen – ich hoffe, es ist bald –, so verspreche ich Ihnen eine Wasserfahrt im eigenen Boote, vielleicht von mir selber gerudert.“

So schieden wir mit heiteren Worten und Beide doch ernster Gedanken voll.

Ich sah Schönlein aber nicht so bald wieder, als ich gedacht hatte, nur Professor N. erschien einmal bei uns nach etwa sechs Wochen.

„Ich werde Schönlein erzählen, daß ich in Ihrem Boote auf dem Main gefahren bin,“ sagte er beim Fortgehen und muthmaßlich war dies eine Andeutung, die nur ich verstehen sollte.

Das Schicksal der jungen Leute, welche bei dem „Frankfurter Attentat“ betheiligt waren, erregte in ganz Deutschland die allgemeinste Sympathie, natürlich aber hier auf dem Schauplatz der That am allermeisten. Nicht etwa, daß die Bevölkerung im Allgemeinen ihrer Verschwörung einen minder kläglichen Erfolg gewünscht hätte – das nicht, aber namentlich unter der gebildeten Classe gab es doch eine ganze Anzahl, welche den selbstlosen idealen Zweck des gescheiterten Unternehmens verstanden, und wo dies nicht der Fall war, da behaupteten bei dem langsamen und schleppenden Gange der Untersuchung Mitleid und Theilnahme ihr Recht.

Je mehr sich’s ergab, daß das „hochverrätherische“ Unternehmen ein weitverzweigtes, bis in’s Ausland hinein reichendes war, um so länger drohte die Untersuchungshaft zu dauern, um so bedenklicher erwartete man das Endurtheil. Es konnten Jahre darüber hingehen – hieß es.

Dies geduldig abzuwarten, war man nicht geneigt. Die Freunde waren nicht müßig, sondern ein Complot arbeitete im Stillen und auf den geheimsten Wegen, um den Armen zur Flucht zu verhelfen.[1] Da fand sich’s denn in der That, daß man dazu auch der Frauen bedurfte, und zwar zählte man dabei nicht nur auf ihr Mitleid, auf ihre Bereitwilligkeit, sondern auch auf ihre Schlauheit und Erfindungsgabe und vor allen Dingen auf ihre Verschwiegenheit.

Das ganze, im Verborgenen gesponnene Netz kannte ich nicht, begehrte es auch nicht zu kennen – genug, daß ich mit einer Anzahl anderer Frauen mein Wort gegeben hatte: zu jeder Zeit und zu jeder Stunde unweigerlich zu jedem Dienste bereit zu sein, den man in Betreff der Gefangenen von uns fordern würde.

In dem Augenblick, wo ich das Versprechen leistete, war mir ernst und feierlich, ich gestehe, sogar etwas bange zu Muthe; ich wußte, daß die Sache nicht ohne Gefahr war, und dachte mir die mögliche Tragweite aus, aber entschlossen war ich, mein Wort zu lösen, koste es was es wolle. Mit einer gewissen Spannung und Aufregung sah ich jedem folgenden Tag entgegen. Kam ein Brief, so dachte ich an eine Botschaft; schellte es, so erwartete ich Ordre; fuhr ein Wagen vor, so meinte ich: es sucht Jemand Zuflucht. An all’ das aber dachte ich nicht, als mein alter Doctor F. erschien. Auch unterhielten wir uns heiter und unbefangen, aber nur kurze Zeit, denn mein Doctor war sehr eilig.

„Bitte,“ sagte er, „ich war so lange nicht in Ihrem Garten, wollen wir nicht einmal durch denselben spazieren?“

„Herr Doctor! bei der Nässe und der Kälte!“ denn es war bereits im Spätherbst des Jahres.

„Ach, binden Sie ein Tuch um!“ entgegnete er. „Wie Mancher wäre glücklich, wenn er in das Unwetter hinaus könnte!“

Ich blickte ihn an und verstand, obwohl ich keine Ahnung gehabt hatte, daß auch er zu den Wissenden gehörte.

Die wenigen Herbstblumen und die fast entblätterten Bäume schaute er gar nicht an, verlangte auch nicht das Treibhaus zu sehen, sondern legte kurzweg meinen Arm in den seinen und schritt mit mir den breiten Hauptweg entlang.

„Können Sie über den heutigen Abend verfügen?“ fragte er ohne weitere Einleitung.

„Ich bin mit meinem Mann zum Souper bei J. eingeladen,“ erwiderte ich.

„So bleiben Sie zu Hause!“

„Mein Mann würde mit mir bleiben.“

„Das darf nicht sein.“

„Was verlangt man?“ fragte ich.

„Um neun Uhr müssen Sie zu Diensten stehen.“

„So lassen Sie mich nur machen – was soll ich thun?“

„Punkt neun Uhr sind Sie in der Haasengasse.“

Ich nickte bejahend.

„Um die Ecke links wird ein Mann kommen und an Sie herantreten – Sie sagen kein Wort.“

„Kein Wort!“ wiederholte ich.

„Er wird fragen: ‚Ist es geschehen?‘ Darauf antworten Sie: ‚Es ist geschehen, Brutus,‘ nehmen seinen Arm und – nun, das Weitere ist Ihre Sache. Man sagt, Sie wüßten einen sicheren Ort, ist es so?“

„Ja, einen vortrefflichen Ort.“

„Ich halte meine Wohnung nicht für sehr geeignet,“ fuhr der Doctor fort, „auch wäre eine Haussuchung bei mir nicht unmöglich, aber natürlich stehe ich dennoch zu Gebote, falls Sie nicht ganz sicher sind.“

„Ich bin ganz sicher, ich freue mich, dienen zu können,“ entgegnete ich.

„Das sehe ich Ihnen an,“ sagte Doctor F., „– diese Astern sehen noch ganz leidlich aus,“ fügte er mit etwas erhobener Stimme hinzu, denn der Gärtner kam heran. „Ihre Orangen will ich ein anderes Mal sehen. Gott! gleich fünf Uhr!“ rief er, die Uhr herausziehend. „Ich muß fort. Adieu! Adieu!“

Der Gärtner hatte irgend ein Anliegen, aber ich konnte mich nicht zu besonnener Antwort zwingen, sagte, ich hätte keine Zeit, und eilte in’s Haus.

Ich war aufgeregt, wie vielleicht nie in meinem Leben, und doch hatte ich mit vollster Besonnenheit allerlei Vorbereitungen, und zwar in eigenster Person, zu treffen. Das war nicht leicht, denn ich mußte die Blicke des Hauspersonals und selbst der Kinder von meinem Thun ablenken. Ich war aber doch glücklich damit zu Stande gekommen und hatte in aller Eile ein wenig Toilette gemacht, als B. erschien, um mich zu dem Souper zu begleiten.

„Wie siehst Du echauffirt aus!“ rief er sogleich, „fehlt Dir Etwas?“

„Ich – ich habe Kopfweh. Es wird mir furchtbar schwer in Gesellschaft zu gehen,“ sagte ich mit abgewandtem Gesichte.

„So wollen wir hier bleiben,“ entgegnete mein Mann. „Martin soll sogleich absagen.“

„Nein, mein Lieber, gehe Du allein und entschuldige mich, ich werde mich dann gleich zu Bette legen.“

„Gott bewahre! ich bleibe, es ist ohnedies unausstehlich langweilig bei J.’s, ich bin froh, einen Vorwand zu haben.“

Ich erschrak. Sagen durfte ich meinem Manne Nichts, denn es war uns sämmtlichen Frauen eingeschärft worden, wie sehr wir das Schweigen wörtlich zu nehmen hatten, auch wußte ich zu gut, daß mein lebhafter unruhiger Mann zu Nichts weniger zu gebrauchen war, als zu dem Amte, welches mir anvertraut – gesetzt den Fall, daß er überhaupt dazu geneigt gewesen wäre, was ich sehr zu bezweifeln Ursache hatte.

  1. Es dürfte vielen unserer Leser unbekannt sein, daß von den am 3. April 1833 bei Erstürmung der Hauptwache gefangenen Studenten und sonstigen Betheiligten Schüler, Scriba, Lübenski, Cunradi, Dörflinger, Engelmann, Gambert, v. Welz, Wislicenus, Feddersen und Holzinger mit Hülfe Frankfurter und auswärtiger Freunde nach und nach aus den Gefängnissen befreit und meist in sehr abenteuerlicher Weise nach England, Amerika und Holland geschafft wurden. Die Führer Rauschenplatt, Bunsen und Körner konnten noch in derselben Nacht oder in den nächstfolgenden Tagen entfliehen.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_678.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)