Seite:Die Gartenlaube (1872) 621.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Heldenmuth deutscher Seeleute.


Von L. Brentano in Chicago.


Es war am 13. Juli, als ich in Havre das Hamburger Dampfschiff „Holsatia“ bestieg, um nach New-York zu reisen. Der Dampfer hatte zwei Tage vorher Hamburg verlassen und bei schönstem Wetter und spiegelglatter See die Fahrt bis nach Havre zurückgelegt. Die Passagiere befanden sich unter solchen Umständen fast alle ganz wohl und frei von Seekrankheit, so daß ein höchst heiteres Leben auf dem Schiffe herrscht. „Wir hatten eine wahre Vergnügungsfahrt, seit wir den deutschen Hafen verließen,“ erzählten die Passagiere von Hamburg den neuen Ankömmlingen, welche nach überwundenen Paß-, Zoll- und Octroischwierigkeiten, wie man sie nur in dem Lande der „großen Nation“ noch durchzumachen hat, aus Süddeutschland und der Schweiz durch Frankreich herbeigeeilt waren, um das in Havre anlegende Schiff zu erreichen. Da wehte sie stolz in französischen Gewässern und inmitten der großartigen Hafenbefestigung, jene deutsche Flagge, welche kurz zuvor zum ersten Male dem dritten deutschen Heere, welches im Laufe von kaum mehr als einem halben Jahrhundert in die Hauptstadt Frankreichs eingezogen, vorangetragen worden war, während von der Spitze des vordern Mastes das Sternenbanner die Bestimmung des Schiffes anzeigte; aber kein Hurrah begrüßte die Ankunft oder folgte der Abfahrt des Dampfers, wie es sonst in allen Hafenstädten der gebildeten Welt schöne Sitte ist. Nein! Die Träger der Civilisation standen still, stumm und mit giftigen Blicken auf den Dampfer schauend am Ufer, keinen Glückwunsch den in’s große Weltmeer Absegelnden nachrufend, so wie etwa die Wilden der Südseeinseln ein ankommendes oder abfahrendes Schiff betrachten mögen. „Zwei Sous“, heischte der wachthabende Douanier, von jedem an Bord zu verbringenden Gepäckstücke, und auf das „Warum?“ eines neugierigen Reisenden erfolgte die kühle Antwort: „Um Herrn Bismarck zu bezahlen!“ Wird wohl viele Zweisousstücke brauchen, um auch nur den millionsten Theil der Bismarck’schen und der Napoleon-Gambetta’schen Milliardchen zu bezahlen.

Endlich waren wir aus dem Hafen in’s Meer, in’s freie neutrale Meer gelangt. Das günstige Wetter, welches das Schiff von Hamburg durch den Canal hindurch begleitet hatte, schien ihm auf seinem weiteren Laufe folgen zu wollen. Die See war so ruhig, oft wirklich so spiegelglatt wie der Züricher See, die Bewegung des Schiffes eine so regel- und gleichmäßige, daß sie nur wenige etwas schwächlichere Körperconstitutionen angriff, und der Dampfer, nur von der Dampfkraft bewegt, lief in raschem Laufe durch das Meer, welches durch keine Wogen Widerstand bot. Unterdessen waren wir, auf dem neunundvierzigsten Grade nördlicher Breite fahrend, bis etwa zum dreißigsten Grade westlicher Länge gelangt, als sich am Morgen des 17. Juli eine „gute“ Brise, wie die Schiffer sagen, erhob. Der Wind blies lustig von Südwesten in die schwellenden Segel, und so, getrieben durch Dampf und Luft, durchschnitt der Dampfer mit gehöriger Schnelligkeit die Wogen. Allein bald vermehrte sich die Kraft des Windes in einer solchen Weise, daß Segel nach Segel eingezogen werden mußte, um für den kommenden Sturm das Schiff in den erforderlichen Vertheidigungszustand zu setzen, und es dauerte auch nicht lange, so erfüllte das Brausen eines höchst anständigen Sturmes die Luft und wühlte die unendliche Wassermasse auf, die nun das Schiff bald auf die Spitze hochgehender Wogen erhob, um es sofort wieder von dem Wogenberge in das Wogenthal hinabzusenden. Der Sturm wüthete die ganze Nacht hindurch, und obgleich die „Holsatia“, stolz und unbekümmert um das Toben des Windes, die ihm in rasender Eile entgegengetriebenen Wellen durchschnitt, war doch die Bewegung des Schiffes nicht eben angenehm, und besonders der durch das Emporheben der Schraube verursachte unregelmäßige Tact der Maschine war für das Ohr nichts weniger als lieblich. Wir waren, wie die Seeleute uns sagten, in einer Region angelangt, wo solche außerordentliche Luftbewegungen keineswegs zu den Seltenheiten gehörten, und wir mußten uns daher auf eine Fortdauer des stürmischen Wetters gefaßt machen.

Es war am Morgen des 18. Juli, als die „Holsatia“, welche in direct westlichem Curse steuerte, in südwestlicher Richtung eine Barke mit eingerefften Segeln kreuzen sah. In derselben Richtung, jedoch etwas weiter entfernt, wurde ein Fahrzeug bemerkbar, dessen Aussehen schon mit unbewaffnetem Auge erkennen ließ, daß es sich in einem theilweise mastlosen Zustande befand. Eine Untersuchung mit dem Fernrohre ergab denn auch, daß der Mittelmast gänzlich und an dem andern die Spitze fehlte, sowie daß das Schiff die Nothflagge (Union Ensign down) aufgezogen hatte. Sofort gab der wackere Capitain Bahrendt den Befehl, den Curs der „Holsatia“ zu ändern und näher zu dem verunglückten Schiffe, welches wie ein Spielball von den hochgehenden Wogen hin- und hergeschleudert wurde, zu steuern. Als man nahe genug gekommen war, wurden die Signalflaggen aufgezogen, welche die Frage enthielten, ob Hülfe begehrt werde. Das Schiff, welches als eine englische Barke erkannt wurde, signalisirte sofort, daß es Hülfe bedürfe, und nun wurde mit unglaublicher Schnelligkeit eines der Rettungsboote in Stand gesetzt, um den Schiffbrüchigen zu Hülfe zu kommen. Wird sie gelingen, diese Hülfe? werden unsere wackeren Theerjacken, welche eben sich bereit machen, ihr eigenes Leben in die Schanze zu schlagen, um den mit Tode ringenden Brüdern Beistand und Rettung zu bringen, wieder wohlbehalten und unversehrt zu uns zurückkehren? Dies waren die Fragen, welche sich die in ängstlicher Beklommenheit den Vorbereitungen zuschauenden Passagiere stellten. Aber schon wird das Boot, in welchem der vierte Officier, Eduard Schuster, mit dem zweiten Bootsmann Heinrich Schee nebst fünf Matrosen Platz genommen, herabgelassen und jetzt gilt es, die äußerste Vorsicht anzuwenden, um das Boot unversehrt vom Schiffe zu entfernen, und dazu mußte der Augenblick benutzt werden, in welchem eine Woge vom Schiffe zurückprallte, denn eine gerade herankommende Welle würde es unfehlbar an dem Dampfer zerschellt haben.

Athemlos und ängstlich folgten unsere Blicke dem hinabgleitenden Fahrzeuge, in welchem sieben Menschen dem Tode trotzten, um in heldenmüthigster Weise ihren gefährdeten Mitmenschen Beistand zu bringen, und mit welchen Gefühlen müssen erst die Schiffbrüchigen dieser Operation, deren Gelingen jedenfalls die Grundbedingung der Möglichkeit einer Rettung war, zugeschaut haben! Hatten sie doch Tags zuvor sehen müssen, wie eine Barke „Lucia“ seit dreißig Stunden in der Nähe des verunglückten Schiffes herumkreuzte und ein von ihr herabgelassenes Boot wie eine Eierschale zerschmettert wurde, und hatten sie doch selbst vergeblich versucht, eines ihrer eigenen Rettungsboote auszusetzen! Dieses hatte kaum das Wasser berührt, als es auch schon von dem empörten Meere umgestürzt wurde. Aber unser Boot, an dessen Steuerruder mit stolzer Ruhe der wackere Eduard Schuster stand, war von dem Bootsmanne Heinrich Schee bereits vom Dampfer abgestoßen und schwamm von vier Rudern bewegt seinem Ziele zu, jetzt hoch auf der Spitze einer Woge dahingetragen, jetzt wieder durch einen Berg von Wasser unseren Blicken entzogen.

Wir waren dem verunglückten Schiffe allmählich so nahe gekommen, daß wir mit bewaffnetem Auge die Mannschaft zählen konnten. Es waren fünfzehn Menschen, welche sich an die Verschanzung angeklammert hatten, während das Schiff von der Brandung bald auf die eine und bald auf die andere Seite geschleudert wurde. Endlich erblickten wir unser Boot, welches in der Entfernung wie eine Nußschale auf den Wogen aussah und welches nun dem Schiffe so nahe gekommen war, wie die eigene Sicherheit erlaubte, und so, daß die Mannschaft eine von der englischen Barke ausgeworfene Boje mit den darangeknüpften Tauen ergreifen konnte. Die Rettungsmannschaft war hinreichend mit Lebensrettern versehen, und diese wurden nun vermittelst der Taue von den Schiffbrüchigen herbeigezogen. Mit einem solchen Lebensretter um den Leib sprang zuerst der Schiffsjunge in das Meer und wurde zu dem Boote gezogen. Ihm folgten dann die Matrosen meistens zu Zwei und Zwei, bis endlich der Capitain zuletzt den Sprung in die Fluthen machte, nachdem er noch zuvor die Luken hatte öffnen lassen, um dem Wasser das Eindringen in das Schiff zu erleichtern und so das Sinken der Barke zu beschleunigen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 621. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_621.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)