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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

denn man darf allerdings nicht vergessen, daß wir hier an der Küste in unmittelbarer Nähe der „großen Tasse“ sind, wie der Capitän des „Neptun“ sich ausdrückt.

In der darauf folgenden Nacht hatte ich die wildesten Träume. Ich sah mich auf dem Füllungsplatze und die Menge empfing mich mit Gelächter. Dann wieder trieb mich der Sturm hoch über den Wolken hin, unter mir brauste die See, der Ballon schwankt, sinkt, stürzt, die Wasser schlagen über mir zusammen; verzweifelnd ringe ich um’s Leben, da faßt mich ein kräftiger Arm und …

„Sie müssen aufstehen, mein Herr,“ ruft mir eine Stimme zu, „es ist halb sechs Uhr. Sie haben mir befohlen, Sie nicht länger schlafen zu lassen.“

In der That, ich träume nicht mehr. Vor mir steht der diensteifrige Hôtelkellner, der mich zur Wirklichkeit zurückruft. Ich kleide mich eiligst an und begebe mich nach dem Exercirplatze. Duruof und sein Gehülfe Barret sind bereits da. Der Ballon liegt träge und kläglich an der Erde und der Regen ergießt sich in Strömen. Einen Augenblick faßt mich zwar nicht Reue, aber Sorge und Zweifel an der Möglichkeit einer Aufsteigung.

„Glauben Sie,“ frage ich Duruof, „daß es gelingen kann, bei solchem Wetter den Ballon zu füllen?“

Der Capitän des Neptun blickt mich fest, ja strenge an. „Ich sehe,“ antwortet er ruhig, „daß Sie mich nicht kennen. Ich habe auf eben diesem Platze schon einmal Unglück gehabt; der Wind wehte allzustark, um aufzusteigen. Heute aber werde ich mir von meinen Verleumdern Genugthuung verschaffen; denn der Regen kann keinen Luftschiffer hindern. Seien Sie unbesorgt, wir werden unsere Fahrt machen.“

Unterdessen wird die Gasröhre in den Hals des Neptun geführt und nach einiger Zeit beginnt der Kopf des Ballons sich von der Erde emporzuheben. Das Netzwerk spannt sich aus, die Ballastsäcke werden herbeigeschafft. Dann und wann geht ein Neugieriger vorüber, andere kommen hinzu, man bleibt stehen, und das ungläubige Lächeln weicht sehr bald einer fast wohlwollenden Aufmerksamkeit. Als gegen Mittag der Regen aufhört, beherrscht der Ballon majestätisch den ganzen Platz. Alles ist lebhaft erregt bis auf das alte Guisenstandbild dort, das mit eherner Ruhe dem wundersamen Treiben zuschaut.

Jetzt bindet Duruof die Gondel an die Stricke des Tragreifens, während mehrere Gruppen von Soldaten die Kabel halten. Aber bald hebt sie der Neptun vom Boden empor, daß sie wie Weintrauben in der Luft hängen und in jedem Augenblicke befürchten, der ungestüme Renner werde mit ihnen durchgehen. Mittlerweile tritt ein Engländer heran, prüft den Stoff des Ballons mit peinlicher Sorgfalt, befühlt die Stricke der Gondel, untersucht den ganzen Apparat. Was will dieser Mann? Eine bange Ahnung steigt in mir auf. Wenn der Engländer dem Luftschiffer eine ansehnliche Summe bietet, so wird dieser ihn an meiner Statt mitnehmen; denn meine Börse kann sich höchst wahrscheinlich mit der des Briten bei Weitem nicht messen.

Ein Freund nähert sich mir. „Du scheinst unruhig zu sein,“ sagt er. „Hast Du Furcht?“

„Ja,“ antwortete ich, „ich fürchte sehr – dableiben zu müssen.“

Ein Versuchsballon wird losgelassen und Aller Augen folgen ihm. Er bleibt eine Weile an der Kuppel des Stadthausthurms hängen, steigt dann wieder und nimmt die Richtung nach der Nordsee. Ich sehe Duruof an. Er ist ruhig und entschlossen. Aber der Engländer – wo ist er geblieben? Er hatte ohne Zweifel keine Lust, eine Niederfahrt in’s Meer zu machen, und ward nicht mehr gesehen.

Um vier Uhr steigen Duruof, Barret und ich in die Gondel. Das „vortreffliche Musikcorps“, von welchem der Anschlagzettel spricht, läßt seine Accorde hören und Duruof commandirt: „Los!“ Einen Augenblick später schweben wir, von dem Jubelrufe der Menge begleitet, in die Luft empor. Welche Wonne für den Neuling, wenn ihn nun die Winde weich und willig wiegen! wenn die Erde unter ihm entschwindet, wenn der Horizont sich in’s Unendliche dehnt, wenn sein Blick den Himmel und das Meer zugleich umspannt! Fern aus dem Schooße der See steigt es gährend auf; Wolke auf Wolke folgt, wie in einer Geisterprocession; aber als reiße uns eine unsichtbare Macht empor, haben wir rasch die Zone der Dünste durchschnitten und sehen aus einer Höhe von zwölfhundert Meter das Meer sich unter unserer Gondel ausbreiten. Duruof blickt unverwandt auf den Compaß. „Wir haben die Richtung nach England!“ ruft er.

Leider aber ist unsere Freude von kurzer Dauer. Denn bald müssen wir uns überzeugen, daß der Wind uns in nordöstlicher Richtung, das heißt nach der Nordsee treibt. Ich sehe Duruof an, der in tiefen Gedanken steht.

„Was werden wir thun?“ fragt er mich nach einer Weile sichtlich erregt.

„Ich habe Ihnen schon erklärt, daß ich Ihnen überall hin folgen werde,“ antwortete ich ruhig.

„Wohlan! Möge kommen, was da wolle, man soll wenigstens in Calais nicht mehr sagen, daß ich ein Feigling sei.“

Ich mußte an Deschamps denken, von dem man mir erzählte, und der eben hier, in Calais, ein so schreckliches Ende nahm. In einer ähnlichen Lage wie wir, hatte er, um nicht in das Meer verschlagen zu werden, das Ventil geöffnet und war auf die Klippen der Küste herabgestürzt. Aber hinweg mit diesen Gedanken! Auch der Luftschiffer muß, wie der Seemann, an sein gutes Glück glauben. Und hat er nicht in der That lange Stunden vor sich? und kann der Wind sich nicht jeden Augenblick ändern? Audaces fortuna juvat. Uebrigens nimmt die Pracht des Panoramas, welches sich vor uns aufrollt, bald alle unsere Sinne gefangen, und jede Besorgniß ist verschwunden. Werden wir uns doch kaum der Schnelligkeit bewußt, mit welcher wir dem Meere entgegenfliegen! Zu unserer Linken haben wir Calais. Die alte trotzige Stadt sieht wie ein kleines Modell auf einem liliputischen Gestade aus; die Quais, die Hafendämme sind bloße Linien geworden, und ein Gewimmel mikroskopischer Punkte verräth uns, daß die Blicke der Zuschauer uns noch immer begleiten. Zu unsern Füßen dehnt sich das Meer durchsichtig und im Strahl der Sonne grüngolden leuchtend, wie ein Smaragd.

Diese ganze Scene aber wird durch unzählige Wölkchen und Wolken begrenzt, die anscheinend auf einer ebenen Fläche hingleiten und, von der einen Seite des Horizonts aufsteigend, sich auf der andern wieder zerstreuen. Doch auch über uns beginnt das luftige Spiel der Dünste. Einzelne violett angehauchte Massen schweben langsam dahin, und wieder andere stehen unbewegt, wie verloren in der unendlichen Höhe. Denn obschon wir selbst uns bis zu achtzehnhundert Meter erhoben haben, ist der Raum, der uns von ihnen trennt, sicherlich ein weit größerer. Das Thermometer zeigt fünfzehn Grad Celsius, und wir fühlen uns höchst behaglich in unserer Gondel, die so sanft und doch so schnell durch dieses stille Wolkenland zieht.

Noch bin ich ganz in das immer neu sich gestaltende Schauspiel versunken, als eine unerwartete Erscheinung uns auf das Lebhafteste erregt. Wir suchen den Strand von Dover; denn er muß uns nahe genug sein. Aber ein Vorhang bleifarbener Dünste entzieht uns die wohlbekannten schimmernden Linien der englischen Küste. Die ganze nordwestliche Seite des Horizonts liegt vor uns wie ein dämmergraues Chaos. Ich wende den Blick nach oben, um die Grenze dieser Wolkenwand zu suchen, und wie groß ist mein Erstaunen, als ich gerade über mir eine weitgedehnte grünliche Dunstschicht, gleichsam einen himmlischen See gewahre! Nicht lange, so scheint ein kleiner Punkt sich auf dieser Fläche zu bewegen. Es ist ein Schiff, so groß wie eine Nußschale, und als ich meine Blicke fester darauf hefte, erkenne ich, daß es umgekehrt auf diesem umgekehrten Oceane schwimmt. Die Masten sind abwärts, der Kiel ist aufwärts gerichtet.

Einen Augenblick später sehe ich das Spiegelbild des Postdampfers, welcher von Calais nach England steuert, und mit meinem Fernrohre entdecke ich selbst den Rauch seines Schlots. Immer neue Barken und Schiffe erscheinen, und ich weiß zuletzt kaum, was schöner ist – ob das Meer dort unten, oder sein magischer Wiederschein hier oben.

Der Hafendamm von Calais ist jetzt nicht größer als ein Zündhölzchen, doch erkenne ich noch immer die hier und am Strande versammelten Zuschauermassen, und ich erinnere mich, daß unter ihnen befreundete und liebe Menschen sind, welche mit besorgten Blicken unsere Spur verfolgen. Ohne Zweifel, die Richtung des Ballons kann unser Verderben werden. Dort taucht der Leuchtthurm von Gravelingen auf; Dünkirchen wird sichtbar; wir schwimmen bereits über der Nordsee, und ich sage mir, daß wir, unsere Gondel und unser Ballon nichts weiter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_618.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)