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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 37.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


Karl Brandow ließ, während er im Schritt den holperigen Waldweg entlang ritt, die Zügel auf den Hals des Pferdes gleiten und nahm einen Brief aus der Tasche, welchen er vorgefunden, als er vor einer halben Stunde nach Hause kam:

„Werther Herr und Freund! Ich beeile mich, Ihnen mitzutheilen, daß, wie ich vorausgesehen und Ihnen vorausgesagt, gestern von dem Curatorium einstimmig beschlossen worden, den Termin auf keinen Fall abermals hinauszuschieben, im Gegentheil, Sie bei Ihrem mündlich und schriftlich abgegebenen Versprechen zu halten und die Zehntausend auf einmal an dem Verfalltage von Ihnen einzufordern. Es thut mir herzlich leid, nach den Confidenzen, die Sie mir gemacht, Ihnen das schreiben zu müssen; aber ich nehme mit Sicherheit an, daß Sie – erregbar wie Sie sind – Ihre Lage verzweifelter angesehen haben, als sie in Wirklichkeit ist. Auf alle Fälle, meine ich, ist es besser, Sie wissen, woran Sie sind, und können die acht Tage, welche Ihnen noch bleiben, dazu benutzen, neue Quellen zu entdecken, wenn die alten wirklich ganz und gar versiecht sein sollten.

Ich spreche, da ich zu der Zeit so wie so noch auf einige andere unserer Güter muß, am Fünfzehnten bei Ihnen vor, und kann, wenn es Ihnen recht ist, das Geld mitnehmen und Ihnen die Reise hierher ersparen. Vielleicht begleitet mich meine Frau, die sich sehr darauf freut, Dollan, von dessen romantischer Lage ich ihr so viel vorgeschwärmt habe, kennen zu lernen und ihre Freundinnen – Frau Wollnow in Prora und Ihre Frau Gemahlin – nach Jahren einmal wiederzusehen. Bedarf es noch eines stärkeren Beweises meiner Ueberzeugung, daß Sie der Mann sind, den Boten von seiner Botschaft zu trennen, und daß ich mich nennen darf wie immer Ihren und Ihrer liebenswürdigen Frau Gemahlin aufrichtig ergebenen

Bernhard Sellien.

P. S. Soeben erfahre ich etwas, was mich sehr interessirt und Sie vielleicht auch interessiren wird. Gotthold Weber, der ausgezeichnete Landschafter, dessen Bekanntschaft ich vor zwei Jahren in Italien machte, und mit dem Sie, wie Sie mir später gelegentlich einmal mittheilten, von der Schule her so befreundet sind, ist heute durch Sundin gekommen, um nach Prora zu gehen und sich dort und in der Umgegend längere Zeit aufzuhalten. Ohne Zweifel wird er Sie aufsuchen, oder vielleicht suchen Sie ihn auf. Er gehört zu den Leuten, die man gern findet, auch wenn man ihrethalben einen Umweg machen muß.“

Karl Brandow lachte höhnisch, indem er den Brief in die Tasche steckte und wieder nach dem Zügel griff.

„Ich glaube, der Teufel hat dabei sein Spiel. Seitdem ich weiß, daß der Mensch hierher kommen wird, verfolgt mich der Gedanke, daß er, just er, mich retten kann. Weshalb? vormeintlich, weil nur ein Narr sich dieser Mühe unterziehen würde, und er der größte ist, den ich je gekannt habe. Und während ich ihm heute Morgen an der Nase vorbeifahre, beeilt sich alle Welt, mir auf die Spur zu helfen, die er so sorgfältig vor mir zu verbergen sucht. Es war ja klar, daß der Mensch, der Jochen, heute Morgen und jetzt nicht sagen durfte, wo er war; aber – er gehört zu den Leuten, um deren willen man gern einen Umweg macht. Und welche reizende Ueberraschung es für sie sein wird, wenn ich ihn ihr bringe!“

Und abermals lachte der Reiter, aber es klang noch bitterer als das erste Mal, und er brach noch schneller ab, um die Unterlippe zwischen die Zähne zu klemmen, während er mit der Reitpeitsche auf ein paar allzuweit in den Weg vorspringende Zweige hieb.

„Wie sie blaß wurde, als der Pfaff’ mit der Nachricht herausplatzte! Sie wollte sich natürlich nichts merken lassen, natürlich! Nur schade, daß man doch Alles merkt, wenn man neun oder zehn Jahre lang das Vergnügen des täglichen Beisammenseins genossen hat! Und wie sie dreinschaute, als ich hernach so schnell aufbrach, als wisse sie, um was es sich handle! und wie stumm sie unterwegs war, trotzdem ich meine ganze Liebenswürdigkeit aufbot! Sie glaubt nicht mehr an meine Liebenswürdigkeit, ich auch nicht; aber ich habe sie so oft mit dem Menschen geärgert, da kann ich ihr ja auch einmal eine Freude mit ihm machen. Und wenn der blöde Schäfer, wie wohl möglich, mehr um ihretwillen als meinetwillen Versteckens spielt – nun, desto leichter wird man ihn an der Nase führen können, desto lustiger wird die Geschichte. Aber freilich, bevor ich meinen Musjö zappeln lassen kann, müßte ich ihn haben. Nun, wir werden ja gleich sehen.“

Und Karl Brandow schwang sich aus dem Sattel, befestigte den Zügel des Pferdes an einen Baumast und begann den schmalen Fußsteig durch den Wald nach dem Hünengrabe hinaufzusteigen.



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