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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Meine Kindheit.


Von Gottfried Kinkel.


(Geschrieben Winter 1849–50 im Gefängniß zu Naugardt.)


IV.


Wo aber dieser Grundzug einer braven Natur vorhanden ist, da braucht man Prügel am allerwenigsten. Und doch bekam ich Prügel, ja, das Allerübelste dabei war, daß man uns wegen Vergehen züchtigte, die blos Vergeßlichkeit ober Uebereilung, ja, die manchmal gar keine Vergehen waren; denn leider züchtigen Eltern in der Regel nur das an den Kindern, was sie selber verschuldet haben. Gerade die Fälle, in denen ich ungerechter Weise geschlagen worden bin, haben sich mit ätzender Schärfe in meine Seele gegraben, und ich vermag trotz all dem harten Unrecht, das seitdem dem Jüngling und Manne widerfahren ist, jene kindischen Erinnerungen nicht los zu werden. So sagte ich einmal beim Schreibunterricht: „Mutter, thun Sie dies oder das, oder ich geb’ Ihnen eine Ohrfeig’.“ Das war ein unschickliches Wort und verdiente einen Verweis, aber ich hatte es im höchsten Spaß gesprochen, und wie oft sind meine Kinder, wenn ich ihnen bange machte, oder sie sonst neckte, lachend an mich herangesprungen, um mir einen Liebesschlag zu geben! Meine Mutter aber war so schwach, dieses dem Vater anzutragen, der mich denn sehr heftig und zornmüthig mit einem Knotenseilchen durchhieb.

Ein anderes Mal hatte der Vater selbst mich mit einer Pfeife zum Drechsler geschickt, der ziemlich entfernt im Dorfe wohnte. Ich betrat dessen Werkstätte zum ersten Mal, und da ich an allem Handwerkerwesen große Freude habe, erstaunte ich mich auf’s Höchste über die Schnelligkeit, mit der die raschlaufende Maschine die kleine Reparatur an der Pfeife vollendete. Da Niemand mir geboten hatte, ohne Verzug heimzukehren, so blieb ich da und sah dem Manne auch bei seiner ferneren Arbeit zu. Ich konnte gar nicht satt werden, mich über die blitzschnell sich rundenden Holzstücke und die lustig fortspringenden Spähne zu freuen, und so mochten wohl ein paar Stunden verflossen sein, als endlich der Drechsler selbst mich heimschickte; denn meine Eltern, meinte er, möchten Sorgen um mich haben. Er schnitt mir sodann noch von seinem Weinspalier eine große weiße Traube ab, und seelenvergnügt ging ich schmausend und über die große Drehbank nachsinnend die Zippergasse hinauf, dem Pfarrhause zu. Da kam mir ein Nachbarskind entgegen und sagte: „Wart’ Du, Dir wird’s schön gehen; Dein Vater und Deine Mutter meinen, Du wärst todt, und suchen Dich im ganzen Dorf.“ Und so war’s. Der Vater hatte den Auftrag ganz vergessen, den er selbst mir gegeben, und da ich nie aus den vier Mauern des Pfarrgebiets hinaus durfte, hatten sie schon im Brunnen nach mir gefischt, in allen Regensenken nachgesehen und zuletzt auf der Straße Nachforschungen angestellt. Das halbe Dorf lief an der Linde zusammen, weil Pastors Gottfried verloren gegangen war, und als ich nun mit meiner Traube wie ein Hühnerdieb die Gasse heraufschlich, schlug bei meiner Mutter die ausgestandene Todesangst in jähen Zorn um, und sie züchtigte den unschuldigen Knaben öffentlich vor den Augen des ganzen Dorfes. Dürfte man sich wundern, wenn durch diesen Einen herben Mißgriff mein Ehrgefühl eine unheilbare Wunde erhalten hätte? Uebrigens hat die Mutter gewiß bald ihre Hitze bereut, denn später schützte sie mich gegen den Vater.

Eines Tages war Besuch von einer befreundeten Familie da, und ich hatte mit einem der Kinder, einem wilden Mädchen, fröhlich gespielt. Als sie abfuhren, jagte ich durch den Garten und schwang mich auf die Mauer, um Alwinen noch einen Gruß zuzurufen. Ich hörte, daß der Wagen schnell fuhr, lief also, um nicht zu spät zu kommen, in der Hast über ein neu angelegtes Spargelbeet, und das war durch die peinliche Ordnungsliebe meines Vaters streng verpönt. Er sah vom Söller aus meinen Gartenfrevel, schoß eilig die Treppen herab, ergriff mich und schleppte mich zu einer ungebührlich strengen Execution in’s Haus. Da trat meine Mutter dazwischen; man entfernte mich rasch in ein anderes Zimmer, und es muß eine überaus heftige Scene zwischen den Eltern gegeben haben, während ich armer Schelm glaubte, daß die Mutter wegen der Größe meines Verbrechens in Nervenzufälle gerathen sei. Dieser Tag einsamen Arrestes ist mir durch Angst um die Mutter und durch Gewissensqual so schauerlich gewesen, daß ich sogar den Jahrestag behalten habe: es war der fünfte März. Von da an habe ich denn, wenn ich nicht sehr irre, nie wieder einen Schlag bekommen. Auch meine späteren Lehrer, was ich hier sogleich beifügen will, sind stets durch Worte mit mir fertig geworden, und meine Natur ist so gesetzlich angelegt, daß man mich während sechs Gymnasialjahren kein einziges Mal durch Züchtigung oder Einsperrung auf den besseren Weg hat bringen müssen, so wie ich auch in fünfjährigem Universitätsleben niemals vor den Senat oder Universitätsrichter citirt oder mit irgend einer Carcerstrafe belegt worden bin.

Man wird aus dem Vorstehenden wohl ersehen, daß die moralische Seite meiner Erziehung nicht zu gelind gewesen ist. Besonders trüb wurde mir die Kindheit dadurch, daß die Bestrafung gar oft eine ungleiche war. Kleine Fehler zogen mir vom Vater schon sehr heftige Vorwürfe zu, und die Mutter drückte mein Gewissen fast noch härter durch ihre tiefen Seufzer und Thränen bei jeder Lebensäußerung, die ihr nicht gottselig erschien. Man hatte in unserm Hause als Kind stets das Gefühl, als schwebe ein Donnerwetter in der Luft, das ohne alles eigene Zuthun Einem plötzlich über dem Kopfe losbrechen könne, und das ist keine gute Atmosphäre, um ein kindlich Gemüth friedlich und glücklich zu machen. Doch leider sind für die meisten Eltern ihre Kinder nur dafür da, um nach Laune bald ihre Zärtlichkeit und bald ihren Verdruß an ihnen auszulassen, und ich halte es deshalb bei den meisten Menschen für eine grobe Selbsttäuschung, wenn sie die Kinderjahre für die glücklichste Zeit ihres Lebens ausgeben. Bei mir wenigstens liegen sie in trübem Nebel, und erst mit der steigenden inneren Freiheit, Klarheit und Reife ist auch meine Empfindung von Glück Tag um Tag gewachsen bis in’s Mannesalter.

Nun aber sorgte der Zufall, der so oft bei menschlichem Irrthum als rettender Engel eintritt, auch zur guten Stunde dafür, daß mein nach Weltverständniß und Schönheit schmachtender Geist nicht ohne alle Labung bliebe. Um im Lateinschreiben vorwärts zu schreiten, bedurfte ich eines neuen Uebungsbuches, und so wurde eine Bearbeitung der römischen Geschichte, ich glaube von Döring, angeschafft, welche großentheils aus den classischen Schriftstellern selbst gezogen war. Sobald dies Werk in meine Hände fiel, galt es mir nicht als lateinisches Schulbuch, sondern sein Inhalt war es, der mich ergriff. Zum ersten Mal grüßte mich aus dieser Compilation Klios göttliches Antlitz, zum ersten Mal las ich bei dem Küchenfeuer des Mägdestübchens Geschichte, menschliche, wirkliche, nicht von Pfaffen und Rabbinern zurechtgeschnittene Geschichte.

Mein Geist, dem das kleine Palästina längst zu enge geworden, that einen tiefen, wonnigen Athemzug im freien Luftstrom der unermeßlichen römischen Weltherrschaft, und ohne abzusetzen, ließ ich die Bilder jenes großen Volkslebens vom Königthum bis zum zweiten Untergang der Monarchie an mir vorbeirollen. Dem folgte bald ein noch höherer Reiz. Ich entdeckte in der kleinen Bibliothek unserer Dorfschule Kohlrausch’s deutsche Geschichte und wußte sie mir zu verschaffen. Der dritte Band enthält die Befreiungskriege und ist ungefähr in dem Tone geschrieben, wie etwa in diesem Augenblick (1850) ein österreichischer Schulmeister den ungarischen Revolutionskrieg schildern würde: auf französischer Seite der Teufel, auf deutscher Sanct Michael mit allen erwählten Engeln und Erzengeln. In ähnlichem Geiste war denn auch die Vorzeit unseres Volkes behandelt; die deutschen Kaiser hatten immer Recht, die Päpste unbedingt Unrecht. Allein diese entschiedene Parteinahme sprach den Geist des Knaben mächtig an. In unserm Hause galt ohnehin die französische Revolution für das scheußlichste Blatt der ganzen Weltgeschichte; Napoleon wurde nur insofern anerkannt, als er der Republik ein Ende gemacht hatte, sonst aber als Tyrann und Feind Gottes verabscheut. Franzosenhaß ging am rechten Rheinufer überhaupt bei den Bewohnern durch, weil hier nicht, wie jenseits, die Krieger der Republik und des Kaiserreichs als Freunde, sondern als in Feindesland gekommen waren, und ich habe an dieser Restaurationskrankheit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_520.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)