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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

wenigstens nicht der Moment; ich habe nie in Deinem Sinne verstanden, was hier geschrieben ist: ‚Selig sind, die in dem Herrn sterben.‘ Wir waren nie Eines, waren längst geschieden, bevor wir uns trennten. Nun denn, Vater, laß uns nun wenigstens Frieden haben. Ich gönnte Dir ja von ganzem Herzen die Seligkeit, an die Du geglaubt; und sage ich: ‚selig sind die – Todten‘, so hast Du ganz gewiß die Seligkeit, an die ich glaube.“

Gotthold machte eine Bewegung, wie Jemand, der einem Andern die Hand reicht. „Laß uns nun Frieden haben,“ sagte er noch einmal.

Ein Vögelchen, das sich für einen Moment in eines der Luftlöcher oben in dem Fenster gesetzt, zwitscherte so laut, daß der liebliche frische Ton den ganzen stillen Raum erfüllte.

„Ich will es als Antwort nehmen,“ sagte Gotthold.

Er verließ leisen Schritts, wie er eingetreten war, die Kirche und ging den breiteren Pfad des Friedhofes hinab, bis wo sich an dem großen eisernen Kreuz, welches abermals die Inschrift trug: „Selig sind, die in dem Herrn sterben“, ein Pfad abzweigte, der bis an die Mauer führte. Es hatte sich in diesem älteren Theil des Kirchhofs kaum etwas verändert; er kannte noch jeden einzelnen Grabhügel und jedes Kreuz und jeden Stein und jede Inschrift; und da war es ja, welches er suchte – das Grab mit dem niedrigen Holzgitter, der verkrüppelten kleinen Trauerweide, dem schiefstehenden kleinen Kreuz – vernachlässigt wie immer, oder noch ein wenig vernachlässigter – das Grab seiner Mutter.

Er hatte sie so früh verloren, als er vier oder fünf Jahre alt war. Es war ihm kaum der flüchtigste Schatten einer persönlichen Erinnerung an sie geblieben; er hatte nie ein Bild von ihr gesehen; sein Vater hatte nur einmal ihrer erwähnt, als er im Zorn zu ihm sagte: „Du bist wie Deine Mutter.“ Dennoch, und vielleicht gerade deshalb, hatte sich seine Phantasie viel mit der todten Mutter beschäftigt, die so gewesen sein sollte wie er und die ihn gewiß geliebt haben würde, wie er ihren theuren Schatten liebte, bis dieser Schatten beinahe eine Gestalt annahm. Eine liebe, traumhafte Gestalt, die da kam, ungerufen und unrufbar, und schwand, wo er sie so gern länger gehalten hätte.

Er hatte ein paar Blätter von der Weide gepflückt; aber er streute sie alsbald wieder auf das Grab.

„Dessen bedarf es nicht zwischen mir und Dir,“ sagte er; „wir verstehen uns ohne Zeichen, und es soll auch so bleiben, wie es ist, soll verfallen, still, allmählich, wie die Herrscherin Zeit es will. Wem käme auch der prächtigste Marmor, den ich Dir von Thorwalden’s Meisterhand herrichten ließe, zu gute! Nicht Dir – was frägt man in Nirwana nach solchem Erdentand! – nicht mir. Ich werde nie wieder an diesem Platze stehen, und für die Anderen würde der Stein eben nur ein Stein sein. Nein, es ist besser so; das stimmt auch zu dem Orte.“

Er blickte auf, und sein Künstlerauge schweifte von den Grabstätten, über deren langes im lauen Abendwinde nickendes Gras die scheidende Sonne hier und da röthliche Lichter streute, zu dem alten Kirchlein, dessen plumper viereckiger Thurm noch im Purpurlicht glühte, während die Hauptmasse schon in tiefem Schatten lag.

„Zu dem Orte und zu der Stunde,“ sagte Gotthold; „es gäbe ein schönes Bild; aber ich werde mich hüten, es zu malen. Ich malte es dann aus meiner Seele heraus, und da will ich es ja eben festhalten.“

Er schloß für einen Moment die Augen und schaute, als er sie öffnete, nicht wieder empor, während er langsam, die Hände auf dem Rücken, durch die engen Pfade nach dem Ausgange schritt. Plötzlich blieb er stehen; die Hände streckten sich unwillkürlich aus und hinab zu ein paar kleinen Gräbern, die hart am Pfade lagen und deren Inschriften im Vorübergehen sein Blick gestreift hatte: „Cäcilie Brandow“, „Karoline Brandow“. Es standen auch die Tage der Geburt und des Todes der Kinder da – winzig gemessene Fristen beide Male, so winzig wie die Gräberchen.

Es durchschauerte ihn seltsam. Er hatte gedacht, daß dies vorüber sei und ausgelöscht aus seinem Leben und daß er die Reise zu seinem sterbenden Vater, aus welcher jetzt eine Wallfahrt zu den Gräbern seiner Eltern geworden war, machen könne, ohne durch die Nähe der Geliebten seiner Jugend gestört zu werden. Ja, er hatte vorhin, als er aus der Kirchenthür trat, von dem erhöhten Platze aus über die Landschaft weg nach dem Park von Dahlitz geblickt, aus dessen dunklen Baumgruppen ein Stück von dem Giebel des Herrenhauses weiß herüberschimmerte, und die Vergangenheit war stumm geblieben. Jetzt fluthete sie über ihn herein wie ein Strom, dessen Schleußen plötzlich geöffnet sind. Ihre Kinder – und sie selbst war ja damals noch ein halbes Kind! ihre Kinder! und das eine, das älteste, hatte ihren Namen gehabt – den Namen, der ihm von jenen Tagen her für immer einen eigenen, geheimnißvollen heiligen Klang behalten, so daß er ihn niemals ohne einen frommen Schauder hören, ja auch nur lesen konnte: Cäcilie! – Ihre Kinder! seltsam! unbegreiflich seltsam! so unbegreiflich wie der Tod, dem sie so früh verfallen waren! Und sie hatte an diesen Gräbern geweint und gekniet, und neben ihr hatte der Mann gestanden, dessen Name ja auch hier in Goldschrift auf die Tafeln geschrieben und dessen Vorname selbst in dem Namen des jüngern Kindes zu seinem Vaterrecht gekommen war: Karl Brandow! Ob auch er wohl Thränen für seine Kinder gehabt? Es war eine unmögliche Aufgabe, sich Karl Brandow’s scharfes hartes Gesicht in Thränen zu denken.

Und wie jetzt vor Gotthold’s Phantasie das Gesicht seines Feindes – des einzigen, den er je gehabt – in fast greifbarer Deutlichkeit auftauchte, zuckte es heiß hinauf und hinab an der tiefen Narbe, die, noch unter dem Haar beginnend, über die rechte Schläfe am Ohr vorbei über die ganze Wange bis in den dunklen Vollbart schnitt und um deren willen die Küsterfrau, eingedenk des Wortes, daß man sich vor dem Gezeichneten hüten müsse, den stattlichen Fremden so ungern allein in die Kirche gelassen hatte. Wollte die Wunde wieder anfangen zu bluten? die Wunde, die ihm jenes Mannes Hand geschlagen, als sie Beide noch auf der Schulbank saßen? Wäre es ein Wunder gewesen in diesem Augenblicke, wo sein Herz so krampfhaft zuckte, als wollte es sagen: die Wunde, die man mir geschlagen, ist ein paar Jahre jünger und sehr viel frischer und tiefer, und Du siehst jetzt, daß sie nicht geheilt ist, wie Du geglaubt hast, und daß sie nimmer heilen wird.

„Nimmer!“ sagte Gotthold, „nimmer! nun dann! so will ich wenigstens nicht daran rühren. Und – die holden Kinder, sie wenigstens tragen keine Schuld, wenn überall hier von Schuld die Rede sein kann. Ich wollte, ich könnte sie Dir wieder zum Leben erwecken, arme Cäcilie! und möge Dir der Himmel die behüten, die er Dir hoffentlich nach diesen geschenkt hat!“

Eine schwarzgekleidete Gestalt mit niedrigem breitkrempigen Hute und weißem Halstuche näherte sich von der Seite des Pfarrhauses dem Friedhofe. Ohne Zweifel war es seines Vaters Nachfolger, der neue Pastor, der früher, als die Küsterfrau angegeben, von seiner Schulinspection zurückgekehrt war und den Fremden, welcher nach ihm gefragt und sich dann die Kirche hatte aufschließen lassen, zu suchen kam. Gotthold wäre jetzt in seiner tief erregten Stimmung gern dieser Begegnung ausgewichen; aber der geistliche Herr schien ihn bereits gesehen zu haben, denn er beschleunigte seine Schritte und streckte, als nun auch Gotthold ihm entgegenging, noch in größerer Entfernung beide Hände aus, rufend: „Müssen wir uns unter so traurigen Verhältnissen wiedersehen?“

Gotthold blickte dem Manne, der jetzt vor ihm stand, und ihm die Hände drückte und preßte, verwundert in das bartlose, aufgedunsene, weiße Gesicht und in die wasserblauen Augen, die – Gotthold wußte nicht, ob vor Rührung oder weil die Abendsonne gerade hinein schien – krampfhaft zwinkerten.

„Aber kennst Du mich denn nicht mehr, lieber Bruder?“ fragte der geistliche Herr, „hat man Dir denn meinen Namen nicht genannt? August Semmel –“

„Genannt Kloß,“ sagte Gotthold, unwillkürlich lächelnd. „Ich bitte um Verzeihung; ich hatte wirklich vorhin auf den Namen nicht gehört, und dann, ich habe Dich zuletzt nie anders als in Koller und Kanonen, die Cereviskappe schief auf dem Kopf und das Gesicht bis an die Augen in struppigem Bart gesehen; das ist eine gar vortreffliche Maske.“

Pastor Semmel ließ Gotthold’s Hand fahren und machte eine schnelle Wendung, die ihm den Vortheil des Schattens gewährte.

„Eine Maske,“ sagte er mit frommem Augenaufschlag; „ja wohl! und wie ich jetzt darüber denke, eine recht eitle, um nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 496. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_496.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)