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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Gottesacker in Mailand. Sehr verdienstlich ist auch sein Stadterweiterungsplan für Gotha. –

Bohnstedt’s gestaltendes Erfindungsvermögen ist in der That außerordentlicher Art, so daß er nur einer beliebigen Aufgabe zu bedürfen scheint, um seiner Phantasie immer neue Schätze zu entheben. Und nicht minder virtuos ist die Gewandtheit und Eleganz seiner Darstellung. Durch diese glückliche Begabung ist er wie von der Natur selbst auf die Betheiligung an öffentlichen Preisbewerbungen hingewiesen, die man geradezu seine Specialität nennen könnte. Zu der Münchener internationalen Kunstausstellung im Jahre 1869 hatte er nicht weniger als zwölf große Bände voll Entwürfe eingesandt, welche dort großes und verdientes Aufsehen erregten. Ein hervorragendes Fachblatt, die „Deutsche Bauzeitung“, vindicirte schon damals Bohnstedt eine ganz besondere Bedeutung unter den Architekten Deutschlands und machte auf das Würdigste auf ihn aufmerksam. Um so erfreulicher ist es, daß dieses Urtheil durch den großen nationalen Sieg des Künstlers in der Baukunst selbst gekrönt worden ist.

Wenden wir uns nun von dem Manne noch zu einer kurzen Betrachtung des gekrönten Entwurfs. Der Urheber selbst vermittelt uns das volle Verständniß seines Gedankens durch eine beigegebene Erläuterung, der wir das Wesentlichste entnehmen.

Die örtliche Lage des Gebäudes, die Räumlichkeiten, welche dasselbe umfassen soll, und zum Theil selbst deren Größenverhältnisse waren in dem Programm so genau und erschöpfend vorgezeichnet, daß der Baumeister nichts weder bei Seite lassen noch hinzuthun konnte. Bohnstedt hat diese Aufgabe mit der Klarheit und Leichtigkeit des erfahrenen Meisters überwunden. Sein Plan trägt im Allgemeinen die Form eines Rechtecks, dessen lange Fronten nach Westen und Osten und dessen kurze Seiten nach Nord und Süd gekehrt sind. Die ersteren sind ferner durch einen Mittelbau verbunden, welcher den inneren Raum in zwei Hälften theilt und so zwei große offene Höfe von länglicher Gestalt entstehen läßt, deren schmale Seiten abgerundet erscheinen. In der Höhenrichtung baut sich das Ganze aus nur drei Geschossen auf. Von diesen bilden Souterrain und Erdgeschoß den Unterbau, welcher nur Nebenräume enthält. Darüber erhebt sich, dominirend und zugleich den Abschluß bildend, das Hauptgeschoß, in welchem alle wichtigen und der eigentlichen Bestimmung des Hauses unmittelbar dienenden Räume vereinigt sind. Den Inhalt dieses Stockwerks hat der Künstler in sechs Gruppen folgendermaßen disponirt.

Die erste Gruppe bildet der große Sitzungssaal des Reichstags[WS 1] von über sechshundert Quadratmeter Grundfläche mit den naturgemäß dazu gehörigen Piècen. Er ist in das geometrische Centrum des Gebäudes, nämlich in den vorhin erwähnten Zwischenbau, welcher die beiden Langseiten verbindet, gelegt. Seine Gestalt ist quadratisch; über ihm wölbt sich eine flache Kuppel, durch die er sein Licht empfängt und welche denselben auch äußerlich sehr schön als den innern Brennpunkt des Ganzen andeutet. Rednertribüne, Präsidium und Sitze für den Bundesrath befinden sich im östlichen Theile, dem Haupteingange gegenüber. Die decorative Ausstattung ist von edler Pracht. Das Blatt, welches diesen überaus imposanten Raum in perspectivischer Ansicht darstellt, darf als ein wahres Cabinetsstück betrachtet werden. Der Saal ist auf allen vier Seiten von Verbindungshallen umgeben. An diese schließen sich südlich das Stenographen-, Correctur- und Journalistenzimmer, nördlich drei Sprechzimmer für die Mitglieder des Reichstags, welche ihr Licht bereits seitwärts aus den beiden Höfen empfangen. Neben denselben an den vier Ecken dieses Complexes führen die Treppen zu den Tribünen auf.

In nächste Verbindung mit dem Sitzungssaal mußten vor Allem die Localitäten gebracht werden, welche für die Organe der Reichsregierung bestimmt sind. Der Entwurf legt dieselben als zweite Gruppe auf die Ostfronte und die südöstliche Ecke, von der ersten Gruppe nur geschieden durch ein geräumiges Vestibül. Die Mitte nimmt der Sitzungssaal des Bundesraths ein, der sich nach Osten auf einen freien Balcon öffnet. Zu beiden Seiten reihen sich die Geschäfts- und Sprechzimmer des Reichskanzlers, des Präsidenten des Reichskanzleramtes, sowie der Mitglieder des Bundesrathes und die Commissionszimmer des letzteren an. Auch einige Nebenzimmer, wie Post- und Telegraphenzimmer, sind zweckmäßig in dieser Abtheilung untergebracht.

Die dritte Gruppe nimmt die Nordfront ein. Hier führt der Reichstag, so zu sagen, sein Privatleben, indem er sich in die Abtheilungen und Fractionen auflöst. Jenen sind sechs kleinere, diesen zwei größere Säle zugewiesen.

Der Erholung ist die vierte Gruppe bestimmt, welche sich, von den Räumen der ersten und dritten gleich bequem zugänglich, in der nördlichen Hälfte der Westfront etablirt. Sie besteht der Hauptsache nach aus drei Erholungszimmern, einem Leseraum, aus dem eine Treppe direct in die im Erdgeschoß liegende Bibliothek führt, und einem großen Restaurationssaale. Aus diesem tritt man in die einen Hauptschmuck der westlichen Façade bildenden offenen Colonnaden, die sich hier (wie auch an der correspondirenden Stelle der Südhälfte) zu einer prächtigen Doppelhalle vertiefen.

Die fünfte Gruppe ist der Bereich des Präsidenten, welchem hier, seiner ausgezeichneten Stellung gemäß, eine glänzende Häuslichkeit eingerichtet ist. Diese Abtheilung zerfällt ihrer speciellen Bestimmung nach wieder in zwei Hälften, die Wohnräume auf der Südfront und die Repräsentationsräume auf dem südlichen Theile der Westfront. Letztere zeichnen sich durch einen großen Festsaal aus, dessen Lage dem oben erwähnten Restaurationssaale entsprichst. Beiden sind auch nach den Höfen zu geräumige Hallen vorgelegt.

Eine sechste Gruppe bildet endlich das Entrée, um die Mitte der Westseite construirt. Die offene Treppe des später zu erwähnenden Portals führt in einen geschlossenen Vorsaal, auf den links und rechts die Garderoben münden; dahinter das weite luftige Hauptvestibül als Vorhalle des Sitzungssaales, welcher so vom Eingange aus auf dem directesten Wege erreicht wird.

Die vorstehend skizzirte Lösung der Aufgabe in dem so wichtigen Punkte der Raumökonomie, welche sich in dem Grundriß darstellt, erscheint als eine überaus gelungene. Durch die Einfachheit ihres Princips und die Uebersichtlichkeit der Durchführung muß sie auf den schlichtesten Betrachter überzeugend wirken. Aber auch der sachverständige Kritiker, welcher alle Bedingungen auf das Schärfste abwägt, wird hier selbst in Kleinigkeiten kaum etwas auszusetzen und zu verbessern finden. Durch die centrale Lage des Sitzungssaales sind alle übrigen Abtheilungen des weitläufigen Bauwerkes auf den weitaus wichtigsten Raum bezogen. In ihm pulsirt der Herzschlag des Ganzen, von ihm aus strömt das Leben mit gleicher Leichtigkeit nach allen Theilen der Peripherie und von da wieder zurück. In der That ein trefflich ersonnener, gerade durch seine Einfachheit großartiger Organismus!

Und nun zum Aeußeren. Schon bei Berathung des Programms wurde die Stylfrage aufgeworfen und von bekannter Seite der Versuch gemacht, die Bewerber von vorn herein für eine bestimmte Kunstform, die Gothik, zu engagiren. Der Reichstag hat es damals mit richtigem Takte vermieden, dem Künstler in einer so eminenten Frage der innersten Ueberzeugung die Hände zu binden, und dieselbe vielmehr als eine offne behandelt.

So weisen denn die eingegangenen Arbeiten eine bunte Musterkarte von Stylproben auf, unter denen auch die Gothik ihren Platz einnimmt und in den beiden Scott ihre bedeutendsten Vertreter findet. Bei der vorliegenden Gelegenheit hat die Ansicht Derer, welche von Anfang an für ein derartiges Gebäude und speciell für Berlin eine edle Renaissance allein für möglich erklärten, unbedingt triumphirt. Zu dieser hat auch Bohnstedt gegriffen. Gerade daß er, der die vollendete Fähigkeit besitzt mit gleicher Leichtigkeit die verschiedensten Kunstformen zu handhaben, jene Wahl traf, ist ein vollgültiges Zeugniß für ihre Richtigkeit.

Sein bestes Vermögen pflegt der Baumeister bei der Gestaltung und Ausschmückung der Hauptfaçade einzusetzen. Bei der vorliegenden Aufgabe war diese Façade durch die örtliche Lage von selbst auf die westliche Front, mit dem Ausblick auf den breit vorgelagerten Königsplatz angewiesen. Eine besonders glückliche Eingebung hat über unserem Künstler bei der Construction seines Haupteingangs, welcher selbstverständlich hierher zu legen war, gewaltet. Als Portal baut er in der Mitte einen kolossalen Triumphbogen, auf korinthischen Säulen ruhend, auf. Die Abschlußlinie desselben übersteigt um ein Beträchtliches die übrige Fronthöhe des Gebäudes; die Krönung bildet eine Quadriga mit der Siegesgöttin.

So tritt dieses Mittelstück mit energischer Wirkung dem

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Reichtags
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_476.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)