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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

sich nur auf dem religiösen Gebiete entwickeln und nahm hier oft genug eine schwärmerisch poetische Gestalt an.

Die erste Lebensäußerung, in der bei mir die Einbildungskraft hervortrat, war die Furcht. Bevor der Mensch den Grund alles Seins und das Allleben der Natur entdeckt hat, treten ihm aus Wald und Nacht Gebilde seiner eigenen Seele schreckend entgegen. Es ist ein tiefes Wort eines spätlateinischen philosophischen Dichters, daß die ersten Götter in der Welt die Furcht geschaffen habe, denn aus jenem Grundzuge der kindlichen Menschennatur ist alles Heidenthum entstanden, und jeder Einzelne macht in der Kindheit denselben Entwickelungsgang durch. Eben in Folge meiner häufigen Einsamkeit wurde meine Einbildungskraft über alle Begriffe reizbar und mein ganzes Nervenleben fast allzu zart. Meine fromme Unschuld konnte die Verschwendung des Weltgeistes nicht fassen, welche alles Lebendige durch den Tod eines andern Lebendigen ernährt; alles Gestorbene, vorzüglich aber jede gewaltsame Tödtung eines Thieres, war mir entsetzlich. Um ein Lämmchen, mit dem ich als ganz kleiner Junge gespielt hatte und das nun geschlachtet werden sollte, habe ich die jammervollsten Thränen geweint. Der Tag, an welchem wir alljährlich ein Schwein schlachteten, war mir der härteste im ganzen Jahre, und wenn ich in Hof und Baumgarten an einem Häufchen ausgerupfter Federchen den Ort erkannte, wo ein Weih oder Sperber einen Singvogel zerfleischt hatte, litt ich die ganze Todesqual des Thierchens in meiner weichen Seele nach. In den Zeitungsgesprächen zwischen Vater und Großmutter kam sehr oft die Rede auf den griechischen Freiheitskrieg, der damals den ganzen Westen zum Mitgefühl fortriß, und ich duldete dabei unsäglich, wenn die Grausamkeiten der Türken an gefangenen Christen in’s Einzelne besprochen wurden. Am allergrauenvollsten aber war mir eine Unterhaltung, die bei uns einmal viele Winterabende nach dem Nachtessen füllte. Es waren Geschichten von Missionaren, die unter Cannibalen geriethen und von diesen auf unmenschliche Weise getödtet wurden. Vergebens, daß ich, vor Fieberfrost zitternd, die Großmutter bat, mit mir zu Bett zu gehen; die alte Frau und die Anderen alle empfanden bei jenen Erzählungen nur die Spannung des gewöhnlichen Romanlesens und begriffen nichts von der furchtbarem Seelenqual des zarten Kindes; ich aber schämte mich meiner Angst und sagte daher den wahren Grund meiner Bitten nicht. So konnte ich auch den Campe’schen Robinson, der sich in der Bibliothek meines Vaters befand, in der Jugend nicht durchlesen, weil in ihm gleichfalls die karaibische Menschenfresserei eine Grauenscene bildet, und noch heute sind mir die Schauergemälde französischer Romantik herzlich zuwider, welche einen armen Menschen durch alle Aengsten gräuelvoller Martern und gräßlicher Todesarten hindurchhetzen.

Aber auch ohne Anreizung durch fremde Phantasie erschuf die meinige sich Spukgestalten. Das Pfarrhaus war ein altes, zusammengeflicktes Gebäude mit einer Masse von Ausbauten, Ecken und Winkeln. Der Nachfolger meines Vaters hat es abgerissen, obwohl es noch recht wohnlich war, und von collectirtem Gelde ein neues aufgebaut, das er dennoch bald nach der Vollendung mit dem engen Kämmerchen des Grabes vertauschen mußte. Solch ein altes, mit Urväterhausrath vollgestopftes Haus ist nun am hellen Tage für Kinder eine Glückseligkeit, denn überall bietet sich ein Gegenstand der Neugier und ein Eckchen zum Versteckspielen. Allein wenn der Winterabend all’ die dämmerigen Plätzchen mit rabenschwarzer Nacht erfüllte, dann belebte sich mir jeder Winkel mit schreckhaften Bestien und Spukgestalten, und nur mit Herzklopfen schlich ich tappend die gewundene Treppe hinauf. Jede absonderliche Form verwandelte sich mir auch am lichten Tage in ein belebtes Schreckgespenst. So hatte mein Vater auf seiner Studirstube einen Wandschrank mit Papieren, der oben in einen Blumenschnörkel mit zwei Vertiefungen auslief; darüber sah ein Stiefelknecht hervor, welcher jahraus jahrein dort nicht heruntergenommen wurde. Jene Vertiefungen malte sich nun meine Einbildung zu zwei hohlen Augen und die geschwungenen Spitzen des Stiefelknechts zu zwei Hörnern aus, so daß aus dem Ganzen ein erschrecklicher Kopf wurde, der ja leicht einmal auf mich hinunterschießen konnte, wenn ich im Dunkeln die Stube betrat. Nahrung gab dieser Angst der Umstand, daß der Glaube an persönliche Unsterblichkeit, welcher natürlich in einer Pfarrerfamilie unerschütterlich feststand, auch einigen Aberglauben in Bezug auf Geistererscheinungen nach sich zog. Wenn meine Schwester in allem Ernste versicherte, nach dem Tode meiner Großmutter deren Geist im Blumengärtchen erblickt und in einem andern Falle einen sterbenden Bekannten im Augenblick des Verscheidens klopfen gehört zu haben, so war mir einige Gespensterfurcht in der Nacht schon zu verzeihen.

Wollte man nun diesen Seelenzustand Feigheit nennen, so würde mir darin Unrecht geschehen. Wo es galt, einem Wirklichen, Greifbaren zu Leibe zu gehen, da war ich nie ein feiger Junge. Wenn etwa ein Hund sich durch ein Heckenloch in unser Pfarrgebiet gedrängt hatte und die Sicherheit meiner lieben Enten oder Hühner bedrohte, so ergriff ich den ersten besten Prügel, und dann half es ihm nichts, wenn er auch die Zähne wies: er mußte eilfertig durch’s Loch wieder hinaus. Am Niclasabend besuchte uns regelmäßig der heilige Nicolaus und warf Aepfel, Nüsse und Backpflaumen in die Stube, nachdem er zuvor sich erkundigt, ob die Kinder auch brav gewesen seien. Der mit ihm kommende Hans Muff (so nennt man bei uns den Knecht Ruprecht) ließ sich nun eines Abends beifallen, mich mit Prügeln zu bedrohen. Hätte ich einen losen Streich auf meinem Gewissen gehabt, so würde ich sicher meinen Buckel ruhig hingehalten haben; nun aber hatte ich ein reines Gewissen, und Prügel, die ich nicht verdiente, brauchte ich auch nicht zu erdulden. Ich erwischte also einen Stock oder gar ein Stecheisen und ging damit so nachdrücklich auf den Hans Muff ein, daß dieser (es war, glaube ich, unser Dienstmädchen) gerathen fand, sich mit einer allgemeinen Redensart in das dunkle Vorhaus zurückzuziehen und mich ungebläut zu lassen. Dieses habe ich auch im folgenden Leben stets praktisch befunden; Prügel, die ich nicht verdiene, lasse ich mir von Niemandem gutwillig zumessen und bin mit dieser Maxime eine ziemliche Strecke weit ungeprügelt durch die Welt gekommen. Ja selbst die Gespensterfurcht konnte ich schon als kleiner Knabe bezwingen, wenn man mich beim Ehrgefühl anfaßte. So sprachen an einem sehr finstern Abend die Meinigen darüber, ob ich wohl Muth genug besäße, jetzt sofort an einen entfernten Platz des Gartens zu gehen. Ich sagte „Ja“, und man trug mir auf, als Pfand, daß ich dort gewesen, von einem der letzten Beete eine Ranunkel zu holen. Mich schauderte, aber ich ging; in der Küche bat ich das Mädchen noch, sie möchte, bis ich wiederkäme, in der Hinterthür stehen bleiben. Dann schritt ich mit festem Fuße in die Nacht hinaus, brach die Blume und überbrachte sie den wartenden Eltern.

Diese Zagheit vor den Geschöpfen meiner eigenen Einbildung habe ich mir erst abgewöhnt, als meine Phantasie dichterisch zu schaffen anfing und das unbestimmte Grauen zu festen Gestalten verarbeitete. Da wurde es mir im Uebergange vom Jünglings- zum Mannesalter sogar zur hohen Lust, meiner Phantasie in der Einsamkeit alle Zügel abzunehmen und sie wie ein wildes Roß auf weiter Haide sich tummeln zu lassen; auch heute noch beglückt mich solch regelloser innerer Wellenschlag, wenn ich viele Tage, ohne Verkehr mit bekannten Menschen, durch Wald und Flur geschweift bin und der Kuß der Natur sich wieder warm auf die gedankenfreie Stirn drückt. Ich habe etwa im achtzehnten Lebensjahre jene brausende Jagd der losgelassenen Einbildung in ein paar wilden Versen ausgesprochen, die mir noch in der Erinnerung stehen:

Wenn mich ein Traum vom Schlafe weckt,
Glaub’ nicht, daß Angst der stillen
Gewalt’gen schwarzen Nacht mich schreckt –
Schlaflos lieg’ ich mit Willen.

Bis höllenschwarz und himmlisch rein
Die Phantasien schwanken –
Da bin ich mit mir so ganz allein
Und mit den wilden Gedanken!

Die Meinigen merkten wohl, mit welch unbändiger Kraft mein junger Geist die Welt zu umspannen suchte, und meine Mutter erschrak. Als sie einst mit mir in Köln zum Besuche bei meinem dort wohnenden Pathen war, hat sie mir, dem noch ganz kleinen Jungen, die Baugefangenen oder sogenannten Kettenmänner gezeigt und mir gesagt: „Sieh, Kind, das sind große Verbrecher, und dahin könnte auch Dich die Sünde führen.“ Arme Mutter! Du hast nicht geahnt, unter welchen Verhältnissen Dein Liebling zu jenem gefürchteten Loose auf Lebenslänge verurtheilt werden sollte! Auch hat die ahnungsvolle Frau oft ihre Sorgen um meine Zukunft in die Brust meiner Schwester ausgeschüttet und

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