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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

zu den Galeeren verurtheilt worden und nur die Verwesung das Schandmal auf meiner Schulter auszulöschen vermag, seien Sie fest überzeugt, daß ich kein gemeiner Verbrecher bin. Ein Augenblick wahnsinniger Leidenschaft hat mich zu einer furchtbaren That hingerissen, und ich büße diesen Augenblick durch ein Leben voll Schmach und Schande. Sie sind ein humaner Mann. Wenn Sie mein Schicksal kennten, Sie würden mich gewiß eher bemitleiden als verdammen! Wollen Sie mich anhören?‘

‚Reden Sie!‘ sagte mein Vater.

‚Ich bin,‘ begann Fleurant, ‚von rechtschaffenen Eltern in einer kleinen Provinzialstadt geboren. Mein Vater war Arbeiter, ein stiller, in sich gekehrter Mann und die Gewissenhaftigkeit selbst. Er ließ mich mein Handwerk lernen und überwachte mich mit Strenge, aber ohne Härte. Er starb, als ich kaum die Lehrjahre zurückgelegt. Meine arme Mutter folgte ihm bald nach in’s Grab. Ich machte die kleine Erbschaft, die ich als einziger Sohn antrat, zu Geld, ließ mich, nachdem ich mehrere Jahre in den Werkstätten verschiedener Städte gearbeitet, als selbstständiger Arbeiter in meiner Vaterstadt nieder und gründete einen eigenen Herd. Ich ließ es an Fleiß nicht fehlen und schreckte vor keiner Anstrengung zurück. Ich liebte mein Weib über Alles, und es gab kein größeres Glück für mich, als sie glücklich zu machen. Ich verweigerte ihr keinen Wunsch; ich that Alles, was ich ihr an den Augen absehen konnte. So vergingen drei Jahre. Eines Tages, als ich aus der Werkstatt in meine Wohnung trat, sah ich einen jungen Mann, den sie mir als ihren Vetter vorstellte und den ich als ihren nahen Verwandten mit aller Herzlichkeit aufnahm. Er hatte sich, wie meine Frau mir erzählte, einiger leichtsinniger Handlungen schuldig gemacht und auf Befehl der grollenden Eltern seine Vaterstadt verlassen. Schon um meiner Frau willen gewährte ich ihm die unbeschränkteste Gastfreundschaft. Er aß an unserem Tische, und meine Börse stand ihm stets offen. Von sehr einnehmendem Aeußern, besaß er auch angenehme gesellige Talente. Er hatte eine schöne Stimme, wußte über viele Dinge fesselnd zu sprechen, und seine gefälligen Manieren machten ihn überall beliebt. Nur wollte es mir nicht gefallen, daß er sich für keinen Beruf entschied, sich keiner ernsten Thätigkeit widmete und meine Gastfreundschaft als eine Sache, die sich von selbst versteht, monatelang in Anspruch nahm, ohne auch nur das geringste Unbehagen merken zu lassen, das eine abhängige Lage doch auf die Länge in einem zartfühlenden Menschen hervorrufen muß. Ich bemerkte dies meiner Frau und äußerte dabei, daß ich es gern sehen würde, wenn Eduard – so hieß ihr Vetter – sich zu irgend einer regelmäßigen, geordneten Thätigkeit entschlösse, um sein Brod zu verdienen und eine Selbstständigkeit zu erlangen, die jeder ehrenhafte Mann vor allen Dingen erstreben müsse.

Ich hatte diese Bemerkung gemacht, nicht sowohl, weil ich des Gastes überdrüssig war, sondern vielmehr, weil mir seine Unthätigkeit mißfiel und ich ihm wohlwollte. Meine Frau schien jedoch durch meine Worte verletzt, beantwortete dieselben durch einige beißende Bemerkungen und verließ das Zimmer. Als ich Abends von der Arbeit wieder heimkehrte, hatte der junge Mann bereits mein Haus verlassen. Meine Frau erwiderte meinen Gruß mit eisiger Kälte, und ich mußte ihr bei Tische jede Silbe abzwingen. Ich suchte sie durch die sanftesten Bitten zu begütigen. Nichts aber verschlug. Unser Hausfrieden war für immer dahin.

Mehrere Wochen vergingen. Der Groll, den meine Frau in den ersten Tagen nach dem Scheiden Eduard’s gezeigt, war gewichen; sie zeigte mir aber jetzt eine Gleichgültigkeit, die mich noch tiefer verletzte. Die Ordnung, die ehedem in meinem Hause geherrscht, verschwand immer mehr, und statt wie bisher nach gethaner Arbeit mich auf den Abend zu freuen, betrat ich jetzt, wenn ich aus der Werkstätte kam, mit schwerem Herzen meine Thürschwelle. Dies Leben ward mir am Ende unerträglich. Eines Tages vernahm ich, daß der junge Mann eine Wohnung in einem abgelegenen Stadttheil genommen und daß meine Frau ihn oft sähe. Tausend Furien regten sich in meinem Herzen. Ich stellte mich jedoch ruhig und gelassen. Am folgenden Tage unterbrach ich meine Arbeit, und als ich meine Frau nicht zu Hause antraf, begab ich mich nach der Wohnung Eduard’s. Ich horchte an der Thür; ich hörte die Stimme meines Weibes. Ich weiß noch heute nicht, wie ich in das Zimmer gelangte, wo ich über die mir widerfahrene Schmach keinen Zweifel mehr hegen konnte. Von wilder Wuth gepackt, ergriff ich ein Messer und – zu meinen Füßen verröchelte der Schänder meiner Ehre.

Ich suchte nicht der Gerechtigkeit zu entgehen, sondern lieferte mich selbst in ihre Hände. Meine blutige That wurde von ihr als Mord mit Vorbedacht erklärt und ich ward zu zehnjähriger Zwangsarbeit verurtheilt. Ich war aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen, und die rächende Justiz sorgte dafür, daß ich nie wieder in dieselbe eintreten konnte, ohne mich als einen Auswurf der Menschheit, als ein von Allen zu fliehendes Scheusal betrachtet zu sehen. Der Henker brannte mir mit einem glühenden Eisen das unauslöschliche Schandmal auf die Schulter ein und ich wurde in’s Bagno von Brest abgeführt. Hier schor man mir sogleich das Haar kurz, auch mußte ich die rothe Jacke anziehen und die rothe wollene Mütze aufsetzen. An diese Mütze ward eine mit einer Nummer versehene Blechplatte befestigt. Ich hatte keinen Namen mehr; ich war jetzt nur eine Ziffer. Dies Alles war schrecklich genug; das Schrecklichste aber sollte noch kommen. Es wurde mir ein eiserner Ring um den Fuß geschmiedet und an diesen die schwere Kette gefügt, die mich nicht nur selbst, sondern auch an einen Andern fesseln sollte. Ich wurde nämlich mit einem Verbrecher zusammengekettet und von demselben nur während der Arbeit im Hafen und während der Tageszeit getrennt. Jeden Abend aber, unmittelbar bevor wir die Pritsche aufsuchen mußten, wurden unsere beiden Fesseln durch eine dritte verbunden, die sich an einem dicken eisernen, auf dem Steinboden angebrachten Ringe befand, so daß wir Beide aneinander und zugleich an den Boden gekettet waren. Alles, was ich bis jetzt gelitten, alle Körperqualen, alle Seelenleiden waren doch noch erträglich im Vergleich zu dem empörenden Gefühl, das der Geselle in mir erweckte, von dessen Seite ich nicht mehr kommen konnte. Er war wegen mehrerer Fälschungen verurtheilt worden und hegte einen solch tiefen Haß gegen die Menschheit, daß er tausend Rachepläne entwarf, die er nach seiner Freilassung auszuführen beschloß. Der Ekel, den dieser Mensch in mir erweckte, ist unbeschreiblich und ich war oft in Versuchung, meinem finstern Dasein ein Ende zu machen. Ich nahm mir indessen vor, kein Wort mehr mit ihm zu wechseln, und beharrte auf meinem Vorsatz.

Achtzehn Monate verstrichen auf diese Weise. In Anbetracht meines guten Betragens ließ man mich nun mit der sogenannten „Chaine-brisée“ arbeiten, mit der Kette nämlich, die über dem Schenkel am Gürtel, und unten am Knöchel an dem eisernen Ring befestigt ist. An einem Augusttage, als ich im Hafen arbeitete, sah ich etwa hundert Schritte von mir einen jungen Menschen in’s Wasser stürzen und schreiend gegen den Wellentod kämpfen. Ohne mich einen Augenblick zu bedenken, sprang ich in’s Wasser und es gelang mir, den Besinnungslosen an’s Ufer zu bringen, wo er sich bald erholte. Diese That wurde mir gut angerechnet, und am nächsten Geburtstag des Königs befand ich mich auf der Liste der Begnadigten.

Ich war wieder frei. Allein die Freiheit eines entlassenen Galeerensträflings ist nicht Freiheit zu nennen. Den Menschen flößt seine erlittene Strafe einen noch heftigeren Schauder ein, als sein Verbrechen. Wer ihn erkennt, flieht ihn wie die Pest. Unaufhörlich wird er von der Angst gefoltert, man könnte seiner Vergangenheit auf die Spur kommen, und nicht selten ist es gerade diese Angst, die ihn verräth. Ich kehrte nicht nach meiner Vaterstadt zurück, sondern ging sogleich nach Paris, wo ich verborgen lebte, bis mein Haar lang gewachsen war. Inzwischen hatte ich mir aus meiner Heimath eine Empfehlung zu verschaffen gewußt, die mich bei Ihnen einführte. Sie nahmen mich freundlich auf und es gelang mir, Sie zufrieden zu stellen. Ich vermied jeden engeren Umgang und suchte nach vollbrachter Arbeit meine vier Pfähle auf. Nach und nach kehrte ein stiller Frieden in mein Herz ein. Da begegne ich eines Abends auf dem Heimwege dem Elenden, mit dem ich im Bagno zusammengekettet gewesen. Ich wollte rasch um die Ecke biegen; es war zu spät. Er hatte mich erkannt und eilte auf mich zu mit den Worten: ‚Endlich find’ ich Dich, Camerad! Ich dachte mir’s, daß Du in Paris lebst und einen tugendhaften Wandel führst. Nun, Deine Tugend wird einem alten Bekannten einen kleinen Dienst nicht versagen. Ich brauche Geld.‘

Ich gab ihm, was ich in der Tasche hatte, und riß mich los.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_439.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)