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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Stunde für sie enthalten werde, scheu, als ob sie eine Missethat begehe, entsetzt über sich selbst, daß sie ohne Rücksichten und Bedenken etwas thue, was sie noch vor einem Tage für völlig undenkbar gehalten hätte, erstaunt über ihre Kühnheit – und doch wieder fortgezogen, wie unwiderstehlich und von einer von ihr selbst unverstandenen Macht.

So schlüpfte sie zur Ferme hinaus und schlug draußen denselben Weg wieder ein, den sie in der Nacht mit Max genommen. Er war der kürzeste, und da ihn jetzt bereits die Dämmerung erhellte, so bot er keine Schwierigkeit mehr. Auch legte ihn Valentine rasch und ohne Aufenthalt zurück. Oben auf der Lichtung blieb sie einen Augenblick stehen, um aufzuathmen, und gefesselt von dem prachtvollen Schauspiele des glühenden Sonnenballs, der eben dicht über dem Kamme der Vogesenhöhen jenseits des Maasthals durch die mit Gold- und Purpurströmen übergossenen dichten und schweren Wolkenschichten brach; auf der Ferme des Auges leuchteten die Mansardenfenster wie in rothem Brande davon auf; jenseits der Einsattelung links färbten die Strahlen eine eben aufsteigende Rauchwolke mit leisem rosigem Schein … auf dem Hammerwerke mußte man eben wieder die nie ruhende Arbeit beginnen. Die Ferme aber lag noch im Schatten und im tiefsten Schlummer begraben, der Hof still und wie ausgestorben, nur aus den Stallungen tönte das Wiehern eines Pferdes; drüben im Flußthale begannen die Hähne zu krähen.

Valentine wandte sich und setzte ihre rasche Wanderung durch das feuchte Gehölz, an dessen Zweigen und Blättern die jetzt vom aufsteigenden Licht in Diamanten verwandelten Tropfen hingen, fort … wie kurz fand sie jetzt den Weg, der ihr in der Nacht so endlos geschienen … die Tropfen, die ihr auf Hut, Nacken und Schultern sprühten, waren wie ein Segen, den diese seltsame Morgenwelt, welche Valentine früher nie gesehen hatte, diese bei ihrem Erwachen all’ ihre stille Größe entfaltende Natur über sie ausschüttete. Es wurde in ihr selbst still und ernst und feierlich; ihr Herz begann ruhiger zu schlagen, sie athmete freier. Die bange Scheu vor dem Zusammentreffen mit dem Deutschen wich von ihr, nur in einer gewissen Spannung noch legte sie den Rest des Weges zurück und stand bald am Fuße der Aufschüttung von Felsgerölle, über die es in das Innere der Höhle ging. Valentine sah, daß Max die Höhle nicht geschlossen hatte; die alte Thür, die einst im Innern des Eingangs angebracht war – ohne daß man mehr wußte, von wem und wozu – war vielleicht nicht mehr zu bewegen gewesen. Valentine rief, am Fuße der Höhle stehen bleibend … erst leise, dann lauter. Niemand antwortete und Niemand erschien. Schlief ihr Schützling so fest, auf irgend eine harte Felsplatte ausgestreckt? hatte er sich so weit in’s Innere vertieft? Valentine sah, daß sie schon selbst sich hineinwagen müsse, um ihm ihr Dasein kund zu thun. So stieg sie empor, trat durch die enge Oeffnung und dann, als sie einige Schritte hinein gemacht und die Höhle sich nun plötzlich erweiterte, zur Seite, um das Morgenlicht hereinzulassen, das durch ihre Gestalt ausgeschlossen wurde. Aber wie sie auch ihre Augen anstrengte, sie nahm Niemand wahr, und ihrem lauten ängstlichen Rufe wurde keine Antwort. Erregt ging sie weiter, so weit endlich, wie sie gehen durfte, um nicht in die vom völligen Dunkel verhüllte Gegend zu gerathen, wo der Abgrund begann – und dann kehrte sie zurück, zum Eingange, zum Lichte.

Betroffen blickte sie hier über die unter ihr sich hinabziehende schmale Schlucht fort, dem selten betretenen Fußpfad nach, der sich auf dem Grunde derselben hinabzog, den Windungen eines Baches folgend, welcher etwa hundert Schritte unterhalb des Höhlenganges aus dem Felsgestein brach, hell und wasserreich, wahrscheinlich ein Abfluß des unterirdischen Gewässers im Hintergrunde der Höhle. Rechts und links hoben sich schweigend die Bergwände so steilrecht, als hätten sie einst zusammengehört und aufeinander gelegen und sich nur in Folge eines Haders und Streits so trotzig in den Rücken geworfen, die düsteren Gesellen. Ein Falke schoß eben darüber fort, mit harschem Schrei – ein menschliches Wesen aber war nirgends zu sehen.

Es war seltsam! Valentine hatte Max hinlänglich gewarnt, sich nicht zu weit in die Höhle zu wagen – daß er darauf nicht geachtet, daß er in Folge seiner Unvorsichtigkeit ein grausiges, ein unaussprechlich schreckliches Ende gefunden – es war ja nicht anzunehmen, und Valentine wies den Gedanken daran tief aufathmend weit von sich ab! Nein, er mußte ungeduldig geworden und aufgebrochen sein, beim allerersten Dämmern des Morgens, um sich allein den Heimweg nach Void zu suchen. Auch das war unvorsichtig, entsetzlich unvorsichtig von ihm! Wie konnte er allein den Weg finden aus diesem einsamen, in den Bergen so tief versteckten Winkel; wie konnte er, der Deutsche, hier in Feindesland das wagen, wo er nicht wußte, auf welche Menschen er stieß, er, allein und hülflos, ohne Führer und Steuer! Ein demüthigendes Gefühl, als ob etwas für sie persönlich Verletzendes in diesem Fortgehen liege – sie hatte ihm ja doch gesagt, daß sie wahrscheinlich selbst ihn zu führen kommen werde – trat hinzu, um Valentine über die Unvorsichtigkeit und den Leichtsinn des Deutschen fast zornig zu machen, trotz all’ ihrer Unruhe!

Aber vielleicht hatte er in seiner Ungeduld sie früher erwartet und war, beunruhigt über das, was auf der Ferme vorgefallen sein konnte, fortgegangen, um sich nach dieser zu begeben: er konnte dem Fußwege durch die Schlucht gefolgt sein; dieser Weg führte mit einer Wendung um den Fuß der Bergwand rechts herum auf die Vicinalstraße von der Ferme nach Givres; Max hatte dann denselben Weg eingeschlagen, den ihn Valentine in der verflossenen Nacht ursprünglich führen wollte, bis sie räthlicher fand, den kürzeren, aber schwierigeren durch die Gärten und über die Höhe weg zu nehmen.

So mußte es sein – Valentine beruhigte sich mit diesem Gedanken und eilte nun auf demselben Wege über die Waldhöhe wieder heim. Als sie der Ferme des Auges nahe kam, sah sie nach allen Seiten spähend aus, ob sie von Max etwas entdeckte – ob am Gebäude der Ferme eine geöffnete Thür, ein zurückgeschlagener Laden nicht verrathe, daß man aus dem Schlaf geweckt sei – daß Jemand angekommen, den sie doch jetzt mit einem wahren Entzücken und innerem Jubel erblickt haben würde – so nagend war ihr auf dem einsamen und jetzt doch nur mit Anstrengung zurückgelegten Wege die Sorge um sein räthselhaftes Verschwinden wieder auf’s Herz gefallen. Wenn sie Max nicht auf der Ferme des Auges schon angekommen fand, so war sie entschlossen, nichts zu scheuen, ihre innere Pein um den Deutschen offen zu gestehen und ihren Vater zu bewegen, daß er anspannen lasse, um mit ihr nach Void zu fahren und selbst zu sehen, ob er dort sicher und heil angekommen. Weshalb sollte sie auch Anstand nehmen darauf zu bestehen … sie hatte Gaston’s Bemerkungen nicht mehr zu fürchten, und was Ellen anging – Ellen’s Meinungen, Blicke und Urtheile waren ihr von heute an noch gleichgültiger, sie verachtete sie!

Als Valentine den Hof der Ferme betrat, fand sie auch die ersten Spuren der erwachenden Thätigkeit. Der Knecht, der die Pferde zu füttern hatte, ging eben über den Hof, den Stallungen zu. Valentine fragte ihn nach dem Deutschen; er hatte Niemand wahrgenommen. Des Fremden Pferd stand noch ruhig im Stalle. – Sie ging um’s Haus herum über die Terrasse in den Salon, dessen Thür sie offen gelassen; die Thür stand angelehnt, wie Valentine, als sie gegangen, sie gelassen hatte; die geschlossenen Fensterläden hielten noch jedes Licht aus dem Raume fern – es war nirgends ein Anzeichen da, daß der Verlorene zurückgekehrt sei – er mußte sich nach Void selbst zurückgefunden haben, es war nicht anders möglich!

Valentine öffnete die Fensterläden und dann ließ sie sich in einen der nächsten Fauteuils nieder; ermüdet von ihren Wanderungen, ihren Aufregungen, ihrer jetzt wieder nagenderen Sorge, legte sie eine Weile das bleich und übernächtig aussehende Haupt auf die Lehne zurück, und schloß die Augen wie im tiefen Bedürfniß nach Ruhe.

Sie hätte schlafen mögen, verträumen Alles, vergessen Alles, Alles – den Deutschen, die Schreckensscene der Nacht, die Existenz Gaston’s, die eigene am liebsten – und doch vermochte sie nichts zu vergessen, es stand Alles, wenn sie die Augen schloß, nur desto lebendiger vor ihr – und die Angst ließ sie nach wenigen Minuten wieder in einer wie fieberhaften Erregung aufspringen.

Wenn er nun doch umgekommen – umgekommen auf die grausigste, unerhörteste Weise – umgekommen zum Theil durch ihre Schuld! O mein Gott, hätte sie doch dies Schreckensbild, dies fürchterlichste von allen nur vergessen, nur dies für immer weit von sich scheuchen können! Weshalb kehrte es jetzt gerade so hartnäckig, so ihr das Blut erstarren machend zurück?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 417. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_417.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)