Seite:Die Gartenlaube (1872) 350.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Herr d’Avelon zuckte die Achseln.

„Mein lieber Gaston, was wollen Sie?“ erwiderte er, „Sie müssen einräumen, daß es bisher so ziemlich immer deutsche Siege waren. Sie kennen meine Ansichten darüber, ich halte nicht damit hinter dem Berge, auch bei diesen deutschen Herren nicht; sie werden siegen, die Deutschen, und wir, die Franzosen, werden erliegen trotz aller schönen Reden in den Journalen. Sie kennen die Geschichte nicht, diese Schönredner. Die Franzosen haben einmal große Dinge vollbracht; sie haben einmal einen Italiener in Sold – freilich sehr schweren Sold – genommen, ein Feldherrngenie, wie nie ein größeres war, und das hat ihnen zum Vergnügen die durch und durch morsche, faule, erbärmliche Welt ihrer Nachbarn über den Haufen gestoßen. Seitdem ist das Dogma entstanden, der Franzose sei der erste Soldat der Welt! Und ich, ich sage Ihnen, die Franzosen sind gar keine kriegerische Nation – sie waren es nie und sind es heute nicht. Die Geschichte Frankreichs ist eine Geschichte großer verlorener Schlachten. Von Poitiers und Crecy bis auf Pavia, bis auf Ramillies und Malplaquet, bis auf Minden und Roßbach, bis auf Vittoria und Waterloo, bis auf Wörth und Sedan – welche Niederlagen! Kommen, wenn Sie den ersten Napoleon aus dem Spiele lassen, ihre Siege an weltgeschichtlicher Bedeutung dagegen auf? … Wahrhaftig nicht!“

„Ah – welche paradoxe Behauptung!“ sagte mit einem spöttischen Lächeln Gaston. „Sie behaupten auch, die Deutschen hätten ursprünglich alle Erfindungen gemacht … der Sieg, ist das ebenfalls eine deutsche Erfindung?“ …

„Ich behaupte nur,“ erwiderte d’Avelon achselzuckend, „daß die Nation keine kriegerische sei und in diesem Punkte der deutschen nicht gewachsen …“

„Wenn ich meine Ansicht darüber aussprechen darf,“ fiel hier Max ein, „so dürfen Sie sich dawider nicht auflehnen, wenn Sie die Franzosen eine chevalereske Nation nennen – und diese Eigenschaft werden Sie gewiß in Anspruch nehmen!“

„Heißt chevaleresk denn nicht tapfer?“ rief hier Fräulein Valentine aus.

„Chevaleresk, mein Fräulein, heißt ritterlich. Diese Ritterlichkeit, dies Ritterthum ist am gründlichsten und ausschließlichsten in Frankreich durchgeführt, der Feudalismus hat nirgends unumschränkter geherrscht. Eine der liebenswürdigsten und segensreichsten Seiten dieses Feudalismus aber war es, daß er jeden Roturier (Unadeligen), jeden Vilain auf den Kopf schlug, der es wagte, die Waffe zu führen. Dadurch ist das Volk unkriegerisch geworden …“

„Und war das in Deutschland anders?“ fragte jetzt Gaston, zum ersten Male das Wort direct an Max richtend.

„Leider nicht so viel, wie ich gewünscht hätte. Auch bei uns erdrückte der Feudalismus die Wehrhaftigkeit des Volkes. Einen Rest von der feudalen Ansicht, daß das Volk kein Waffenrecht habe, den Boden des Vaterlandes nicht Jedermann vertheidigen dürfe, finden Sie noch in unserer mir gehässigen Sitte, jeden Franctireur, den wir fangen, zu erschießen. … Aber es war nicht so schlimm in unserem Lande wie in Frankreich, unser Volk hielt seine Rechte, seine Sitten, seine Wehrhaftigkeit zäher fest, es konnten in Deutschland große Bauernkriege entstehen, unser Bürgerthum entwickelte sich trotziger, ungezähmter, selbstbewußter – unser Adel selbst wurde nicht durch einen Richelieu und Ludwig den Vierzehnten überall zum zahmen Hofgesinde dressirt – kurz …“

„Wir Wilden sind doch bessere Menschen!“ unterbrach ihn Hartig auf Deutsch.

Gaston de Ribeaupierre zuckte zu dem Allen nur in einer nicht sehr höflichen Weise die Achseln. Herr d’Avelon nickte aber mit dem Kopfe dabei und erwiderte:

„Darin mag allerlei Wahres liegen; Sie müssen aber Frankreich den Ruhm lassen, daß es diesen mörderischen Feudalismus zuerst gebrochen und damit gründlich aufgeräumt hat; er ist hier mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Sie in Deutschland haben noch einen ganzen Wust dieses mittelalterlichen Unsinns auf sich lasten, Majorate, Fideicommisse, Lehne etc., all diese heillosen Einrichtungen, die Gott verdammen möge, unter denen ganze Geschlechter zu Grunde gehen und die Einzelnen verderben. …“

Herr d’Avelon sprach das mit einer Bitterkeit, einer plötzlichen Erregtheit, die Max betroffen zu ihm aufschauen machte.

Was hatte der Mann? Weshalb starrte er jetzt mit diesem seltsamen Ausdrucke, mit einer Miene wie starren Schreckens die Karte an, die Max Gaston übergeben, die dieser auf den Tisch gelegt und die d’Avelon, während er die letzten Worte sprach, wie zerstreut an sich genommen, so daß erst jetzt sein Blick darauf fiel? Was lag Schreckliches für ihn in dem harmlosen Namen Max von Daveland? Denn etwas Schreckliches mußte es sein. Seine Hand zitterte, als sie die Karte fallen ließ, ein fahles Bleich fuhr über seine Züge. … Max allein sah es, da die Augen der Uebrigen, seine Antwort erwartend, sämmtlich auf ihn, auf Max, gerichtet waren – sie richteten ihre Aufmerksamkeit erst auf den Hausherrn als dieser sich rasch erhob und – Max sah, wie sein Schritt wankte – durch die nahe offene Glasthür, die aus dem Hause auf die Terrasse führte, verschwand.

Valentine nahm, da in seinem Fortgehen, vielleicht um etwas herbeizuholen nichts Auffallendes lag, ruhig die Unterhaltung wieder auf; sie führte sie in dem Tone einer gewissen spöttischen Ueberlegenheit, wie sie ihn schon früher angeschlagen, weiter … es schien überhaupt eine gewisse Dosis von Uebermuth in Valentine zu stecken, wenigstens das Selbstbewußtsein, das sich ungezwungen, natürlich gehen läßt. Sie schien eine andere Erziehung gehabt zu haben als die zu frommer Blumenhaftigkeit angeleiteten französischen jungen Mädchen der höheren Stände, die schweigsamen Musterbilder der klösterlichen Pensionaterziehung. Ihre großen fragenden Augen blickten völlig unbefangen Daveland an. Wenn sie ihr reiches gekräuseltes und dichtgewellt in den Nacken hängendes Haar mit der Hand zurückwarf, so geschah dies mit einer natürlichen Anmuth, in einer Weise, die verrieth, daß sie durchaus nicht daran dachte, beobachtet zu sein, und jetzt es graciöser anstellte, als wenn sie allein gewesen. Max Daveland fand sie entzückend; je länger er sie ansah, desto tiefer fühlte er den verhängnißvollen „Strahl“ dringen – aber auch, daß er ihrem leichten Spott gegenüber bis jetzt nicht die wünschenswerthe „strategische Position“ gewonnen. Mit desto größerem Eifer führte er das Gespräch fort, mit dem demüthigenden Bewußtsein, daß er ein wenig Pedant dabei scheinen werde – es war so schwer, solch einer Französin gegenüber mit der Gabe leichter Conversation zu glänzen, die wahrscheinlich allein Geltung bei ihr hatte.

Im Innern des Hauses hatte unterdeß Miß Ellen, im Begriff, zur Terrasse zurückzukehren, den Salon betreten. Zu ihrer Ueberraschung sah sie d’Avelon im Hintergrunde in einem Fauteuil zusammengesunken und starr den Boden vor sich anblickend. Mit raschen Schritten war sie neben ihm, und vertraulich ihre Hand auf seine Stirn legend, rief sie leise:

„Um Gotteswillen, mein Freund, was ist Ihnen? Sie sehen bleich aus wie der Tod! Sie sind unwohl geworden?“

„Nein, nein, nein,“ versetzte d’Avelon, ihre Hand abschüttelnd und wie nach Athem ringend. „Lassen Sie mich, Ellen! Gehen Sie, gehen Sie – aber in der That, ich bin unwohl – es wird vorübergehen – gewiß, sogleich – nur – senden Sie mir um Gotteswillen diese Deutschen fort – unter einem guten Grunde – lassen Sie sie abziehen – sogleich, sogleich – nein, nein, hören Sie, nicht das, nicht das. …“

Ellen stand verwundert, erschrocken vor ihm und hörte diese widersprechenden Befehle an.

„Gehen Sie,“ fuhr er wie sich mit Gewalt fassend fort, „und bringen Sie heraus, aus welcher Gegend Deutschlands sie sind – behutsam – discret, und dann, dann sagen Sie es mir – sagen es mir sogleich, aber behutsam, ohne daß Ihr Kommen und Gehen auffällt … wollen Sie?“

„Ich gehe – aber weshalb sagen Sie mir nicht, was Ihnen ist – ob Sie krank sind? …“

„Ich bin nicht krank – beruhigen Sie sich – ich fühlte ein wenig Schwindel – es ist vorüber, ganz vorüber; bemühen Sie sich nicht, ängstigen Sie sich nicht, ich werde selber gehen – kommen Sie … schweigen Sie …“

Er sprang auf, fuhr mit der Hand über die Stirn, machte eine Bewegung, als ob er etwas abschütteln wolle, und schritt dann, nur hastiger als gewöhnlich, zum Salon hinaus, auf die Terrasse.

Miß Ellen sah ihm mit der Miene der äußersten Ueberraschung nach und folgte ihm dann.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_350.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)