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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

wandten sich, wie um ihn aufzuhalten, dem Wagen zu. Der Mann auf dem Führersitze peitschte auf die Pferde, aber der ältere Herr hinter ihm war ihm schon in die Arme gefallen; die junge Dame war aufgestanden und sah rückwärts nach der Terrasse, lebhaft redend; sie mußte das, was vorgegangen, sogleich bemerkt haben.

„Ist Ihr Auge verletzt, ist es schlimm?“ rief Sontheim herbeispringend aus, während der Philologe schon in’s Haus eilte, um kaltes Wasser herbeizuholen.

„Ich weiß nicht,“ versetzte Daveland, „ob das Auge verletzt ist – ich denke nicht, es wird nichts auf sich haben, es schmerzt nur abscheulich.“

„Diese tückischen Franzosen!“ sagte Merwig. „Ich wette, der Mensch hat es ganz absichtlich gethan.“

„Dann lasse ich als Commandant von Void die ganze Gesellschaft wegen Angriffs auf die deutschen Truppen füsiliren!“ sagte halb im Ernst, halb im Scherz der Hauptmann.

Hartig kam mit einer Schale voll Wasser aus dem Hause herbeigeeilt; die hübsche blonde Kellnerin folgte ihm mit einem Tuche. Daveland athmete tief auf, als er über die Schale gebeugt das kühlende Naß auf der getroffenen Stelle fühlte.

„Wer sind die Leute, die vorüberfuhren?“ fragte Sontheim die Kellnerin.

„Es wird ein Unglück sein,“ versetzte eifrig Nicaise, „ein bloßes Ungeschick – mein Gott, so was kann so leicht kommen, wenn man nicht genau aufpaßt, so leicht!“

„Siehst Du, kleine Schlange, Du denkst auch, es war viel mehr Geschick als Ungeschick bei der Sache, und freust Dich wohl im Stillen darüber – jedenfalls willst Du Deine Landsleute entschuldigen! Wer sind sie?“

„O Monsieur!“ antwortete Nicaise mit dem Tone tugendhafter Entrüstung. „Ich mich freuen! Ich sehe doch, wie der arme Herr leidet. …“

„Das sagt mir immer noch nicht, wer diese Menschen sind!“ fuhr der Hauptmann fort.

„Da ist der Herr, der es Ihnen selbst sagen wird,“ versetzte Nicaise, auf den ältern Herrn deutend, der neben der Dame im Wagen gesessen hatte und der in diesem Augenblicke, rasch aus dem Billardsaale tretend, auf die Gruppe der Officiere zuging.

Es war ein ziemlich großer stämmiger Mann, für einen Franzosen fast zu stämmig gebaut, mit in’s Graue übergehendem aschblonden Haar und einem großen ausdrucksvollen Kopfe. Es war eine Art Kopf wie der Gustav Adolph’s, ein Gemisch von derben, wettergebräunten Zügen und feinerem, geistig durchgearbeitetem Ausdruck; ein Paar helle stahlgraue und scharfe Augen zeigten unter ihren dichten Brauen eine ungewöhnliche Beweglichkeit – vielleicht war es eine innere Erregung, die sie so rasch von Einem zum Andern in der Gruppe irren ließ, während die Augendeckel sich so nervös zitternd abwechselnd schlossen und öffneten. Ein Bart, der aus der Farbe des Kopfhaares stellenweise in’s Fuchsige überging, umrahmte sein Gesicht – seine Kleidung war die eines wohlhabenden Landbewohners.

Er trat, den Hut abziehend, heran, und sich mit Würde verbeugend, sagte er, zur Ueberraschung der jungen Männer in deutscher Sprache – mit einem leichten französischen Accent und einer gewissen Schwerfälligkeit der Zunge, wie sie in Folge mangelnder Uebung eintritt:

„Meine Herren, ich hoffe, daß Sie mit Güte die Entschuldigungen annehmen, die ich komme Ihnen zu machen. Ich brauche Ihnen nicht auszusprechen, in welchem Maße ich erschrocken bin über den ärgerlichen Zufall, der zu Ihrer Verletzung geführt hat, Herr Lieutenant.“ Er richtete sich dabei an Max Daveland, der, das nasse Tuch vor das getroffene Auge haltend, jetzt mit dem andern ihn musterte.

„Es war allerdings ein sehr sonderbarer Zufall,“ fiel ganz ungerührt durch die würdige Weise des Herrn und grollend Sontheim ein. „Es bedurfte nur sehr geringer Vorsicht, ihn zu vermeiden. Sie sahen doch, daß hier auf der Terrasse ein preußischer Officier stand, der …“

„Mein Gott, ich sah es, meine Tochter sah es auch! Aber mit der Führung der Pferde beschäftigt, sah es mein Freund, der den Schlag so unglücklich führte, nicht … mein Freund wird jeden Augenblick zu jeder Genugthuung, die er geben kann, bereit sein – ich hoffe jedoch, Sie, der zunächst betroffen ist,“ wandte der Fremde sich wieder an Max Daveland, „werden den Ausdruck des aufrichtigsten Bedauerns und die Bitte um Verzeihung, die ich Ihnen ausspreche, mit Güte aufnehmen und mir glauben, wenn ich Ihnen versichere, ich gäbe Alles darum, wenn ich die Verletzung ungeschehen machen könnte.“

Max, in der Rechten das triefende Tuch, das er an sein Auge drückte, streckte die Linke gutmüthig lächelnd dem fremden Herrn hin, in dessen Zügen sich wirklich unverkennbar ein so aufrichtiges Bedauern malte; der Mann befand sich in einer peinlichen Lage und mußte als Franzose diese Demüthigung von den feindlichen Officieren doppelt empfinden; Daveland that Alles, um ihr ein Ende zu machen.

„Der Schmerz schwindet, und das wird Alles sein,“ fuhr er fort; „das Auge ist nicht verletzt, fühl’ ich; es ist nicht der Mühe werth, so viel Aufhebens davon zu machen; wirklich, es ist nicht der Mühe werth; es thut mir leid, daß Sie Ihre Fahrt deshalb haben unterbrechen müssen, und ich danke Ihnen herzlich für Ihre Theilnahme!“

„Man kann die Sache nicht liebenswürdiger aufnehmen, als Sie es thun, mein Herr,“ antwortete der Fremde, dessen Züge bei diesen Worten sich sehr erhellten und eine gewisse Spannung verloren; „ich möchte mich nur überzeugen, daß Ihr Auge wirklich keinen Schaden gelitten – sonst würde ich mir erlauben, Ihnen meinen Arzt zu schicken, einen geschickten Mann, der hier in Void wohnt …“

„Es bedarf dessen gewiß nicht,“ versetzte Daveland. „Sie sind also hier aus der Nachbarschaft daheim?“

„Ich wohne nur eine starke Stunde thalaufwärts.“

„Ah, so können Sie uns gewiß sagen, wie weit Domremi von hier ist?“ fiel hier, weniger um der Sache willen, als um die friedliche Wendung, welche das Gespräch nahm, zu erhalten, seinerseits der Hauptmann Sontheim ein.

„Genau sechs Stunden.“

„Also ein wenig zu weit für einen Spazierritt an einem dienstfreien Nachmittage,“ versetzte Sontheim.

„Wenn die Herren einen Spazierritt thalaufwärts machen wollen, würde allerdings mein Haus ein bequemeres Ziel für Sie sein,“ antwortete höflich der Fremde; „es würde mir eine große Freude sein, Sie da zu bewirthen und mich bei dieser Gelegenheit zu überzeugen, daß Sie“ – er wandte sich wieder an Max – „durchaus keine Folgen von dem ärgerlichen Zufall davongetragen haben. Werden Sie mir diese Freude machen? Ihr Versprechen wird mir am besten beweisen, daß Sie uns verziehen haben.“

„O, wenn das ist, gebe ich Ihnen recht gern das Versprechen,“ antwortete sehr eifrig und lebhaft erröthend Max.

Der Fremde zog eine Karte hervor, überreichte sie Max, verbeugte sich und ging.

Max las, während die Anderen Jenem nachsahen, auf der Karte die Worte: „A. d’Avelon.“

„Wie heißt der höfliche Mann?“ fragte Sontheim, als der Fremde im Billardsaal verschwunden war.

„D’Avelon!“ antwortete Hartig, der sich der Karte bemächtigt hatte.

„Das lautet ja fast wie Daveland … es muß am Ende diese Namensvetterschaft es thun, daß Sie so bald Freunde geworden sind … mir gefällt der Geselle nicht!“ bemerkte der Hauptmann.

„Weshalb nicht?“ fragte Max.

„Sein Gesicht hat etwas Abstoßendes – es ist von zu viel Seelenunruhe durcharbeitet, wie es bei einfach ehrlichen Leuten nicht der Fall ist.“

„Das ist,“ entgegnete Max, noch einmal das nasse Tuch zum Auge führend, „ein hartes Urtheil. Weshalb soll das Gesicht, welches, wie Sie sich ausdrücken, von Seelenunruhe durcharbeitet ist, abstoßen? Es kann auch anziehen; das Leben kann auch für den Besten eine Kette von schweren geistigen Aufgaben und innerer Unruhe, von Kampf und Sturm werden. Mich zieht das Gesicht dieses Herrn d’Avelon an, es hat etwas Deutsches, Heimathliches – er sprach auch sehr gut Deutsch –, wenn der Name nicht wäre, sollte man ihn für einen Landsmann halten.“

„Nicaise,“ rief Hartig der Kellnerin entgegen, die eben diensteifrig noch eine Schale kalten Wassers brachte, „ist dieser Herr ein geborener Franzose, hier aus der Gegend?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_335.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)