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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

für eine Familie, bestehend aus beiden Eltern mit ihren Jungen. Ein allgemeiner Nothstand vereinigt wohl auch zwei oder drei solcher Familien; stärkere Rudel aber, wie beispielsweise eines von fünfzig Stücken, welches im Laufe des vergangenen Winters bei Casma unter eine Schafherde fiel und alles Lebende würgte, gehören zu den seltensten Vorkommnissen. Der Trupp schweift in einem ziemlich großen Gebiet umher und unternimmt allmählich Jagdzüge von zwei bis drei Meilen Ausdehnung, kehrt aber nach etwa acht Tagen wieder auf dieselbe Stelle zurück, um das Revier von Neuem zu durchstöbern. Erprobte Jäger, wie Vranyczany, sind so fest von der regelmäßigen Wiederkehr der Wölfe überzeugt, daß sie ihre Jagden darnach einrichten, nämlich erst acht Tage später denjenigen Waldestheil abtreiben, in welchem ein Trupp Wölfe gespürt worden war. Wie der Fuchs hält der Wolf seinen Wechsel auf das Genaueste ein, weil er, ebenso wie Reinecke, zu dem Wechsel sich stets die geeigneten, d. h. ihn möglichst deckenden Theile des Waldes wählt und namentlich für einen sicheren Uebergang von einem Waldestheile zum andern die größte Sorge trägt.

Das war es, was ich im Laufe des Gesprächs von meinem Wirth und dessen Gast in Erfahrung brachte.


(Schluß folgt.)




Visionen, Träume und Gespenster.


Nicolai’s Gespenstererscheinungen. – Seine Unterhaltung mit ihnen. – Ihre radicale Heilung. – Ein Wort über die Jungfrau von Orleans. – Mohamed als Prophet der Liebe. – Die kleine Ayischa wird eifersüchtig. – Dichter und Weiber. – Wie Vilmar den Teufel sieht und hört. – Die heiligen Jungfrauen des Mittelalters und die Hexen desselben. – Verschiedene Ursachen und dieselbe Wirkung.


Eine von jedem Vorurtheil freie und allein auf die Erfahrung gestützte Untersuchung über Ursprung und Wesen der Visionen und Träume darf von vornherein auf die Theilnahme aller Gebildeten rechnen. Ganze Richtungen im Leben der Völker, die Askese des Mittelalters zum Beispiel und das Hexenwesen, können ohne Kenntniß des visionären Zustandes nicht gehörig gewürdigt werden; weltgeschichtliche Persönlichkeiten, wie die Jungfrau von Orleans, bleiben für Den ein ungelöstes Räthsel, der über die Visionen, als über das treibende Motiv im Leben derselben, keinen Aufschluß zu geben vermag; ja der Ursprung aller sogenannten geoffenbarten Religion hängt auf’s Innigste mit der Frage nach Grund und Wesen der Vision zusammen. Nicht nur für den Historiker ist es unumgänglich, daß er klar in dieser Sache sehe; sie hat auch für das Leben der Gegenwart das eminenteste Interesse. Es ist nicht damit abgethan, daß der Naturforscher dem Gespensterglauben und Allem, was damit zusammenhängt, den Rücken kehre; in der Wurzel vernichtet wird der Aberglaube erst dann, wenn er wissenschaftlich erklärt ist. Zu einer solchen Erklärung einen kleinen Beitrag zu geben, ist der Zweck des nachfolgenden Versuchs. Ich beabsichtige zunächst an einigen Beispielen den Hergang selbst, seine Bedeutung und seine Gefahr möglichst anschaulich zu machen. Was sodann die eigentliche Erklärung betrifft, so ruht dieselbe im Wesentlichen auf der geistvollen Untersuchung Schopenhauer’s in den „Parerga und Paralipomena“: Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt. Bei Schopenhauer indessen gehen die feinsten und besten Beobachtungen Hand in Hand mit metaphysischen Träumereien, die sich in gänzlich dunkle Gebiete verlieren und den traurigen Beweis geben, daß auch der größte Philosoph zum abergläubischen alten Weibe werden kann, wenn er um übernatürliche Stützen für sein philosophisches System verlegen ist. Uns ist im Dunkeln so wenig wohl, daß wir dasselbe lieber gänzlich auf sich beruhen lassen und uns darauf beschränken, zu erklären, was sich eben erklären läßt.

Den Hergang der Visionen selbst anschaulich zu machen, ist kein Beispiel geeigneter als das des Berliner Buchhändlers und Schriftstellers Fr. Nicolai. Derselbe hat, wie er zum Gespensterseher wurde, der Berliner Akademie acht Jahre später in der aufrichtigsten und treuherzigsten Weise erzählt und seinen Vortrag alsbald auch unter dem Titel „Beispiel einer Erscheinung mehrerer Phantasmen nebst einigen erläuternden Anmerkungen“ dem Druck übergeben. Nicolai befand sich zu Anfang des Jahres 1791 in einer höchst traurigen und verworrenen Gemüthsstimmung. Die Ursache derselben hat er der Akademie nicht mitgetheilt, indessen lag sie ohne Zweifel in der wüsten und traurigen Reaction, welche in Preußen nach dem Tode Friedrich’s des Großen ihr Wesen hatte. Nicolai wurde besonders empfindlich dadurch getroffen. Die gewaltige Zeitschrift, deren Entstehung sein Werk, deren Leitung seine Lebensaufgabe war, die „Allgemeine deutsche Bibliothek“, war den damaligen Staatslenkern, Wöllner und Genossen, ein Dorn im Auge. Unter Friedrich dem Großen war diese Zeitschrift durch Beschluß des ganzen Staatsrathes für ein nützliches Werk erklärt und dieser Beschluß sogar in die Sammlung der königlich preußischen Edicte aufgenommen worden. Und jetzt waren die Regierenden auf einmal zu der Einsicht gekommen, die Hauptsätze der französischen Revolution rührten vorzugsweise aus der Nicolai’schen Berliner Bibliothekschmiede her, und der Leiter derselben müsse als Erzfeind von Thron und Altar verfolgt werden. In der panischen Angst jener Tage half da auch kein Widerlegen: die „Allgemeine Bibliothek“ mußte erst nach Hamburg flüchten, und wurde bald darauf ganz verboten. Das war zu viel für den alten Nicolai, der sich bewußt war, ein ebenso guter Patriot als Christ zu sein. Seine lebhafte Phantasie malte die Sache noch schlimmer aus, als sie war, über der Sorge um sein Werk und seine so hart angegriffene Ehre vergaß er die Pflege seines Körpers, versäumte die sonst üblichen diätetischen Vorsichtsmaßregeln, und so trat denn jene seltsame Katastrophe ein, welche den alten Aufklärer und erbitterten Verfolger der Gespenster auf einmal selbst zu einem Geisterseher machte.

Es war am 24. Februar 1791, Vormittags zehn Uhr, als Nicolai in seiner Wohnung zu Berlin und in Gegenwart seiner Frau und eines Hausfreundes die erste Gespenstererscheinung hatte. Man muß gestehen: Zeit, Ort und Umstände konnten nicht wohl ungeschickter für dies Ereigniß gewählt sein, es war durchaus gegen alles Herkommen unter den Gespenstern. Nicht die feierliche Geisterstunde, nicht die schauerliche Stille der Nacht, nicht eine öde zerrissene Gegend und „Leichensteine ringsum im Mondenscheine“, nichts von all’ dem düsteren, geheimnißvollen Apparat, mit welchem wir von der Amme an Gespenster zu erwarten gewohnt sind! Es war nicht einmal der Augenblick abgewartet, in welchem sich das Opfer der Geisterwelt allein befand; recht als wenn allen den Grundsätzen, die Nicolai’s großer Freund Lessing einst so glänzend gegen Voltaire’s „Semiramis“ in’s Feld geführt, hätte Hohn gesprochen werden sollen. Indessen hatte Nicolai an eben diesem Morgen eine Reihe von Nachrichten erhalten, die sein moralisches Gefühl auf’s Tiefste empörten und aus welchen er keinen vernünftigen Ausweg sah. Und so stand denn plötzlich am hellen lichten Wintermorgen, kaum zehn Schritte von ihm entfernt, die Gestalt eines Verstorbenen vor ihm. Er wies auf dieselbe hin und fragte seine Frau, ob sie die Person nicht sähe. Diese sah natürlich nichts. Sie nahm ihren Fritz nach Weiberart herzlich erschrocken in die Arme, suchte ihn zu beruhigen und schickte nach dem Arzte. Doch hatte sich die Gestalt, noch ehe derselbe kam, ernst und schweigend entfernt, ihr Besuch hatte nur eine halbe Viertelstunde gedauert. Aber schon Nachmittags heim Eintritt der Dämmerung stellte sich der ungebetene Gast auf’s Neue ein, als Nicolai allein auf seinem Zimmer arbeitete. Es half nicht, daß er sofort zu seiner Frau eilte, die Gestalt folgte ihm und stellte sich ruhig in seine Nähe. Zwei Stunden später kamen noch verschiedene wandelnde Personen, welche indessen die stehende Figur völlig ignorirten. Der Arzt verordnete allerlei blutreinigende Arzneien, ohne die geringste Wirkung damit zu erzielen.

In den folgenden Tagen vermehrten sich die Erscheinungen auf die sonderbarste Weise. Sie kamen höchst ungenirt unter den verschiedensten Umständen bei Tage und bei Nacht, Nicolai mochte allein oder in Gesellschaft, daheim oder in fremden Häusern sein. Fast ohne Notiz von ihm zu nehmen, gingen sie, Männer und Weiber, durcheinander, einige zu Pferd, andere von Hunden begleitet, wie auf dem Markt, wo Alles sich fortdrängt. Alle

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_282.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)