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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

ihre Sachen und befand sich am nächsten Morgen mit Mann und Kind an Bord des nach New-York gehenden Dampfers. Als sie endlich in Columbus (Ohio) ankam, wo ihre Mutter sich damals aufhielt, hatte Tennie denselben Anzug an, den sie in der Vision gesehen, und bei näherem Befragen erfuhr sie, daß zur Zeit derselben die Mutter zu ihrer Schwester gesagt hatte: „Liebe, sende Deine Geister zu Victoria, sie nach Hause zu holen.“

Auf der Reise war Victoria oftmals in magnetischen Schlaf verfallen und nun geboten ihr die Geister nach Indianopolis zu reisen, dort als ein „Medium“ aufzutreten und Patienten anzunehmen. Ihr Geschäft glückte dort und in Terre-Haute über alle Erwartung. Sie curirte Lahme, machte Taube hörend, entdeckte die Räuber, welche eine Bank bestohlen hatten, löste physiologische Probleme, kurz verrichtete ganz wunderbare Dinge, von denen wohl aber das wunderbarste ist, daß sie bis zum Jahr 1869 siebenhunderttausend Dollars verdiente. Ihr Einkommen in einem Jahr belief sich auf hunderttausend Dollars und einmal nahm sie in einem Tage fünftausend ein.

Um diese Zeit löste denn auch endlich der spiritus familiaris sein Victoria schon vor so vielen Jahren gegebenes Wort. Er warf das Geheimniß von sich, welches seine Person bis jetzt umgeben hatte, er nannte seinen Namen. Victoria hielt sich nämlich damals gerade in Pittsburg auf, und während sie an einem Marmortisch saß, erschien ihr der spiritus familiaris plötzlich und schrieb mit englischen Buchstaben auf den Marmor den Namen „Demosthenes“. Die Schriftzüge waren erst schwach, wurden dann aber so hell, daß sie das ganze Zimmer mit Glanz erfüllten. Die Erscheinung, mit der sie sonst so vertraut war, erschreckte sie diesmal; der Geist des Demosthenes, das war außer Spaß! Unter Zittern hörte sie die Offenbarungen und Befehle des Geistes. Er gebot ihr, nach New-York zu gehen, wo sie Nr. 17 Great Jones Street ein für sie vollkommen eingerichtetes Haus finden werde. Sie erstaunte sehr und gehorchte, obwohl sie bis dahin nicht die Absicht gehabt hatte, nach dem Mekka des Humbugs zu wallfahrten. Sie erstaunte aber noch mehr, als sie in das bezeichnete Haus trat und darin Alles ganz genau so eingerichtet fand, wie es ihr der Geist offenbart hatte. In großer Verwirrung lenkte sie ihre Schritte nach dem Bibliothekzimmer, streckte ihre Hand nach dem ersten besten Buch aus, und als sie gleichgültig nach dem Titel blickte, überlief sie eine ehrfurchtsvolle Gänsehaut, als sie las „Die Reden des Demosthenes“. Seit jener Zeit thut sie gar nichts, als was ihr Demosthenes eingiebt, mit dem sie fast täglich Berathungen hält. Zu diesem Zwecke sitzt sie noch heute – wenn das Wetter nicht gar zu schlecht ist – auf dem flachen Dache ihres stattlichen Hauses auf Murray Hill. Der große griechische Redner giebt ihr auch alle die Reden ein, mit welchen sie noch heute die New-Yorker in Erstaunen setzt, und auch die natürlich, welche sie vor einigen Monaten hielt und deren allgemeiner Inhalt auch in allen deutschen Blättern veröffentlicht war.

Daß sie nur ein blödsinniges Kind hatte, schmerzte sie indessen damals tief, und als bei einer zweiten Niederkunft ihr halbbetrunkener Mann sie wiederum auf das Brutalste behandelte, war ihre Geduld endlich nach elfjährigen Leiden erschöpft; sie beantragte in Chicago Scheidung und erlangte sie.

Ehe das geschah, ereignete sich ein Wunder. Ihr blödsinniger Sohn war krank. Als sie von einem Besuch ihrer Patienten zurückkehrte, hörte sie, daß der Knabe seit zwei Stunden todt sei. „Nein,“ rief sie, „er darf nicht todt sein!“ Sie entblößte ihre Brust und drückte den erkalteten Körper ihres Kindes gegen denselben. So blieb sie sieben Stunden in magnetischer Verzückung. Als sie daraus erwachte, war das Kind in Schweiß und lebte. Sie glaubt fest, „daß der Geist Christi über der leblosen Gestalt brütete und einem bekümmerten Weibe zu Liebe das Wunder des Lazarus wiederholte.“

Als Victoria in St. Louis war, consultirte sie wegen seiner Gesundheit Oberst James H. Blood, Commandeur des sechsten Missouri-Regiments, der nach dem Kriege zum Stadt-Auditor von St. Louis gewählt und zugleich auch Präsident der Spiritualisten-Gesellschaft dort wurde. Oberst Blood war ebenfalls „der gesetzliche Theilhaber einer moralisch getrennten Ehe“, das heißt auf deutsch: er lebte getrennt von seiner Frau, ohne von ihr geschieden zu sein.

Kaum sah der eine Humbug den anderen, als der weibliche – Madame Woodhull – in magnetische Verzückung verfiel und in derselben dem überraschten Obersten offenbarte, daß ihr zukünftiges Schicksal mit dem ihrigen werde durch die Ehe verbunden werden. So wurden sie auf der Stelle „durch die Mächte der Luft“ miteinander verlobt. Man sagt, daß außer dieser luftigen Ceremonie auch eine irdisch gesetzlich bindende stattgefunden habe, daß die Ehe aber mit gegenseitigem Einverständniß nach den vom Gesetz des Staates Illinois erforderlichen Formen wieder aufgelöst sei. Ich denke, es kommt nicht viel darauf an. – Nach dem Beispiel berühmter Schauspielerinnen behielt sie indessen den Namen, unter welchem sie Berühmtheit erlangt hatte, und nannte sich und nennt sich noch Mrs. Woodhull.

Als das seltsame Paar, etwa ein halbes Jahr nach seiner würdigen Vermählung, in Cincinnati war, wurden Beide einst um Mitternacht geweckt und ihnen mitgetheilt, daß im Burnet-House ein Dr. Woodhull vom Delirium tremens befallen sei, der in lichten Momenten von der Frau geredet habe, von der er geschieden worden sei und die er zu sprechen wünsche.

Oberst Blood holte den Unglücklichen sogleich aus dem Hôtel ab und das spirituelle Ehepaar behielt den an zu viel Spiritus zu Grunde gegangenen Ex-Ehemann sechs Wochen bei sich; dann versah man ihn mit einigen Hundert Dollars und schickte ihn in eine andere Stadt, ihm indessen bedeutend, daß er stets als Hausfreund willkommen sein werde. Von dieser Erlaubniß machte der arme Trunkenbold stets Gebrauch, wenn sein Geld zu Ende war, und Mrs. Woodhull lebte oft und lange mit ihren zwei Quasi-Männern zusammen. Obwohl ihr solch nobles Betragen hoch angerechnet werden sollte, hat es im Gegenteil Veranlassung zu der scandalösesten Verleumdung gegeben, was Mrs. Woodhull jedoch nicht bewogen hat, ihn, dessen Namen sie trägt, in seinem Unglück zu verstoßen.

Um eine frühere Prophezeiung zu erfüllen und einen himmlischen Auftrag ausführend, gründete Mrs. Woodhull 1869 eine Bank und ein Journal, erstere unter der Firma „Woodhull, Clafflin u. Comp. Makler, 44 Broad-Street, New-York“ und die Zeitschrift wurde „Woodhull u. Clafflin’s Wochenschrift“ genannt.

Mrs. Woodhull errichtete dies Geschäft in Compagnie mit ihrer Schwester, unterstützt durch einen reichen, wohlbekannten Herrn, Commodore Vanderbilt, und man kann sich denken, welches Aufsehen die „weiblichen Makler“ erregten und wie man sich darüber lustig machte. Das Comptoir war stets voll Neugieriger und die Blätter waren gefüllt mit Carricaturen und mehr oder weniger witzigen Artikeln. Das Journal ist ein Sammelsurium des absurdesten Zeuges, welches Geister, die Verfasser der verschiedenen Artikel, nur zusammenstoppeln können, und selbst Herr Tilton, der bezahlte Bewunderer der neuen Prophetin, kann sich nicht enthalten, den mitarbeitenden Geistern etwas mehr Geist und Methode zu wünschen.

Oberst Blood ist nach seiner eigenen Aussage ein Kosmopolit oder eigentlich ein Radicaler von der radicalsten Sorte und Verehrer der Internationalen. Dreimal die Woche um elf oder zwölf Uhr Nachts, so schreibt er an einen Freund, halten Victoria und er Parlament mit den Geistern, von denen Beide Alles gelernt haben, was sie wissen. Victoria fällt in magnetischen Schlaf, während welches ihr Schutzgeist Besitz von ihrer Seele nimmt und durch ihre Lippen Gedanken und Rathschläge ausspricht, welche der Oberst niederschreibt und die ohne weitere Correctur abgedruckt werden. Auf diese Weise hat Victoria ihre gegenwärtige Stellung als Politiker und Nationalökonom erworben.

Als sie im December 1869 in tiefem Schlafe lag, setzte sich ihr griechischer Schutzgeist an ihr Bett und schrieb auf eine Rolle das merkwürdige Document, welches nun in der Geschichte als das „Memorial der Victoria Lady Woodhull“ bekannt ist. Die Worte waren so deutlich geschrieben, daß Victoria sie nicht nur lesen, sondern sogleich ihrem immer wachsamen Secretär und Vicegemahl dictiren konnte. Das Document war eine Petition an den Congreß, in welcher für die Frauen als „Bürger der Vereinigten Staaten“ das Stimmrecht verlangt wird.

Oberst Blood schien das Manifest so verrückt, daß er es für den Streich eines übelgesinnten Geistes hielt, und als dasselbe am Morgen einigen Freunden gezeigt wurde, unter denen sich ein bekannter Jurist befand, machten alle dessen Logik und Schlußfolgerungen lächerlich. Mrs. Woodhull nahm aber ihren treuen Demosthenes in Schutz, der sie noch nie im Stiche gelassen habe,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_226.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)