Seite:Die Gartenlaube (1872) 115.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Weimar und in den Herzogthümern Meiningen, Koburg-Gotha und Altenburg, diese in dem Königreich Sachsen, noch heute bestehen. Ihr Gesammtgebiet dehnte sich in Mittel- und Norddeutschland zwischen dem Erzgebirge, dem Harz, der Rhön und zu beiden Seiten des Thüringer Waldes aus und hatte unter Ernst’s Söhnen, Friedrich dem Weisen und dessen Bruder Johann dem Beständigen, alle Anwartschaft, für das deutsche Reich die Macht zu werden, welche später Preußen geworden ist.

Die Kurwürde kam bei jener Theilung an die Ernestinische Linie. Da brach, unter Friedrich dem Weisen, die Reformation aus und hob die Ernestinischen Fürsten an die Spitze dieser welterschütternden Bewegung, begründete aber zugleich in den Habsburgischen Kaisern jenen Haß gegen dieselben, der, im Bunde mit Gewalt und List, schon dem vierten Ernestinischen Kurfürsten die Kurwürde sammt Land und Freiheit raubte. Dies geschah Johann Friedrich dem Großmüthigen, dem Sohne Johann’s des Beständigen, nach der Entscheidungsschlacht des Schmalkaldischen Kriegs bei Mühlberg (1547). Es war nicht die Schuld des Kaisers, daß auf dem bereits aufgerichteten Schaffot des Besiegten Haupt nicht fiel, sondern Brandenburgs Einspruch bewirkte dies. Nach fünfjähriger Gefangenschaft kehrte er heim – aber in welches Land! Von dem einstigen kurfürstlichen Gebiet war seinen Kindern nichts geblieben, als das, was annähernd jetzt noch die „Ernestinischen Lande“ ausmacht; alles Uebrige (etwa die jetzige preußische Provinz Sachsen) mit der Universität Wittenberg erhielt sammt der Kurwürde als kaiserlichen Lohn für seinen Verrath an seinen Stammverwandten der Albertiner Moritz, der erste deutsche Fürst, der zu seinem zweiten Verrath, gegen den Kaiser selbst, auf die Hülfe desselben Frankreichs speculirte, das dritthalbhundert Jahre später auf den albertinischen Kurhut eine Königskrone setzte.

Der Sohn dieses unglücklichen Fürsten war unser Herzog Johann Friedrich der Mittlere. Durch diesen kurzen geschichtlichen Rückblick ist dem Leser sicherlich wenigstens die eine Möglichkeit erklärt: daß der Sohn eines geächteten Fürsten aus Theilnahme und Schicksalsverwandtschaft der Beschützer eines geächteten Ritters werden konnte. Wie aber dieses Beschützerverhältniß sich in einen so engen Bund verwandelte, daß der Fürst den Geächteten, dem Reich und Kaiser zum Trotz, auf seiner Heldburg vor aller Welt mit und neben sich bildlich verherrlichen und sich bis zu den kühnsten gemeinschaftlichen Racheplänen hinreißen lassen konnte, das wollen wir in einem zweiten Artikel darlegen.




Blätter und Blüthen.


Auf dem Straßburger Münster.[1] Kaiser Karl der Fünfte hatte einst mit prophetischem Scharfblicke gesagt: „Wenn die Franzosen vor Straßburg ständen und die Türken vor Wien, so würde ich Wien fahren lassen und Straßburg retten.“ So dachte das deutsche Volk, so sangen die deutschen Dichter, so oft ihr Blick auf Straßburg, die wunderschöne Stadt, und auf das verlorene Palladium fiel. Kurz vor dem Beginne des Krieges hatte ich im Wächterhäuschen des Münsterthurms das tyrtäische Wort gelesen:

Ist’s, wo der Rhein um Straßburg klagt?
Ist’s, wo der Münster mahnend ragt?

Als die Sieger von Wörth mit freundlichen Grüßen und fröhlichen Gesängen unsere Dörfer durchzogen, fragten sie uns im Liede von „Fritze und Mac-Mahon“:

Wird von Straßburgs Münsterhöhen
Bald die deutsche Fahne wehen?

Aber schon früher hatte ein elsässischer Sänger, der die Klänge des deutschen Alphorns vernommen, den Münster begrüßt

Ei so weht nur, welsche Fahnen!
Aus der Nacht entsteigt der Tag,
Wo empor der deutsche Adler
Sich erhebt mit mächt’gem Schlag,
Wo er schlägt die scharfen Klauen
In des Domes Felsenkleid
Und verkündet siegesjubelnd
Deutschlands neue Herrlichkeit!

Der Altan des Münsters war das Rütli, auf welchem die Bannerträger des deutschen Liedes aus allen Gauen des Rheinthales sich zusammenfanden. Hier wehte deutsche Luft; hier beschloß man, „mit den gold’nen Aepfeln der deutschen Literatur auch die silberne Schale der Muttersprache festzuhalten“; hier wurde die goldene Brücke gebaut, welche den Wasgau mit dem Schwarzwalde verbinden und den Uebergang von einer sturmbewegten Vergangenheit zu einer schönern Zukunft erleichtern sollte. Wohl wußten die deutsch-alsatischen Dichter, daß sie gegen die Strömung kämpften und daß der fremde Zauber die Jugend gewaltsam über die Berge lockte. Als Prediger in der Wüste klagten sie dem treuen Eckart ihres Volkes, dem vaterländischen Dome, was sie unter dem Damoklesschwerte der bonapartistischen Regierung verschweigen mußten. Sehnsuchtsvoll wendet sich Theodor Klein an den Wächter der deutschen Nationalität:

Du aber blickst so trübe, mein Münster riesengroß,
Herab zur alten Reichsstadt bunt wimmelvollem Schooß:
Was ist es, das so sehr doch in Trauerflor dich hüllt?
Was ist es, das so sehr doch mit Wehmuth dich erfüllt?

Mit freudigerer Zuversicht bestiegen andere Sanggenossen die Felsenzinne, von welcher sie das gelobte Land schauen durften. In schlichter allemannischer Mundart warf der Drechslermeister Daniel Hirtz den romanisirten Elsässern den Fehdehandschuh hin:

So lang’ noch unser Münster steht
– Un dies isch kerngesund –
An d’ Muettersproch nit untergeht;
Denn viel gäng duoh zue Grund!

August Stöber theilte dieselbe Hoffnung, welche dieses Denkmal deutscher Kunst und deutscher Kraft in seinem Herzen erweckte:

Fest wurzelt es im Heimathgrunde,
Der Väter Sinn und Geist vertraut,
Und wahrt in des Alsaten Munde
Auf ewig deutschen Wortes Laut.

Mit der Vorliebe für deutsche Sprache und Literatur prägte sich das deutsche Selbstgefühl immer schärfer in den Herzen unserer Dichter aus. Der Münsterthurm, der so gewaltig von Deutschlands großer Vergangenheit zeugte, war in ihren Augen ein Symbol des deutschen Reichs.

So war auch einst das deutsche Reich,
So war der deutsche Mann:
Aus starkem Grund, im Herzen reich,
Das Haupt zu Gott hinan.

Auf der Zinne des Tempels hört August Stöber die Grüße und die Klagen, welche die nachbarlichen Gebirgsketten tauschen:

Der Wasgau schüttelt seine Eichen,
Der Schwarzwald rauscht im Tannenkleid;
Seid euch verwandt, und nimmer schweigen
Will eurer Sehnsucht tiefes Leid.

In nächtlicher Stille vernimmt der Dichter das geheimnißvolle Flüstern zwischen dem Straßburger Münster und der Freiburger Pyramide:

Ihr haltet Zwiesprach dann, ihr lauscht den Klagen
Des Heimwehs um die längst vergang’ne Welt.
Propheten seid ihr, seht die Wunden schlagen,
Und wisset, was das Heil gebunden hält!

Aber der Straßburger Dichter Daniel Hirtz fühlte wohl, daß der Friede des Festlandes nicht durch platonische Wünsche, sondern durch die Wiedervereinigung aller deutschen Stämme gesichert würde. Während ultramontane Eiferer und ultralutherische Wühler in gehässigem Wetteifer die freundlichen Verhältnisse der Elsässer mit den Nachbarstaaten Baden und Basel mit Argusaugen bewachten, sang der wackere Meistersänger auf der schwindelnden Höhe der Münsterkrone:

Nicht Grenzen sollten scheiden
Dies bied’re Volk, dies Land.
Fürwahr! ‘s wär’ zu beneiden,
Umschläng’s ein festes Band!

Verwächst zu einem Stamme
Dies Volk einst und dies Thal,
Glüht eine Freudenflamme
Auf Erwin’s Ehrenmal!

Unter einem ganz andern Flammenzeichen sollten die deutschen Krieger in die alte Reichsstadt einziehen. Wie blickten die Vorkämpfer der straßburgischen Freiheit, Gutenberg, Sturm und Kleber so finster in die Gluth, welche ihnen in der Bartholomäusnacht des Jahres 1870 vom Münsterdache, von der Stadtbibliothek und von der Gemäldegalerie unheimlich entgegenleuchtete! Noch finsterer waren die Mienen der Straßburger, welche den unchristlichen Schwur wiederholten: „Wenn unser Palladium, das Münster zerstört wird, so trennt uns eine unübersteigliche Scheidewand von den preußischen Vandalen!“ Doch der königliche Thurm stand im Bombenregen, als wäre er gefeit gegen die vernichtenden Geschosse. Wohl zeigte man uns die tiefen Wunden, die dem Riesen geschlagen wurden, und mit Schadenfreude durfte der französische Schriftsteller Michelet berichten, daß die badischen Soldaten den französischen Münster, den Nebenbuhler des Freiburger Domes, zertrümmern wollten. Allein die Väter der Stadt erinnerten die unversöhnlichen Chauvinisten an die Gräuelthaten, welche einst die Jakobiner im altehrwürdigen Tempel verübt hatten.

Am 30. September 1681 hatte die protestantische Bürgerschaft mit dem Klageliede „Aus tiefer Noth schrei’ ich zu dir“ Abschied von den Münsterhallen und von dem deutschen Reiche genommen. Am 30. September 1870 betraten die deutschen Krieger den vaterländischen Dom und wiederholten tiefgerührt den Siegespsalm, mit welchem sie in der Morgenstunde den Feldgottesdienst begonnen hatten („Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’“). An jenem Freitage leuchtete die Herbstsonne in verjüngter Kraft und die alten sächsischen und hohenstaufischen Kaiserbilder in den farbigen Fenstern

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_115.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)