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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

kräftiger Natur und mit einer dominirenden Haltung machte er den Eindruck eines Mannes, der zum Herrschen geboren sei. Er schien es sich angelegen sein zu lassen, einen guten Eindruck auf uns zu machen; jedoch bemerkte ich öfter an ihm einen lauernden Blick, als gebe er sich Mühe, unsere Gedanken zu lesen. Der Doctor führte die Unterhaltung fast ganz allein, und es hielt schwer, dem Sinne seiner Rede zu folgen. Er sprach in einem salbungsreichen Predigertone mit einer fabelhaften Suade, meistens in ganz allgemeinen Sätzen, und wich allen directen Fragen geschickt aus. Wenn ich ihm zehn Minuten lang zugehört hatte, so war ich am Ende derselben oft nicht viel klüger als vorher. Besonders gewählt war seine Redeweise nicht, und er bediente sich häufig Wörter, halb englisch und halb deutsch, wie ungebildete Deutsch-Amerikaner zu thun pflegen.

Während wir durch den Obstgarten wanderten, über dessen Schönheit und praktische Anlage ich erstaunen mußte, gab uns der Doctor eine Vorlesung über Colonisirung, Ackerbau, Gärtnerei, Obstzucht etc., die er mit frommen Zwischenbemerkungen zu würzen liebte. Mit Stolz wies er darauf hin, daß alles Dieses sein Werk sei, und beschrieb, wie er die Wildniß in einen Garten verwandelt habe. Im Jahre 1856 sei er mit vierzig Nachfolgern als Abgesandter der communistischen Stammgemeinde von Bethel im Staate Missouri nach Oregon gekommen, um hier in dem damals wenig bekannten äußersten Westen eine Zweigcolonie zu gründen. Jetzt sei er Präsident sowohl von der Gemeinde zu Bethel als von der Colonie Aurora. Jene zähle gegenwärtig etwa vierhundert, die hiesige vierhundertzehn Seelen.

Als er zuerst diese Gegend betreten, hätte er das ganze Land, welches die jetzt so blühende Colonie Aurora besitze, von Sumpf und Urwald bedeckt gefunden. Statt sich aber auf den weiter südlich gelegenen Prairien zwischen fremden Ansiedlern niederzulassen, habe er einen Wohnsitz mit seinen deutschen Brüdern allein im Urwald vorgezogen; hier hätte er, der damals wenig bemittelt gewesen sei, genug freie Ländereien von der Regierung der Vereinigten Staaten als Heimstätten für seine Colonisten umsonst erlangen können und habe zugleich in dem Holze der Bäume ein Capital gefunden, das sich gleich verwerthen ließ. Zunächst hätte er ein Blockhaus gebaut zum Schutze gegen die damals in dieser Gegend feindlich gesinnten Indianer; dann habe er eine Sägemühle errichtet, Bauholz schneiden lassen und theils Häuser für seine Colonisten davon erbaut, theils damit einen einträglichen Handel mit seinen amerikanischen Nachbarn eröffnet, die, auf den Prairien wohnend, bald für ihren ganzen Holzbedarf auf ihn angewiesen worden wären. Das von Bäumen gelichtete Land habe er in Obstgärten und Aecker umgewandelt. Die besseren Obstsorten habe er zum Verkauf nach Portland und San Francisco verschifft, aus den sauren Aepfeln dagegen entweder Essig fabricirt, oder dieselben an die älteren Ansiedler verkauft, die sich bald krank daran gegessen hätten. Dann wäre er als Arzt zu ihnen gegangen und hätte sie gegen gute Bezahlung vom Fieber wieder curirt. Diesen Scherz erzählte der berühmte Doctor mit besonderm Wohlbehagen.

Nach und nach, fuhr der Doctor fort, habe sich die Kopfzahl seiner Colonie vergrößert; er hätte dann mit vermehrten Mitteln und Arbeitskräften eine Gerberei, eine Spinnerei, Webstühle, Mehlmühlen etc. eingerichtet, mehr Wohnungen für die Colonisten gebaut, die Waldungen gelichtet und die Sümpfe trocken gelegt, seine Obstgärten vergrößert, neue Farmen angelegt, für Verschönerungen Sorge getragen, eine Kirche und Schulhäuser gebaut, den in der Nähe der Colonie ansässigen Amerikanern ihr bestes Land für Spottpreise abgekauft etc. Alles betreibe er systematisch. Seine Colonisten verwende er stets zu solcher Arbeit, wozu sie ihm am tauglichsten schienen. Jeder finde für seine Fähigkeiten den angemessensten Platz. Wer nicht thue, was er wolle und wie er es anordne, der müsse wieder fort aus der Colonie. Widerspruch dulde er nicht. Er mache das beste Leder, die besten Schinken und ziehe das beste Obst in Oregon. Die Besitzungen der Colonie, welche er nach Kräften vergrößere, erstreckten sich bereits über zwanzig Sectionen (die Section über sechshundertvierzig Acker, gleich einer englischen Quadratmeile), und überall herrsche die schönste Ordnung auf denselben.

Unter derartigen Gesprächen durchwanderten wir den gegen vierzig Acker großen Obstgarten. Von den achttausend darin stehenden Bäumen werden jetzt bereits jährlich an fünftausend Scheffel ausgesuchte Aepfel und achttausend Scheffel der trefflichsten Birnen geerntet, und der Ertrag wächst von Jahr zu Jahr. Der Doctor wies wiederholt auf den Vorzug seiner Anlagen hin, im Gegensatze zu ähnlichen bei den Amerikanern. Diese ließen überall das Unkraut unter den Bäumen wuchern, wie es wolle, und von Ordnung oder gar von gefälligem Schmuck sei bei ihnen nicht die Rede. Er dagegen halte nicht weniger auf Sauberkeit und Ordnung, als auf Schönheit. Und so war es in der That! Reinliche Wege durchschnitten die Anlagen; frische Rasenplätze, Blumenbeete, reizende schattige Lauben begleiteten uns auf Schritt und Tritt. Lange Beete waren mit den prächtigsten Büschen von Johannisbeeren, Stachelbeeren, Himbeeren etc. bepflanzt, große Strecken mit Reihen von Rebstöcken besetzt, an denen einladend die saftigen Trauben hingen. Die Fruchtbäume standen alle nach Arten geordnet; hier viele Acker voll von Aepfelbäumen, dort andere mit Birnbäumen, Aprikosenbäumen etc. bepflanzt, darunter das Unkraut ausgerodet und der Boden rein geharkt, – Alles in schönster Ordnung. Ein Hofgärtner eines deutschen Fürsten hätte seine Freude daran gehabt!

Wir nahmen in einer schattigen Laube Platz, wo uns der Doctor seine Religion zum Besten gab. Bei ihm, sagte er, gelte kein besonderer Bücherglaube; er habe Protestanten, Katholiken, Methodisten, Baptisten, Christen von allen Sorten, auch Juden in der Colonie. Jeder könne glauben, was er Lust habe; Er predige aber nur den reinen Naturglauben, und wer darnach handle, der sei glücklich. Dann sprach er mit großer Breite über den Wohlstand der Colonie, der durch den Glauben an die Natur begründet sei, über Demuth, Nächstenliebe, Gemüth, Religion im Allgemeinen, und wieder über Natur und sich selbst, daß mir der Kopf davon zuletzt ganz wüst ward. Meine Zwischenfragen über die innere Organisation der Colonie hatte ich längst in Verzweiflung ganz fallen lassen, da der Doctor entweder gar keine oder ausweichende Antwort darauf gab. Seine Colonisten, betonte der Doctor, liebten ihn wie einen Vater und er sorge für dieselben. Beides war unzweifelhaft der Fall; die hohe Ehrfurcht, mit der die Colonisten, denen wir gelegentlich begegneten, vor dem „Doctor“ den Hut lüfteten (eine Begrüßungsweise, die in Amerika gar nicht Sitte ist), zeugte von ungemessener Hochachtung – uns grüßten dieselben als vornehme Fremde, die der Doctor mit seiner Gesellschaft auszeichnete, mit großem Respect –; und den außerordentlich blühenden Zustand der Colonie mußte Jeder, der dieselbe sah, zugeben. Daß der Doctor bei Alledem hauptsächlich für sich selbst gesorgt hatte, war dabei ein Hintergedanke, der sich Einem von selbst aufdrängte.

Als wir den Obstgarten verlassen hatten, zeigte uns der Doctor mehrere in der Nähe liegende, mit deutscher Ordnungsliebe bebaute ausgedehnte Kornfelder, welche mit freundlichen Wohnhäusern abgeschlossene Farmen bildeten. Der Durchschnittsertrag des Bodens, bemerkte er, betrage fünfundzwanzig bis vierzig Scheffel Weizen und vierzig bis fünfzig Scheffel Hafer pro Acker. Dann führte er uns in den angrenzenden Wald, nach einem Platze, wo, wie er sagte, die Feste der Colonie abgehalten würden. An einem mit Rasen bedeckten Hügel, der von einer Art Baldachin überdeckt und von einem Graben umschlossen war, machten wir Halt. Dieser sogenannte „Tempelhügel“ bildete den Ausläufer für eine Anzahl sich fächerartig von ihm im Walde verzweigender geradliniger Wege. Nicht weit davon bemerkte ich einen Tanzboden unter einem ringsum offenen Dache, auch eine Tribüne für die Musik. „Bei Volksfesten,“ erklärte der Doctor, „lasse ich Nachts alle jene vom ‚Tempel‘ sich fächerartig verzweigenden Wege mit bunten Laternen erleuchten und illuminire den Tempel, der dann in seiner Flammenpracht einen überaus imposanten Anblick gewährt. Wenn wir hier unser Maifest feiern, so ist das nach Dunkelwerden ein Schauspiel wie aus tausend und einer Nacht, und wenn dabei die Musik spielt und fröhlicher Gesang erschallt und das junge Volk sich beim Tanze vergnügt, so ist das eine wahre Freude! Auf den Tempelberg darf aber Niemand hinaufsteigen und kann es auch so leicht nicht thun. Warum, glauben Sie wohl, meine Herren?“ – fügte er fragend hinzu. Mein Freund Körner meinte, daß der Graben wohl die Ursache sei, über den man nicht leicht hinüberspringen könne, welcher Ansicht ich beipflichtete. – „Geradeso!“ – bemerkte der Doctor. „Dieser Tempelberg hat eine sinnige Bedeutung. Er stellt das souveraine Volkshaupt vor, dem Niemand auf den Kopf treten darf; – deshalb ist der Graben da.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_095.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)