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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

elf Uhr ist das Concert zu Ende. Wir haben schon bemerkt, daß bei solchen Hofconcerten keine Zeichen des Mißfallens laut werden dürfen, ebenso muß aber auch der Beifall sich stumm verhalten, nur die Königin läßt mitunter ein halblautes „Charmant!“ oder „Magnifique!“ ertönen. Nach dem Concertschluß werden die Sängerinnen durch den Hofmarschall einzeln vor die fürstlichen Damen geführt, wo sie den vorschriftsmäßigen Soiréeknix zu machen und für ihren Gesang die von der Hofetiquette vorgeschriebenen Lobsprüche einzuheimsen haben.

Nach dem Schlusse des musikalischen Programms öffnet sich eine Gardine im Hintergrunde des Saales, eine kleine Bühne wird sichtbar und die französische Komödie nimmt ihren Anfang, Punkt zwölf Uhr meldet der Hofmarschall, daß das Souper im Speisesaal angerichtet sei. Der König bezeichnet nunmehr dem Hofmarschall um zwölf Uhr erst jeden Einzelnen, der zur Tafel „befohlen“ werden soll. Diejenigen, an denen Graf Perponcher, ohne sie einzuladen, vorüber geht, schleichen sich, wie Petrus, nachdem der Hahn zum dritten Mal gekrähet hatte, hinaus, nicht aber, um bitterlich zu weinen, sondern gewöhnlich, um bei Carl Heller, Restaurant erster Classe, à Couvert einen Friedrichsdor, ziemlich mittelmäßig zu soupiren. Die Hofetiquette wirft übrigens wunderbare Blasen. So wird z. B. zum Singen „Frau Lucca“, nach Beendigung des Concerts und der Theatervorstellung jedoch „Frau Baronin von Rhaden“ zur Tafel „befohlen“. Gegen ein Uhr entfernen sich die Majestäten. Bald darauf deckt tiefes Dunkel die goldenen Räume und die „weiße Frau“, das bekannte Schloßgespenst, kann ungestört und unbelauscht ihren Umgang durch die Gemächer halten.




Unsere vermißten Soldaten.


Am achten Januar d. J, veranlaßte im preußischen Landtage eine Interpellation des Abgeordneten Richter von Hagen den Kriegsminister zu einer Darlegung Dessen, was von Seiten der preußischen Regierung in Bezug auf die Vermißten geschehen ist. Richter hatte zwei Fragen gestellt: 1) „Wie groß ist gegenwärtig noch bei der preußischen Armee die Zahl der aus dem letzten Kriege Vermißten?“ 2) „Welchen Umständen schreibt es die königliche Staatsregierung vornehmlich zu, daß über das Geschick dieser Personen Näheres nicht hat ermittelt werden können?“ In seiner warmen und schönen Interpellationsbegründung zog sich derselbe, weil er das Verdienst der „Gartenlaube“ um diese Angelegenheit erwähnte, ein „Murren rechts“ zu, über das er und wir uns zu trösten wissen. Dagegen können wir nicht verschweigen, wie schmerzlich eine Aeußerung des Ministers uns berührte, und zwar die: daß er beim ersten Anblick der Interpellation diese Frage für müßig gehalten habe. Wir kennen das Herz des verdienten alten Generals und wissen, daß es in diesem Kriege selbst den Vaterschmerz über den Verlust eines tapferen Sohnes zu tragen hatte; eben deshalb sind wir überzeugt: hätte er nur ein Dutzend von den Briefen der Angehörigen unserer Kriegsvermißten, wie sie jetzt zu Hunderten vor uns liegen, diese Briefe voll herzzerreißendsten Jammers gelesen, er würde gewißlich „diese Frage“ nicht „für müßig“ gefunden und auch den Zeitungen nicht den Vorwurf gemacht haben, daß sie diese Vermißtensache nur benutzten, „um etwas Interessantes, etwas Effecthaschendes zu bringen“. Den Zeitungen gebührt vielmehr die Anerkennung, daß sie die Interpellation veranlaßt haben, und daß diese allein erst den Herrn Minister veranlaßte, Umfrage nach der Zahl der Vermißten zu halten, gesteht er selbst mehrmals in seiner Erklärung ein, ja er gesteht sogar ein, daß diese Erklärung ohne jene Interpellation wohl unterblieben wäre. Warum aber dann den Zeitungen Vorwürfe darüber machen, daß sie noch an deutsche Gefangene in französischer Gewalt glauben und die Hoffnung der Angehörigen auf deren Erlösung theilen, wenn die bessere Kunde, in deren Besitz die Regierung allein ist und sein kann, der Oeffentlichkeit vorenthalten wird? Warum wird z. B. die Liste der „etwa hundert“ noch in Frankreich liegenden nichttransportablen Verwundeten und Kranken nicht ebenso veröffentlicht, wie es s. Z. mit den Verlustlisten nach jedem Kampfe geschah? Nicht bloß die Angehörigen, die ganze deutsche Nation hat ein Recht darauf, über Alles, was seine „Vermißten“ angeht, belehrt und soweit es möglich durch die Kunde von den Schritten der Reichs- wie jeder Einzelregierung für dieselben beruhigt zu werden. So lange dies nicht oder unvollständig geschieht, bleibt es die Pflicht der Presse, ihre Thätigkeit auf diesem traurigen Felde fortzusetzen, auch wenn sie weiter nichts bezweckte, als für die Angehörigen nach Ort und Art des Todes ihrer Söhne, Väter, Brüder und Freunde zu forschen.

So lange die Todeserklärung aller Vermißten noch nicht erfolgt ist, hat diese Nachforschung auch ihre praktische Seite für diejenigen Angehörigen, welchen die Auszahlung der für Wittwen, Waisen und Eltern der Todten bestimmten Pension vorenthalten, d. h. von der Beibringung eines Todtenscheins abhängig gemacht wird. Es ist gewiß hart, daß diese Verfügung gerade die beklagenswerthesten Opfer des Kriegs trifft, denen die heilende Zeit nicht die Wunde des Schmerzes über einen Todten verschließt, sondern die fortwährend offen erhalten wird durch die schreckliche Ungewißheit über das Schicksal des Vermißten.

Die Zahl der Vermißten hatte der Herr Kriegsminister vor der Interpellation auf etwa 13–1400 geschätzt; die Umfrage in Folge derselben stellte sie für die Armee des norddeutschen Bundes einschließlich des badischen Armeecorps und der hessischen Division, jedoch mit Ausschluß des sächsischen Armeecorps auf 3241 fest. Nimmt man die Zahl der vermißten Baiern, Sachsen und Württemberger noch so gering an, so wird die Gesammtzahl der deutschen Vermißten sicherlich weit über 4000 steigen, und das ist eine schreckliche Zahl für den einen und kurzen Krieg sind läßt auf die Summe von Jammer und Elend schließen, welche dadurch über die Tausende der Angehörigen daheim gekommen ist.

Solchen Zahlen gegenüber erscheint freilich unsere Thätigkeit und ihr Erfolg fast kleinlich; und doch ist der Erfolg größer, als wir erwartet hatten. Wir theilen die bis jetzt auf unsere Anfragen erhaltene Auskunft mit, schicken dieser Liste aber Einiges aus den uns zugegangenen Briefen und Berichten von allgemeinem Interesse voraus.

Zur Erklärung vieler Fälle von plötzlicher Verschollenheit ist die Belehrung geeignet, die uns von dem Privatdocenten Dr. ph. A. v. Koenen zukommt, der mit einem Sanitätscorps nach Frankreich zog und an verschiedenen Kriegsplätzen, in Lazarethen, in der Evacuation, unter Johannitern und selbstständig thätig war. Er schreibt:

„In den Listen der noch ‚vermißten Soldaten unseres Krieges‘, in der Gartenlaube, finden sich wiederholt Anmerkungen mit Worten des Erstaunens, wie ich sie auch sonst häufig von Privatpersonen gehört habe, nämlich darüber, daß Soldaten spurlos verschwinden konnten und zwar aus Lazarethen etc., nicht blos während des Gefechtes. Für Denjenigen, welcher die Verhältnisse genauer kennen gelernt hat, ist die Möglichkeit eines solchen Verschwindens freilich sehr leicht erklärlich.

Verfolgen wir, um dies darzuthun, den verwundeten N. N. aus der Schlacht, z. B. der bei Gravelotte, bis in die Heimath.

Von den Krankenträgern aus dem Gefecht nach dem Verbandplatze gebracht, wird N. N. hier theilweise entkleidet, und schon hier oder später bei einem Wechseln der Wäsche kann er leicht seine Blechmarke, sein ‚Todtenglöckchen‘ verlieren, oder absichtlich ‚als üble Vorbedeutung‘ entfernen. Nach Anlegung des ersten Verbandes, beim Transport nach dem nächsten Hause, das in der Noth als Lazareth dienen muß, wird N. N. wohl gar mit Uniformstücken eines andern Soldaten von einem andern Regimente oder gar Truppentheil bedeckt oder bekleidet; verliert er das Bewußtsein, resp. stirbt er hier bald, so ist er verschollen. Haben die Krankenträger ihn zufällig persönlich gekannt, so wird er in der Verlustliste als ‚Verwundet‘ genannt, andernfalls als ‚Vermißt‘.

Aber selbst wenn N. N. in jenem Nothlazareth bei Sinnen blieb, auch wohl von Cameraden besucht wurde, so war er noch nicht vor dem Verschwinden gesichert. Sobald wie nur irgend möglich wurden aus den mit Verwundeten überfüllten Dörfern alle ‚Transportfähigen‘ rückwärts resp. nach geeigneteren Orten evacuirt, ohne daß es, in den ersten Tagen wenigstens, möglich war, eine ganz genaue Liste der zu Evacuirenden aufzunehmen. Dabei wollte jeder einzelne transportabel sein, wollte ‚nach Deutschland‘, ‚nach Hause‘.

Die Fuhrleute, oft Franzosen mit requirirten Wagen, wissen natürlich nicht, wen sie fahren, und wenn N. N. unterwegs stirbt, wie dies ja leider öfter vorgekommen ist, ohne daß irgend Jemandem eine Schuld beizumessen wäre, oder wenn N. N. im Lazareth erst besinnungslos wird resp. stirbt, ehe sein Nationale aufgenommen wurde, so ist er wiederum verschollen. So kam am 23. August v. J. unter einem Transport Verwundeter Einer besinnungslos

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_082.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)