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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Würmchen“ rühmt; aber um so interessanter sind mir die geistigen Fähigkeiten des „Ritters vom Oehr“ entgegengetreten. Ich halte ihn für das schlaueste aller Insecten-Subjecte, und alle meine Studien haben mich stets von Neuem auf die Zusammenstellung mit Meister Reinecke hingedrängt. Die empfindliche Spinne, die scharfsichtige Cicindela, die praktische Ameise, der vorsichtige Carabus, ja die berechnende Biene – sie alle und mir gegen den Ohrwurm wie Stümper und Ignoranten erschienen. Wenn die Augenblicke kommen – und das, meine ich, ist die Probe –, von denen jedes Wesen denkt, sie gefallen mir nicht, also in Gefahren, zumal bei Eingriffen der Menschenhand: da wird die Spinne, hat sie nicht gerade Eier zu schützen, feig und kopflos, die Cicindela kurzsichtig, die Ameise tollkühn, der Carabus tölpisch, die Biene tollkühn und – nur der Ohrwurm bleibt, wie er ist, nämlich vorsichtig, schlau, erfinderisch.

Ich setzte von allen jenen Thieren (außer der Biene), dazu von Fliegen, Käfern etc., eine Menge Exemplare in einen größern Glasbehälter, dessen Boden ich – wie das meine Hauptregel auch bei den kleinsten Behältern ist – mit Erde, Steinen, Blättchen und allerlei Grus dem natürlichen Erdboden möglichst treu nachbildete; denn nur so, nicht aber auf glattem, ebenem Glas- oder Holzboden, entfalten die Thiere ihr wahres Leben und Treiben wenigstens annähernd wie im Freien. – Nach etwa einstündigem, erbittertem Kampfgewirr wiesen alle Parteien mehr oder weniger Todte und Verwundete auf. Da lagen Spinnen, oft von den eigenen Verwandten am tollsten zerfetzt; Cicindelen und Carabusse hatten sich und allen Anderen wüthende Schlachten geliefert; Ameisen, ineinander verbissen oder von anderen Gegnern zerquetscht, hauchten langsam ihre zähe Seele aus. Und von den Lebenden liefen die Käfer stets denselben blödsinnigen Trab rings an der Glaswand herum, blind nur zufassend, wenn ein Hemmniß vorlag. Die Spinnen hatten sich meist nach oben geflüchtet, jagten aber auch hier einander, und nur allemal die größeren hatten den Muth, den kleineren dauernd zuzusetzen; oft aber flohen sogar die dicksten Kreuzjungfern entsetzt vor einer dummdreisten Fliege, die im Netze ihnen ja unrettbar verfallen wäre. Die Ameisen endlich, die den Streit am glühendsten geführt, fielen rasch der Ermattung zum Opfer. – Dagegen deckte aus der Cohorte der Ohrwürmer kein einziger als Leiche das Schlachtfeld; aalglatt wanden sie sich durch den dicksten Gefechtsknäuel durch, fortwährend den geschmeidigen Hinterleib mit drohend weitgeöffneten Zangen blitzschnell nach allen Seiten schnellend; die größten Widersacher wurden durch diese Akrobatenkniffe in Schreck und Furcht gesetzt. Verwundet waren freilich mehrere; einen hatte sogar des Cicindelenzahnes Schärfe halbirt. Aber auch diese wehrten sich noch, und selbst jenes Vordertheil that noch ebenso tapfer mit wie die unverletzten Gefährten. Nie griff ein Oehrling den andern an; höchstens machten sie – gleichsam zangenfletschend – gegen einander Front und „rempelten“, doch ohne ernstliche Attaque. Natürlich concentrirten sie, gleich allen anderen, sich oft genug rückwärts in die naheliegenden Schlupfwinkel; aber ebenso oft kamen sie wieder hervor, und namentlich beim Matterwerden des Streites griffen sie direct Fliegen, Spinnen und nicht allzu große Käfer an.

Endlich stellte sich eine verhältnißmäßige Ruhe ein. Und nun zeigte sich diese schlaue Bande als die einzige, welche – freilich nicht sehr moralisch – aus der Situation Nutzen zu ziehen verstand. Denn nun offenbarten die Bösewichter sich als die „Hyänen des Schlachtfeldes“, als die wahren Marodeure und Leichenschänder. Von allen Seiten, aus allen Löchern kamen sie nach und nach hervor und machten sich ohne viel Gewissensbedenken an die Todten und Verwundeten. Ja mitten in Kampfscenen saß Meister Oehrling ruhig am schauervollen Fraß; kam ein Feind nahe, so erhob sich sofort das drohende Zangenpaar, doch ohne daß die Kauwerkzeuge auch nur einen Moment gefeiert hätten. Ward der Spectakel zu arg, so schleppte er wohl die oft noch widerstrebende Beute bei Seite unter ein Blatt oder Steinchen; aber gar nicht immer nahm er sich diese Mühe, sondern nagte häufig genug auf freiem Felde fort. – Erst lange nachher folgten Spinnen und Käfer diesem bösen Beispiele. Trafen dann mehrere Räuber an einem Stück zusammen, so wichen vor den größeren Käfern die Ohrwürmer zwar meist zurück, aber doch auch nur langsam und drohend; zuweilen indessen hielten sie selbst dem überlegensten Gegner Stand, zerrten mit ihm hin und her, und mehrfach sah ich, daß selbst eine Cicindele vom Kampfe abstand. Eine Spinne nun gar, und wäre sie auch die größte gewesen, band regelmäßig nur zu eigenem Schaden mit dem Gesellen an, der sie sammt den Fliegen gegen Abend sogar aufsuchte und angriff. Setzte sich eine der Weberinnen zur Wehr und fuhr mit ihren auch nicht zu verachtenden Zangen zu, so barg der Ohrwurm stets im Nu den Kopf unter dem gänzlich nach vorn übergebogenen Hinterleibe, gegen dessen Zangenöhr der Spinnenbiß nichts ausrichten konnte. Im Netze habe ich freilich oft den Ohrwurm verloren gesehen, da die Spinne viel rascher ihn umstricken konnte. Doch waren auch die Fälle nicht selten, daß der Bursche sich mannhaft vertheidigte und seine Lanzen oft bis zur Wurzel in den weichen Spinnenleib versenkte, oder auch, daß er raschen und leichten Laufs über das Netz hinweg der Spinne entfloh, oder endlich sich mit der Kraft der Verzweiflung durch die Maschen riß und zur Erde hinabstürzte.

So behaupteten sich also in dem Behälter die Zangenritter durch Tapferkeit, vor Allem aber durch Umsicht und List, als die eigentlichen Meister der Arena und hielten, mitten unter Blut und Leichen, ein cannibalisches Siegesmahl, wie es ihnen vielleicht selten geboten war. Selbst jener noch immer muntere Halbirte schmauste wacker mit und schien es gar nicht zu verübeln, daß seine Hinterhälfte von seinen eigenen Cameraden mit verspeist wurde. An mich schienen die geriebenen Subjecte sich rasch gewöhnt zu haben. Fuhr ich ’mal mit dem Finger in die Gesellschaft hinein, so stoben Spinnen und Cicindelen erschreckt durcheinander; die Carabusse zogen sich, allerdings mit dem jeweiligen Raubstück, zurück; aber von den Oehrlingen blieben die meisten ruhig beim Schmause und erhoben auch gegen mich dräuend den Doppelspieß. Vielleicht hatten sie ein Gefühl, daß ich es war, der ihnen den Tisch so reichlich gedeckt hatte.

Allein Undank ist der Welt und zumal Reinecke’s Lohn. Als die Dunkelheit hereinbrach, begannen die nun satten Gesellen gegen meine Auspicien zu opponiren. „Wir sind nun voll und können nach Hause gehen!“ Das schien ihre Losung zu sein, die sie denn auch mit Energie und gleicher Klugheit zu realisiren strebten. Sie versuchten nämlich nun, an den glatten und dazu concaven Glaswänden hinauf zu klettern; lange vergeblich, bis endlich ein Hauptpfifficus auf den Einfall kam, nicht gerade, sondern seitwärts und im Zickzack sich hinaufzuschieben. Alle Minuten machte er Ruhepause, und so oft er auch herabfiel, stets begann er die Tour von Neuem und meist von derselben Operationsbasis aus. Und nicht genug, selbst hier am jähen Abgrund „sich leimend mit dem eig’nen Blut“, scheuchte er jede querkommende Fliege oder Spinne zurück; und wunderlich genug sah’s aus, wie dieser Jongleur mit den Füßen sich an die glatte Wand stemmte, sorglich jedes Stäubchen zum Anhaltspunkt ausnutzend, und mit dem langen Hinterleib herüberhing oder nach rechts und links schlenkerte. Dem Führer folgten denn alsbald mehr und mehr Cameraden und die Glaswand rings bot nun ein komisches Bild dar mit den hier und dort kletternden, ruhenden, purzelnden Oehrlingen und den dazwischen hindurch jagenden Spinnen, Fliegen und Käfern.

Da ich den Behälter durch einen Drahtdeckel mit übergreifendem Blechring geschlossen hatte, konnte ich unbesorgt diesen Kletterclub gewähren lassen und begab mich auf längere Zeit hinweg. Doch als ich wieder kam und Alles still, auch die Glaswand völlig leer fand – wer faßt mein Erstaunen, als ich bei Licht die Zahl der Oehrlinge nachzähle, die unten saßen, und „viele sah, die nicht da waren“! Wo sollten die geblieben sein? Wahrscheinlich unter all’ dem Grus. Um Gewißheit zu haben, nahm ich den Deckel ab. Aber sieh’ da, die Schlauköpfe! da hatten sie sich hinaufgearbeitet und oben so dicht am Rande des Blechrings angeschmiegt, daß ich sie nicht hatte sehen können. Sowie ich nun den Deckel lüftete – husch! setzten sie hierhin und dorthin über den Rand auf die Fensterbank und, ohne von diesen wahren Harrassprüngen auch nur einen Augenblick gelähmt zu sein, rannten sie nach allen Seiten auseinander.

So hatte dieses Geschöpf selbst den Menschen überlistet. Oder will man auch dies mit dem unheimlichen „Instinct“ erklären, daß sie gerade jetzt, und mit so unsäglicher Mühe gerade den Deckelrand zum Versteck wählten, während sie bei Tage allein die zahlreichen Schlupfwinkel unten aufgesucht hatten? Ich kann es nur List und Ueberlegung nennen; und wäre der Ohrwurm

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_079.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)