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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

„Onkel!“ rang es sich von meinen Lippen.

Mit wenigen Schritten stand er droben neben mir – ein Lächeln zuckte um seinen Mund.

„Seltsames Mädchen, in welche ungeheuerliche Vorstellung haben Sie sich verrannt! Glauben Sie wirklich, daß ein gesetzter Onkel so sehnsüchtig und angstvoll einer entflohenen kleinen Nichte nacheilen würde?“

Er ergriff sanft meine beiden Hände und zog mich den Hügel hinab. „So, hier fegt der Sturm über uns weg. … Ich bin Ihr Onkel nicht – aber bei Ihrem Vater bin ich gewesen und habe um andere Rechte gebeten; er hat mir freudig die Erlaubniß gegeben, Sie heimzuholen – aber nicht in die Karolinenlust, Lenore, wenn Sie sich entschließen, mit mir zu gehen, dann giebt es für uns Beide nur einen Weg. … Lenore, zwischen Ihnen und mir steht nur noch Ihr eigener Wille – haben Sie noch keinen andern Namen für mich?“

„Erich!“ jauchzte ich auf und schlang die Arme um seinen Hals.

„Böses Kind,“ sagte er mich fest umschließend. „Was Alles hast Du mir angethan! Nie werde ich die Stunde vergessen, in welcher Fräulein Fliedner erschrocken aus der Karolinenlust zurückkam und mir sagte, Du seiest fort, fort mit dem Nachtzug – mein verscheuchtes Haidevögelchen einsam draußen in Nacht und Fremde. Und wie trauerte ich, daß Du Dir nicht einmal bewußt warst, welchen Schmerz Du mir zufügtest! … Lenore, wie war es Dir möglich, zu denken, ich könne eben mein heilig geliebtes Mädchen an das Herz ziehen, um es gleich darauf um der häßlich geschminkten Sünde willen zu verstoßen?“

Ich wand mich los.

„Sehen Sie mich doch nur an!“ rief ich und unterwarf mich halb lachend, halb weinend einer Musterung seines Blickes. „Neben Tante Christine bin ich doch das armseligste Nichtschen, wie Charlotte mich immer nennt! … Ich habe die Tante zu Ihren Füßen gesehen, sie hat um Verzeihung gebeten – ach, und in welchen Tönen! Und ich wußte, daß Sie diese wunderschöne Frau sehr lieb gehabt haben, so lieb –“

Ein flammendes Roth stieg in sein Gesicht – ich hatte ihn noch nie so tief erröthen sehen.

„Ich weiß, daß Fräulein Fliedner geplaudert hat,“ sagte er. „Sie klagt sich auch an, Deine Flucht veranlaßt zu haben, indem sie, wunderlich genug, der Furcht Ausdruck gegeben hat, ich könne dem Zauber erliegen. … Meine Kleine, ich gestatte Dir absichtlich keinen Blick in jene Zeit, auf die jahrelange Reue gefolgt ist – Du sollst Deine keuschen Kinderaugen behalten, sie sind meine Erquickung, mein Stolz. … Ich habe mich schwer geirrt damals, am meisten in mir selbst, ich habe das Aufflammen häßlicher Leidenschaft für jenes Sternenlicht gehalten, das erst mit Deinem Erscheinen über meinem Leben aufgehen sollte. … Bis zur äußersten Consequenz hat sich die Verirrung meiner Jugend gerächt – bis zu dieser Stunde habe ich leiden müssen, aber nun sei es auch genug der Sühne – ich verlange mein Recht!“

Er küßte mich – dann schlug er schützend seinen Mantel um mich. „Du wirst Manches verändert finden, wenn wir heimkommen, mein Kind,“ sagte er nach einer Pause mit gedämpfter Stimme. „Die Miethwohnung im Erdgeschoß des Schweizerhäuschens ist leer – der Zugvogel ist wieder nach dem Süden geflogen –“

„Aber sie war arm – was wird sie anfangen?“ fiel ich beklommen ein.

„Dafür ist gesorgt – sie ist ja Deine Tante, Lenore.“

„Und Charlotte?“

„Sie hat eine furchtbare Lehre empfangen, aber ich habe mich nicht in ihr geirrt – es ist trotzalledem ein tüchtiger Kern in diesem Mädchen. Anfänglich war sie tief erschüttert an Leib und Seele – sie hat sich jedoch aufgerafft, und jetzt bricht der wahre Stolz, die wirkliche Seelenwürde durch. Sie schämt sich ihres Thuns und Treibens im Institut; sie hat wenig gelernt, trotz ihrer Begabung und der ihr gebotenen reichen Ausbildungsmittel, weil sie stets vorausgesetzt hat, sie sei zu Höherem geboren und brauche nicht zu arbeiten. Nun geht sie abermals in ein Institut, um sich zur Gouvernante heranzubilden. Ich bin diesem Entschluß durchaus nicht entgegen – durch geistige Thätigkeit wird sie vollends genesen – übrigens bleibt das Claudiushaus ihre Heimath … Dagobert aber will den Dienst quittiren und als Farmer nach Amerika gehen. … Die Verblendung der Geschwister bezüglich ihrer Abkunft und die schließliche Enthüllung sind in der Stadt ruchbar geworden – wer geplaudert haben mag, man weiß es nicht – Dagobert’s Stellung wird voraussichtlich eine unerquickliche werden, deshalb geht er freiwillig. … Wenige Stunden vor meiner Abreise hierher war ich bei der Prinzessin –“

Ich verbarg mein Gesicht an seiner Brust. „Nun kommt das Strafgericht auch über mich!“ flüsterte ich.

„Ja, ja, nun weiß ich Alles!“ bestätigte er mit scheinbarer Strenge. „Das Haideprinzeßchen hat seine kleine, vorwitzige Nase schon am ersten Tag in das Geheimniß der Karolinenlust gesteckt und dann wacker mitgeholfen bei der Intrigue gegen den unglücklichen Mann im Vorderhause –“

„Und er verzeiht mir nicht –“

Er lächelte auf mich nieder. „Hätte er dann wohl den kleinen, rothen Mund geküßt, der so heroisch schweigen kann?“

Wir traten hinter dem schützenden Hügel hervor – der Sturm fiel uns an. „O säh’ ich auf der Haide dort im Sturme Dich!“ sang ich jauchzend aus voller Brust in das Klingen und Sausen hinein. Es war ja wahr geworden, ich schritt, von starkem Arm gehalten, an seiner Seite dahin, und seine Linke hielt sorgsam den Mantel zusammen, den er mir um Haupt und Schultern geschlagen. … Und der Sturm schoß mit seinem Frühlingsathem an mir vorüber und höhnte. „Gefangen, gefangen!“ Und ich lachte auf und schmiegte mich glückselig an den Mann, der mich führte – mochten Sturm und Bienen und Schmetterlinge frei über die Haide hinfliegen – ich flog nicht mehr mit! …

Ilse saß auf dem Fleet und schälte Kartoffeln, und Heinz kam eben mit der qualmenden Pfeife aus dem Baumhof, als wir in die Tenne traten. … Nie hatte ich meine treue Pflegerin so consternirt gesehen, als in dem Augenblick, wo Herr Claudius mir den Mantelzipfel vom Haupt schob, und ich sie anlachte. Das Messer und die halbgeschälte Kartoffel fielen ihr aus den Händen auf den Schooß. „Herr Claudius!“ rief sie erstarrt. Bei dem Namen riß Heinz erschrocken die Pfeife aus dem Mund und hielt sie auf den Rücken.

„Grüß Gott, Frau Ilse!“ sagte Herr Claudius. „Sie haben einen kleinen Deserteur beherbergt; ich bin gekommen, ihn heimzuholen – mein ist er!“

Jetzt ging der ‚Frau Ilse‘ ein Licht auf. Sie sprang empor, Messer, Schalen und Kartoffeln, Alles rollte von der Schürze auf die Steinplatten. „O herrje, das war also die Krankheit?“ – Sie schlug die Hände zusammen. – „Da war freilich Fliederthee das conträre Mittel! … Schön angeführt hast Du mich, Lenore, o herrje! … Und heirathen wollen Sie das Kind da, Herr Claudius?“ schalt sie förmlich, während ihr die Thränen der Rührung über die Wangen liefen. „Sehen Sie sich doch nur die kleinwinzigen Hände an und das Gesichtchen, und die jungen, jungen Augen –“

Herr Claudius erröthete fein wie ein Mädchengesicht. „Ich bin ihr recht, meiner jungen Lenore,“ sagte er leise und ein wenig zögernd. „Sie behauptet, den alten, uralten Mann lieb zu haben.“

Ich schmiegte mich fester an ihn.

„I bewahre, Herr Claudius, so ist ja das gar nicht gemeint,“ protestirte Ilse eifrig. „Die möchte ich sehen, die da nicht auf der Stelle, mit Freuden, Ja und Amen sagte! Aber, aber – die vielen Leute, die Sie commandiren, wie sollen denn die Respect kriegen vor solch einem Weibchen, das Sie wie ein Kind auf dem Arm im Hause herumtragen können!“

Er lachte leise auf. „Respect werden sie schon bekommen, wenn sie sehen, wie ‚das Weibchen‘ den Chef des Hauses commandirt. … Und nun, Frau Ilse, rüsten Sie sich – morgen reisen wir heim – die Braut darf nur in Ihrer Begleitung zurückkehren.“

Ilse fuhr sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen. „Aber der Dierkhof unterdessen, Herr Claudius? Wenn Sie nur wüßten, wie ich den dazumal wiedergefunden habe!“ sagte sie ein wenig scharf und anzüglich.

Heinz kratzte sich verlegen hinter dem Ohr und sah scheu nach der gestrengen Schwester. Aber ich sprang auf ihn zu und schlang meinen Arm in den seinen. „Heinz, böser Heinz, gratulirst Du mir nicht?“

„Ach ja, Prinzeßchen – aber es dauert mich auch; da draußen ist’s doch lange – keine Haide!“ …



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