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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Wendung des Kopfes, dieselbe breite Wölbung der Schultern, denselben Gang, und ich glaube, in der Größe wich Keine der Anderen auch nur um eine Linie – sie waren zum Verwechseln ähnlich, und doch stießen sie sich innerlich ab, Charlotte wenigstens verhielt sich unnahbar.

„Bitte, legen Sie droben in meinem Zimmer ab,“ sagte sie droben im Corridor kalt zu mir.

Wir traten in das Zimmer, das bereits behaglich erwärmt und beleuchtet war. Fräulein Fliedner arrangirte den Theetisch und begrüßte uns sehr zurückhaltend.

„Wo ist Herr Claudius?“ fragte mich meine Tante leise – das erste Wort, das von ihren Lippen fiel, seit wir das Schweizerhäuschen verlassen.

Ich zeigte schweigend nach der Salonthür.

„Ach Gott, ein Flügel!“ rief sie glückselig und stürzte auf das Instrument zu, dessen Deckel aufgeschlagen war. „Wie schmerzlich lange habe ich diesen Anblick entbehren müssen! O, erlauben Sie mir nur für einen Augenblick, daß ich meine Hände auf die Tasten lege! Bitte, bitte – ich werde glücklich sein wie ein Kind, wenn ich, und seien es auch nur zwei Accorde, greifen darf!“

Im Nu flogen Mantel und Kapuze auf den nächsten Stuhl, und zu meinem unsäglichen Erstaunen stand Tante Christine in vollständiger Concerttoilette da. Ein schwerer milchweißer Atlas fiel in langer Schleppe auf den Teppich, und aus dem Spitzengekräusel des tiefausgeschnittenen Kleides hob sich eine Büste, so blendend, so marmorartig in Fleisch und Linien, wie das Antikencabinet mit seinen griechischen Göttergestalten kaum aufzuweisen hatte. Wie wogten die langen Locken über Busen und Nacken herab, und wie träumerisch lagen die hingestreuten, thaufrischen, bleichen Rosen in dem tiefen Blauschwarz der Haarmassen!

„Na, das ist doch stark!“ sagte Charlotte trocken und ungenirt. Meine Tante aber sank auf den Claviersessel, das Instrument erbrauste unter ihren Händen, und gleich darauf schlug es mit nicht klangvoller, aber mächtiger Stimme und dämonischem Ausdruck gegen die Wände: „Gia la luna in mezzo al mare –“

Da wurde die Salonthür aufgestoßen, und Herr Claudius stand bleich wie ein Geist auf der Schwelle – hinter ihm erschien Dagobert’s erstauntes Gesicht.

„Diana!“ rief Herr Claudius im Ton eines unbeschreiblichen Entsetzens.

Tante Christine flog auf ihn zu und sank in die Kniee.

„Verzeihung, Claudius, Verzeihung!“ flehte sie und berührte mit der Stirn fast den Teppich. „Dagobert, Charlotte, ihr, meine so lange und so schmerzlich entbehrten Kinder, helft mir, ihn bitten, daß er mich wieder aufnimmt in alter Liebe!“

Charlotte stieß einen Schrei der Entrüstung aus. „Komödie!“ stammelte sie. „Wer bezahlt Sie für diese köstlich gespielte Rolle, Madame?“ fragte sie schneidend. Dann fuhr sie auf mich hinein und schüttelte mich grimmig am Arme. „Lenore, Sie haben uns verrathen!“ schrie sie gellend auf.

Herr Claudius stand sofort zwischen uns und stieß sie zurück. „Führen Sie Fräulein von Sassen hinaus,“ gebot er Fräulein Fliedner – wie tonlos und bebend klang seine Stimme, wie bemühte er sich, Herr der furchtbarsten inneren Aufregung zu werden!

Fräulein Fliedner legte den Arm um mich und führte mich in den Salon, wo Lothar’s Bild hing – hinter uns wurde die Thür zugeschlagen. … Die alte Dame zitterte wie Espenlaub am ganzen Körper, und eine Art Nervenfrost machte ihr die Zähne zusammenschlagen.

„Sie haben uns da einen schlimmen Gast in’s Haus gebracht, Lenore,“ hauchte sie und horchte angstvoll hinüber, von wo Tante Christinens Stimme in wohllautenden Tönen fast ununterbrochen scholl. „Sie konnten freilich nicht wissen, daß sie es ist, jene Falsche, Treulose, jene Diana, um die er so schwer gelitten hat. … Gott mag verhüten, daß sie wieder Gewalt über ihn gewinnt! Sie ist noch immer von hinreißender Schönheit!“

Ich preßte meinen Kopf zwischen die Hände – mußte nicht die ganze Welt über mir zusammenstürzen? …

„Wie sie das schlau eingefädelt hat!“ fuhr Fräulein Fliedner tief erbittert fort. „Wie sie alle Betheiligten überrumpelt mit der ersten, wie ein Blitz hereinfahrenden Ueberraschung! … Auf einmal erinnert sie sich zärtlich ihrer ‚schmerzlich entbehrten Kinder‘, die sie so schändlich verlassen hat –“

„Ist sie wirklich Dagobert’s und Charlottens Mutter?“ stieß ich heraus.

„Kind, zweifeln Sie noch nach Allem, was Sie gehört und gesehen haben?“

„Ich habe geglaubt, sie seien seine“ – ich deutete nach Lothar’s Bild – „und der Prinzessin Kinder,“ stöhnte ich.

Sie fuhr zurück und starrte mich an. „Ach, jetzt fange ich an, klar zu sehen!“ rief sie. „Das ist der Schlüssel zu Charlottens unbegreiflichem Wesen und Gebahren! Sie denkt ebenso wie Sie? Sie meint, sie sei in der Karolinenlust geboren? Ist’s nicht so? … Nun, ich werde ja erfahren, wer das streng gehütete Geheimniß gelüftet und in so hirnverbrannter Weise ausgelegt hat. Einstweilen sage ich Ihnen, daß allerdings zwei Kinder in der Karolinenlust das Licht der Welt erblickt haben – das eine starb nach wenigen Stunden, und das andere halbjährig an Zahnkrämpfen – zudem waren es zwei Knaben. Dagobert und Charlotte aber sind die Kinder des Capitain Mericourt, mit welchem Ihre Tante in Paris verheirathet war, und der in Marocco gefallen ist. … Armes Kind, Ihr guter Engel hatte Sie verlassen, als Sie dieses Weib unter Ihren Schutz nahmen – sie bringt Unglück über uns, über uns Alle!“

Ich vergrub mein Gesicht in den Händen.

„Als Erich Zutritt in ihrem Hause fand, war sie bereits Wittwe und Primadonna an der Pariser großen Oper,“ fuhr die alte Dame fort. „Ihre Kinder sind bei einer Madame Godin erzogen worden – Erich hat sie lieb gehabt, als seien sie die seinen, und obgleich durch die Mutter tödtlich beleidigt und verwundet, ist er doch so großmüthig gewesen, sich der Kleinen anzunehmen, als die ehr- und pflichtvergessene Frau sie ohne alle Subsistenzmittel in der Pension zurückgelassen hat. … Madame Godin ist bald darauf gestorben, und mir, der er allein die Herkunft der Kinder anvertraut, hat er das strengste Stillschweigen auferlegt – er wollte den Geschwistern den demüthigenden Schmerz, eine entartete Mutter zu haben, zeitlebens ersparen – sie danken ihm schlecht genug dafür!“

Sie rang leise die Hände ineinander und ging auf und ab. „Nur das nicht!“ murmelte sie. „Die Stimme da drüben bestrickt mit einer wahrhaft dämonischen Gewalt – ich höre es! Wie das schmeichelt und klagt und weich fleht – sie wirft ihm neue Schlingen über –“

„Onkel, Onkel – ich leide furchtbar! … O, ich elendes, ich undankbares Geschöpf!“ schrie Charlotte drüben markerschütternd auf.

Ich stürzte zur Thür hinaus, die Treppe hinunter, durch die Gärten. … Ich war verstoßen aus dem Paradiese durch eigene Schuld, durch eigene Schuld. … Trotz Ilse’s energischer Abwehr und Warnung, gegen den entschiedenen Willen meines Vaters hatte ich heimlich und versteckt den Verkehr mit dieser verfehmten Tante unterhalten. Ich hatte dem Manne, den ich mit allen Kräften meiner Seele liebte, den bösen Dämon seiner Jugend wieder zugeführt, dem er auf’s Neue verfiel, und der ihm voraussichtlich das Leben vergiftete! …

In der Halle, wo das helle Lampenlicht auf mich fiel, hielt ich in meinem rasenden Laufe inne – nein, in diesem Zustande durfte ich nicht vor meinen Vater treten – Haar und Gesicht und Kleider troffen von Nässe, von dem Märzregen, der draußen warm und lautlos niedersank; jeder Nerv bebte an mir, und die Wangen brannten im Fieber. Ich ging in meine Schlafstube, kleidete mich um und trank ein Glas kaltes Wasser. Ruhig, vollkommen ruhig mußte ich sein, wenn ich erlangen wollte, was ich für meine einzige Rettung hielt.

Mein Vater saß in seiner Stube, im bequemen Lehnstuhl, und las und schrieb abwechselnd, und neben ihm stand die dampfende Theetasse. Er sah so munter und wohlgemuth aus, wie ich ihn selten vor seiner Krankheit gesehen, und das liebe, alte zerstreute Lächeln war auch wieder da. Im Wohnzimmer strich Frau Silber, die Wärterin, Butterbrödchen für ihn, regulirte nach dem Thermometer die Zimmerwärme, und winkte mir freundlich, nicht zu hastig einzutreten – sie war die verkörperte Fürsorge selbst, in besseren Händen konnte ich meinen Vater nicht wissen.

Ich setzte mich neben ihn auf ein Fußbänkchen, doch so, daß

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