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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Ich riß mich los. „Nein,“ rief ich, „seien Sie nicht gut gegen mich – ich habe es nicht um Sie verdient! … Wenn Sie wüßten, was für ein abscheuliches Geschöpf ich bin, wie hinterlistig, falsch und grausam ich sein kann, Sie stießen mich aus Ihrem Hause –“

„Lenore –“

Ich floh vor ihm nach der Thür. „Nennen Sie mich nicht Lenore. … Ich will tausendmal lieber hören, daß Sie mich wild, trotzig und ungeberdig schelten, daß Sie mich als unweiblich streng verurteilen – nur sagen Sie nicht so weich und gut meinen Namen! Ich habe Ihnen unsäglich wehe gethan, Ihnen Böses zugefügt, wo ich immer konnte. Ich habe Ihre Ehre angegriffen und mit Ihren Gegnern Gemeinschaft gemacht – Sie werden mir nie verzeihen, nie! Ich weiß das so genau, daß ich nicht einmal zu bitten wage!“ –

Tastend erfaßte ich das Thürschloß. Er stand sofort neben mir.

„Meinen Sie wirklich, ich ließe Sie in diesem Zustand der heftigsten Aufregung von mir gehen? Mit diesen bleichen, bebenden Lippen, die mir Angst machen?“ sagte er und schob sanft meine Hand vom Schloß nieder. „Bemühen Sie sich, ruhiger zu werden, und hören Sie mich an. … Sie kamen als völlig unberührte und ungeschulte Natur hierher und sahen mit den unschuldigsten Kinderaugen in die Welt. Ich klage mich schwer an, daß ich damals nicht sofort mein Haus von den bösen Elementen säuberte, obwohl ich in der ersten Stunde wußte, daß ein Wendepunkt in meinem Leben eintrete und Alles anders werden müsse. … Es ist wahr, Ihr so deutlich ausgesprochener Widerwille gegen mich ließ mich resigniren; ich war zu stolz, um immer wieder zu vergessen, und beschränkte mich auf die warnende Stimme – ich zögerte zu lange, das zu thun, was unbarmherzig aussah und doch das Richtige war – für Sie und Charlotte zusammen war kein Raum in meinem Hause – sie mußte weichen! … Was nun auch geschehen sein mag, was Sie mir auch angethan haben mögen in blöder Verkennung der Verhältnisse, es bedarf nicht einmal des verzeihenden Wortes – ich trage so viel Schuld wie Sie. … Sie können mir überhaupt nur in einem Sinn wirklichen Schmerz zufügen, das ist, wenn Sie sich – wie schon so oft geschehen – kalt und abweisend von mir wenden – nein, nein, das kann ich nicht sehen!“ unterbrach er sich selbst tief erregt, als ich in ein heftiges Weinen ausbrach. – „Wenn Sie denn durchaus weinen müssen, dann darf es fortan nur hier geschehen.“ Er zog mich an sich heran und legte meinen Kopf an seine Brust. „So – und nun beichten Sie getrost – ich hefte meine Augen dort auf den Vorhang und höre mit halbabgewendetem Ohr.“

„Ich darf ja nicht sprechen,“ sagte ich leise. „Wie froh wäre ich, wenn ich Ihnen Alles sagen dürfte! Aber die Zeit muß ja einmal kommen, und dann … Eines aber sollen Sie jetzt schon wissen, denn das habe ich ganz allein verübt – ich habe Sie bei Hofe verlästert, ich habe gesagt, Sie seien ein eiskalter Zahlenmensch, ein Besserwisser –“

Ich bemerkte, wie er in sich hineinlachte. „Ach, solch eine bitterböse Zunge ist die kleine Lenore?“ sagte er.

Aengstlich hob ich den Kopf und schob den Arm zurück, der mich umfaßt hielt. „Denken Sie ja nicht, daß Alles, was ich Ihnen angethan auf kindisches Geschwätz hinausläuft!“ rief ich.

„Das denke ich ja auch gar nicht,“ beschwichtigte er, während noch immer ein köstliches Lächeln um seine Lippen huschte. „Ich will alle die schlimmen Entdeckungen an mich herankommen lassen und geduldig abwarten – dann werde ich Ihr Richter sein; beruhigt Sie das?“

Ich bejahte.

„Dann aber müssen Sie sich auch bedingungslos dem Spruch unterwerfen, den ich fälle.“

Tief aufathmend sagte ich: „Das will ich gern.“

Und nun trocknete ich meine Thränen und begann von meiner Tante zu sprechen.

„Ich habe schon durch Fräulein Fliedner von dem seltsamen Gast gehört, der sich unter die Flügel der unbesonnenen kleinen Haidelerche geflüchtet hat,“ fiel er mir nach einer Weile in das Wort. „Ist sie die Frau, der Sie das Geld geschickt haben?“

„Ja.“

„Hm – das ist mir nicht lieb. Ich vertraue Frau Ilse unbedingt, und sie war sehr schlimm auf diese Tante zu sprechen. Wie kömmt die Dame auf die seltsame Idee, gerade mich sehen zu wollen – was will sie von mir?“

„Ihren Rath. O bitte, Herr Claudius, seien Sie gütig! Mein Vater hat sie verstoßen –“

„Und trotzdem will sie mit ihm an einem und demselben Orte leben und sich der steten Gefahr aussetzen, ihm zu begegnen, der sie verleugnet? – Das gefällt mir nicht! … Aber ich muß sie wohl oder übel empfangen, da ich durchaus nicht mehr gestatte, daß Haideprinzeßchen Beziehungen hat, um die ich nicht genau weiß, und welche nicht vor meinem prüfenden Auge bestehen können. … Frau – wie heißt sie?“

„Christine Paccini.“

„Also Frau Christine Paccini mag heute Abend den Thee im Vorderhause trinken. … Gehen Sie jetzt, sie holen! … Nun, verdient meine Bereitwilligkeit nicht einmal einen Händedruck?“

Ich kehrte zu ihm zurück und legte meine Hand willig in die seine. Dann flog ich zur Thür hinaus.

Ich glaube, selbst über die Haide, wo ich doch noch so unbeschwert von Leid und Kummer war, wie die Vogelseele in der Luft, bin ich nie so beschwingt dahin geflogen, wie in diesem Moment über die Kieswege der Gärten. … Ich wußte ja nun, daß ich mich nicht mehr verirren konnte in der weiten Welt, weil er seine Hand über mich hielt, wohin ich auch gehen wollte. Kein Schreckniß durfte mir mehr nahe kommen, denn ich flüchtete an seine Brust und war geborgen. Wie war ich scheu zurückgebebt, als er mich umfing, und welche selige Ruhe war dann über mich gekommen – so war es gewesen, wenn ich mich als Kind bis zum entsetzten Aufschreien gefürchtet, und Ilse’s Arme sich geöffnet hatten, um mich beschwichtigend an das Herz zu nehmen.

Als ich wieder bei Tante Christine eintrat, war sie gerade beschäftigt, auf einer kleinen Maschine Chocolade zu kochen. Blanche lief auf dem großen runden Tisch herum, beleckte die geriebene Chocolade und fraß vom Kuchenteller. … Himmel, wie flogen Blanche, Chocolade und Kuchen unter den schönen Händen meiner Tante durcheinander, als ich ihr sagte, daß Herr Claudius sie bitten ließe, den Thee im Vorderhause zu trinken! Jetzt sah ich erst, wie sie auf diesen Moment gehofft und geharrt haben mußte. Mit einem halb triumphirenden, halb zerstreuten Lächeln zog sie unschlüssig Kasten und Fächer der Möbel nach einander auf – ich erhielt einen Einblick in das entsetzliche Chaos von verblichenen Blumen, Bändern und Flitterstickereien.

„Herzchen, ich muß selbstverständlich erst Toilette machen, und da kann ich Dich nicht brauchen – das Zimmer ist so eng – kannst ja einstweilen droben bei Helldorf’s bleiben,“ sagte sie hastig. „Aber einen Gefallen mußt Du mir thun, gehe zu Schäfer – ich mag mit dem ungeschliffenen Menschen nicht mehr reden – er hat prachtvolle gelbe Rosen am Stocke – lasse sie abschneiden und gieb ihm dafür, soviel er verlangt, und wenn es zwei Thaler wären – Du bekömmst das wieder, vielleicht morgen schon. … So gehe doch!“ rief sie heftig und schob mich nach der Thür, als ich sie erstaunt fragend ansah. „Ich bin nun einmal gewohnt, Blumen in der Hand zu haben, wenn ich als Gast eintrete.“

Schäfer schenkte mir die Rosen, und ich trug sie ihr hinüber. Dann ging ich zu meinem Vater und holte mir die Erlaubniß, den Thee im Vorderhause trinken zu dürfen.

Eine Stunde später schritt ich mit Tante Christine durch die Gärten. Bei meiner Zurückkunft hatte ich sie bereits in Mantel und Kapuze, mit dem Schleier vor dem Gesicht, gefunden. Es dämmerte schon stark, und ein feiner Regen begann niederzustäuben, als wir den Weg nach der Brücke einschlugen.

„Wohin gehen denn die Damen?“ fragte eine Stimme hinter uns. Es war Charlotte, die jetzt erst vom Berge zurückkehrte.

„Ich will meine Tante im Vorderhause vorstellen,“ versetzte ich.

Die junge Dame sagte kein Wort, und Tante Christine schwieg auch, und so gingen wir still nebeneinander her – mir war auf einmal entsetzlich beklommen zu Muthe. … Da schritten sie vor mir über die Brücke hin, die beiden Frauen – seltsam, es sah fast gespenstig aus, so groß war die Aehnlichkeit zwischen

den beiden Gestalten – beide hatten die gleiche stolze, weltverachtende

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 862. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_862.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)