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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

So unter Glück und herzbeklemmender Angst, unter innerem Kampf und doch auch wieder seligem Ausruhen, war Woche um Woche verstrichen, und nun kamen die letzten Tage des Januar, und mit ihnen Dagobert. … Ein tödtlicher Schrecken durchfuhr mich, als es hieß, der Herr Lieutenant sei mit Sack und Pack angekommen – so nahe, stieg der gefürchtete Moment tiefdunkel und riesengroß vor mir auf, ich mochte die Augen schließen, um ihn nicht zu sehen; und doch sagte ich mir, daß ein rasch befreiender, schmerzhafter Schnitt dem Schweben zwischen Fürchten und Hoffen vorzuziehen sei. Mochte doch die Entscheidung fallen, wie sie wollte, ich war dann meiner unseligen Mitwissenschaft ledig, ich durfte sprechen und meinen Leichtsinn reuig bekennen.

Das waren schwere Tage für mich; denn auch noch eine andere Last bedrückte meine Seele – mein Vater erschien mir plötzlich unheimlich verändert. Sein ganzes Thun und Wesen erinnerte mich an die Zeit, wo es sich um den Ankauf der Münzen gehandelt hatte; er aß nicht, und des Nachts hörte ich ihn ruhelos umherwandern. Eine befremdliche Fluth von Briefen aus allen Richtungen her überschwemmte ihn, und mit jedem neuen, den er hastig erbrach, erhöhte sich die Fiebergluth auf seinem eingefallenen Gesicht. Er schrieb anhaltend, aber nicht an dem Manuscript, das den Fund in der Karolinenlust behandelte – es lag unberührt auf dem Schreibtisch. … Angestrengt lauschte ich auf das Gemurmel seiner Selbstgespräche, unter denen er oft das Zimmer durchmaß, aber ich konnte kein Wort verstehen, und zu fragen wagte ich nicht, um ihn nicht ungeduldig zu machen. …

Nie werde ich die Stunden vergessen, in denen seine gewaltsam beherrschte innere Unruhe endlich zum Durchbruch kam! Es war an einem jener trüben, dunklen Winternachmittage, die sich wie Blei über die Erde und die Menschenseelen legen. Mein Vater hatte sich nach Tische in sein Zimmer zurückgezogen und die eben eingelaufenen Zeitungen mitgenommen. Schon nach wenigen Minuten hörte ich ihn drinnen aufspringen, er schlug die Thür krachend zu und rannte hinauf in die Bibliothek. Angstvoll ging ich ihm nach.

„Vater!“ rief ich bittend und umschlang ihn, als er, ohne mich zu bemerken an mir vorüberstrich.

Ich mußte wohl sehr erschrocken aussehen; denn er fuhr mit beiden Händen durch die Haare und bemühte sich sichtlich, ruhig zu scheinen.

„Es ist nichts, Lorchen“ sagte er gepreßt. „Gehe nur wieder hinunter, mein Kind. … Die Leute lügen! Sie gönnen Deinem Vater den Ruhm nicht – sie wissen, daß sie ihm den Todesstoß versetzen, wenn sie ihm seine Autorität antasten. … Und nun kommen sie zu Haufen, und Jeder hat einen Stein in der Hand. … Ja, steinigt ihn, steinigt ihn! Er hat schon allzulange geleuchtet!“

Er schwieg plötzlich und sah über meinen Kopf hinweg nach der Thür. Eine Dame war geräuschlos eingetreten, eine hohe Erscheinung in schwarzem Sammetmantel und breitem Hermelinkragen. Sie schlug einen weißen Schleier zurück – Himmel, welche Schönheit! Ich mußte an Schneewittchen denken – Augen, schwarz wie Ebenholz, die Stirn weiß, und auf den Wangen lag eine sanfte Rosengluth.

Mein Vater starrte sie befremdet an, während sie mit schwebenden Schritten auf uns zukam. Ein feines Lächeln flog um ihren Mund, und schelmisch blinzelnd streifte ihr Seitenblick meinen Vater – das sah reizend, fast kindlich ungezwungen aus; und doch meinte ich, hinter den harmlosen Geberden müsse ein ängstliches Herz klopfen, die kirschrothen Lippen zuckten in nervöser Aufregung.

„Er kennt mich nicht,“ sagte sie in wohllautenden Tönen, als mein Vater consequent schwieg. „Ich werde ihn wohl an die Zeit erinnern müssen, wo wir im Garten zu Hannover gespielt haben, wo die ältere Schwester willig als Pferdchen umhergaloppirte und Wilibald’s Peitsche zu fühlen bekam – weißt Du noch?“

Mein Vater wich zurück, als kämen aus dem Sammetmantel der wunderschönen Frau die Krallen eines Ungeheuers. Mit einem eisigen Blick maß er sie von Kopf bis zu Füßen – nie hätte ich gedacht, daß dieser stets so unsicher umherhastende Mann ein so festes Gepräge abweisender Härte und Kälte anzunehmen vermöchte!

„Ich kann mir unmöglich denken, daß Christine Wolf, die allerdings einst im Hause meines Vaters, des Herrn von Sassen, gelebt hat, in der That meine Schwelle betritt,“ sagte er streng.

„Wilibald –“.

„Ich muß sehr bitten,“ unterbrach er sie und hob abwehrend die Hand, „wir haben Nichts mit einander gemein! Wäre es nur die Verirrte, die aus unbesiegbarer Neigung zur Kunst heimlich das mütterliche Haus verlassen hat – ich nähme sie sofort auf – mit der Diebin aber will ich nichts zu schaffen haben.“

„O mein Gott!“ Sie schlug die Hände zusammen und sah schmerzhaft gen Himmel – ich begriff nicht, wie er diesem Madonnenblick widerstehen konnte, wenn mich auch das Wort „Diebin“ wie ein elektrischer Schlag berührt hatte. – „Wilibald, sei barmherzig! Richte nicht so streng diese eine Jugendsünde!“ flehte sie. „Konnte ich denn die heißersehnte Laufbahn mit leeren Händen beginnen? Die Mutter bewilligte mir keinen Pfennig, das weißt Du, und es war doch so wenig, so geringfügig, was ich von der reichen Frau verlangte –“

„Nur zwölftausend Thaler, die Du aus ihrem festverschlossenen Secretär mitnahmst –“

„Hatte ich nicht doch ein Recht darauf, Wilibald? … Sage selbst.“ –

„Auch auf die Brillanten unseres damaligen Gastes, der Baronin Hanke, welche mit Dir spurlos verschwanden, und die meine Mutter mit den größten Opfern ersetzen mußte, nur um unser Haus vor der öffentlichen Schande zu bewahren?“

„Lüge, Lüge!“ schrie sie auf.

„Gehe hinaus, Lorchen – das ist nichts für Dich!“ sagte mein Vater zu mir und führte mich nach der Thür.

„Nein, gehe nicht, mein süßes Kind! Sei barmherzig und hilf mir ihn überzeugen, daß ich schuldlos bin! … Ja, Du bist Lenore! … O, ihr süßen, wonnigen Augen!“ Sie zog mich in ihre Arme und küßte mich auf die Lider – der weiche Sammetmantel fiel über mich her, ein köstlicher Veilchenduft entströmte ihrem Busen und berauschte mich förmlich.

Mit harter Hand riß mich mein Vater von ihr los. „Bethöre mir mein unschuldiges Kind nicht!“ rief er heftig und führte mich hinaus.

Ich ging die Treppe hinab und kauerte mich auf der untersten Stufe wie betäubt nieder. … Das war also meine Tante Christine, „der Schandfleck der Familie,“ wie sie Ilse, „der Stern“, wie sie sich selbst genannt hatte! … Ein Stern war sie, diese hinreißend schöne Frau! … Alles, was ich an weiblicher Lieblichkeit bis jetzt gesehen, es erblaßte neben dem Farbenreiz, dem Jugendhauch auf dem Gesicht meiner Tante! … Wie schwer und wuchtig lagen die schwarzen Locken auf dem weißen Hermelin! Wie glänzte diese ungefurchte Stirn, von der feine Adern in zartem Blau sich über die Schläfen herabringelten! Ach, und diese köstlich schmeichelnde Stimme, sie war wieder da, die Cur hatte geholfen! … Die schlanken Hände, die mich so weich und lind angefaßt und an den Busen der bezaubernden Frau gezogen hatten – sie sollten gestohlen haben! … Nein, nein, die Entrüstung meiner Tante widerlegte diese Beschuldigung vollständig – sah ich doch Thränen in ihren Augen blitzen!

Mit klopfendem Herzen horchte ich auf den Wortwechsel droben in der Bibliothek – ich konnte kein Wort erhaschen und er dauerte auch nicht lange an. Die Thür wurde geöffnet – „Gott mag Dir vergeben!“ hörte ich meine Tante sagen, dann rauschte ihre Schleppe die Treppe herab. … Ihre Schritte wurden immer matter und langsamer – plötzlich legte sie die Hand über die Augen und lehnte sich an die Wand. Ich sprang die Stufen hinauf und faßte ihre Rechte.

„Tante Christine!“ rief ich tief ergriffen.

Sie ließ die Hand langsam von den Augen sinken und sah mich mit einem traurigen Lächeln an.

„Mein kleiner Engel, mein Augentrost, gelt, Du glaubst nicht, daß ich eine Verbrecherin bin?“ sagte sie, mir sanft das Kinn streichelnd. „Die bösen, bösen Menschen, wie hetzen sie mich mit ihren Verleumdungen durch das Leben! … Was Alles habe ich schon erdulden müssen! Und in welcher entsetzlichen Lage bin ich nun, wo Dein strenger Vater mich unerbittlich verstößt! Kind, ich habe kein Dach über mir, keinen Pfühl, auf den ich Nachts mein Haupt legen kann! Mit dem letzten Groschen in der Tasche habe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 826. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_826.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)