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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Margarethe zu begrüßen, die heute nach fast dreimonatlicher Abwesenheit in die Residenz zurückkehrte.

In Fräulein Fliedner’s Zimmer legte ich Mantel und Capuze ab.

„Kindchen,“ sagte die alte Dame ein klein wenig verlegen und zog meinen Kopf an ihre Brust, „wenn es einmal in Ihrer Casse nicht stimmen sollte – nicht wahr, dann kommen Sie zu mir?“

Ich erschrak – Emma hatte geplaudert; aber nun wollte ich erst recht nicht meine Verlegenheit eingestehen – ich schämte mich im Namen meines Vaters. Was half es mir auch, wenn sie mir das Geld lieh? Es mußte doch zurückgezahlt werden. … Ich dankte ihr herzlich und ging ziemlich festen Schrittes nach dem Comptoir – zum ersten Mal seit Ilse fort war.

Schon draußen hörte ich Herrn Claudius auf- und abgehen. Als ich die Thür öffnete, wandte er sich nach dem Geräusch um und blieb mit auf den Rücken gelegten Händen stehen. Nur über seinem Schreibtisch brannte eine mit grünem Schirm versehene Lampe, alle anderen Tische waren dunkel – die Herren hatten bereits die Schreibstube verlassen.

Ein Schauer durchfuhr mich – der hohe, schlanke Mann da hatte eben noch auffallend hastigen Schrittes das einsame, halbdunkle Zimmer durchmessen – mehr als je mußte ich der Zeit denken, wo ihn ein leidenschaftlicher Schmerz ruhelos durch die Gärten gehetzt hatte. Mein Erscheinen im Comptoir schien ihn sehr zu befremden – wie unwillkürlich griff er nach dem Lampenschirm und hob ihn, so daß der volle Lichtschein auf meine schüchtern an der Thür verharrende kleine Person fiel. Mir war so peinlich zu Muthe, als sei ich plötzlich an den Pranger gestellt; aber ich nahm alle Energie zusammen, schritt auf ihn zu und legte unter einer ziemlich mißglückten, leichten Verbeugung ein Papier vor ihn auf den Schreibtisch.

„Wollen Sie die Güte haben und diese Handschrift prüfen?“ sagte ich mit niedergeschlagenen Augen.

Er nahm das Papier auf.

„Hübsche, charaktervolle Züge – sie stehen fest und trotzig, ich möchte sagen, geharnischt da und entbehren dennoch nicht der Grazie,“ sagte er – mit einem halben Lächeln wandte er mir das Gesicht zu. „Man sollte meinen, der Schreiber habe einen eisernen Handschuh angezogen, um eine zärtlich weiche, kleine Hand zu maskiren.“

„Also hübsch sind sie – ob aber auch brauchbar? – Ich wäre froh!“ sagte ich gepreßt.

„Ach so, es geht Sie näher an, als ich dachte – Sie haben das selbst geschrieben?“

„Ja.“

„Und was verstehen Sie unter brauchbar? – Genügt es Ihnen nicht, daß Sie plötzlich so hübsch und – man sieht es der Schrift an – so flink und fließend zu schreiben vermögen?“

„O nein, noch lange nicht!“ versetzte ich hastig. „Ich will so schreiben können, daß – daß man mir Arbeit anvertraut.“ – Jetzt war es heraus, und ich wurde muthig. „Ich weiß, Sie lassen auch durch Frauenhände die Blumennamen auf die Samendüten schreiben – wollen Sie es einmal mit mir versuchen? … Ich werde mir die größte Mühe geben und genau nach Vorschrift arbeiten.“ – Ich sah zu ihm auf, senkte aber auch den Blick sofort wieder – seine blauen Augen hingen so feurig und doch wieder in einer Art von Mitleid schmelzend an meinem Gesicht – sie waren so gluthvoll beredt, als gehörten sie gar nicht zu der übrigen ruhig würdevollen Erscheinung.

„Sie wollen für Geld arbeiten?“ fragte er dennoch sehr gelassen, fast geschäftsmäßig. „Ist Ihnen denn nicht eingefallen, daß Sie das nicht brauchen? Sie haben ja Vermögen. … Sagen Sie mir, wie viel Sie wünschen, und zu welchem Zweck.“ – Er legte die Hand auf die eiserne Kiste, die neben ihm stand.

„Nein, das will ich nicht!“ rief ich heftig. „Lassen Sie das Geld nur liegen für spätere Zeiten. Meine liebe Großmutter sagte, es genüge, um die Noth abzuwehren, und in Noth bin ich noch nicht – Gott bewahre!“

Er ließ seine Hand von dem Kasten niedersinken – ich weiß nicht, weshalb mir bei seinem eigenthümlichen Lächeln der Gedanke kam, er wisse auch bereits um Emma’s Plauderei. Das schlug mich sehr nieder, aber es bestärkte mich auch zugleich in meinem Entschluß.

„Sie haben offenbar eine falsche Vorstellung von der Arbeit, der Sie sich unterziehen wollen,“ versetzte er. „Ich weiß es, nach fünf Minuten werden die Wangen heiß werden, werden die Gedanken hinter der Stirn und die Füße unter dem Tisch gegen das verhaßte Schreiben rebelliren –“

„Das ist jetzt anders,“ unterbrach ich ihn kleinlaut und beschämt – er citirte meine eigenen kindischen Worte, mit denen ich ihm ehemals meinen Abscheu gegen das Schreiben geschildert hatte. „Schwer genug ist mir’s geworden, das ist wahr, ich leugne es gar nicht, aber ich habe mich überwunden.“

„Wirklich?“ – Das fatale Lächeln flog wieder um seine Lippen. „Sie haben also die Haidegewohnheiten vollständig abgeworfen? Sie verabscheuen das Baumklettern und begreifen nicht mehr, wie Sie einst durch den Fluß laufen konnten?“

„O nein, so gebildet bin ich noch lange nicht!“ fuhr es mir wider Willen heraus. „Ich kann mir überhaupt nicht denken, daß je eine Zeit käme, wo ich ohne Sehnsucht das Rauschen der Bäume und das lustige Wasserrieseln hören könnte – aber ich werde die Sehnsucht so beherrschen lernen, wie ich mit zusammengebissenen Zähnen diese Züge“ – ich zeigte auf das Papier – „gegen meine Neigung erzwungen habe.“

Er wandte sich ab und sah an dem grünen Fenstervorhang empor, als wolle er die Webefäden zählen. Dann nahm er eine kleine Papierhülse und hielt sie mir hin. In schöngeschwungenen kräftigen Linien stand darauf: „Rosa Damascena“.

„Denken Sie sich, Sie müßten diese Aufschrift vierhundert Mal wiederholen,“ sagte er nachdrücklich.

„Gut, Sie sollen sehen, daß ich’s kann! … Es ist ja ein Blumenname, und wenn ich das Wort ‚Rose‘ tausend Mal schreiben müßte, ich würde mir immer ihren köstlichen Duft dabei einbilden – ein Rosenkelch ist für mich ein Wunder, ich hab’ ihn immer für das Königsschlößchen der Käfer gehalten – das ist auch noch so eine von meinen ‚Haidegewohnheiten‘ – wollen Sie mir nun die Arbeit anvertrauen?“

Er schwieg, und jetzt fiel es mir schwer auf das Herz, daß er alle diese Schwierigkeit nur erhebe, um mir nicht direct sagen zu müssen, daß er mein Geschreibsel nicht brauchen könne. Tief gedemüthigt dachte ich an Luise, die Lehrerswaise – sie war ja noch im Hause, und ihre fleißigen, geschickten Hände wurden sehr gerühmt; sie machte die Sache jedenfalls ungleich besser, und es war vermessen von mir, mich ihr gleichzustellen. Ach, wie bitter bereute ich, in die Schreibstube gegangen zu sein! … Nicht ohne eine heftige Aufwallung des alten Trotzes nahm ich meine Probeschrift und steckte sie in die Tasche.

„Ich fühle, daß ich unbescheiden gewesen bin und eine zu hohe Meinung von meinen Leistungen gehabt habe,“ sagte ich mit fliegendem Athem. „Jetzt, wo ich diese schöne, graziöse Schrift sehe“ – ich deutete nach der Papierhülse – „jetzt bin ich beschämt.“

Hastig schritt ich nach der Thür, aber da stand er auch schon neben mir.

„Gehen Sie nicht so von mir,“ sagte er in seinen weichsten Tönen. „Ich handle thöricht! Sie geben mir den ersten Beweis eines schwach aufkeimenden Vertrauens, und ich widerspreche Ihnen. – Aber ich kann nicht zugeben, daß Sie sich einer Marter unterziehen, die Ihrer ganzen Natur zuwiderläuft – Sie haben mir selbst gesagt, daß Sie das rein Mechanische ‚mit zusammengebissenen Zähnen‘ vollbringen. … Ich will ferner nicht, daß Ihre reine Hand, die bis jetzt das Geld mit seinem anklebenden Fluch kaum berührt, sich um den Groschen müht – das siebenzehnjährige Menschenwunder, das noch nie Geld gesehen, glauben Sie, es wäre damals so flüchtig an mir vorübergegangen, wie vielleicht eine neue Gegend, eine fremdartige Nationaltracht, oder dergleichen? … Ich habe Ihnen gleich zu Anfang erklärt, daß das überwuchernde wildtrotzige Element in Ihrer Natur gezügelt werden müsse – das Ungeberdige entstellt in meinen Augen das Weib, und mögen es Tausende als wilde Grazie preisen – aber Ihre Individualität darf dabei nicht angetastet werden.“

„Nun, das Zügeln übernehme ich ja, indem ich arbeiten, fest und angestrengt arbeiten will,“ versetzte ich hartnäckig. „Ich weiß es, Andere suchen die Heilung auch in der Arbeit – Sie selbst sind ja thätig von früh bis spät und verlangen von Ihrer Umgebung streng das Gleiche.“

Er lächelte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 811. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_811.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)