Seite:Die Gartenlaube (1871) 774.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


gedenken. Die zahlreichen und vorzüglichen Arbeiten, welche er zu Silbergeräthen, zum größten Theile nach Entwürfen seines hochbegabten, leider zu früh verstorbenen Freundes Kolscher, geliefert hat, sichern ihm einen Ehrenplatz unter den Männern, die ihre Kunst durch den Bund mit der Industrie nicht zu entadeln glauben. Es bliebe uns noch diejenige Gattung seiner Schöpfungen mit flüchtigem Blick zu mustern, in welcher seine künstlerische Individualität stets zum reinsten Ausdruck gekommen ist – das Relief. Doch übergehen wir hier die Einzelleistungen Siemering’s auf diesem Gebiete, wie seine schönen Beiträge zur Façade des neuen Rathhauses in Berlin oder die Ergänzung jenes Schadow’schen Frieses an der Façade des neuen Münzgebäudes, und wenden uns sofort zu dem Zeitpunkte, wo ihm die Betheiligung bei der Ausschmückung der via triumphalis zu einer überraschenden Entfaltung seiner Kraft Gelegenheit geben sollte. Um sich von der Gewaltigkeit der dem Künstler zugefallenen Aufgabe einen Begriff zu machen, möge sich der Leser vergegenwärtigen, daß ihm in unsern Abbildungen ein Kranzrelief von sechszig Fuß Länge und sieben Fuß Höhe vorgeführt wird. Die Darstellung zieht sich von dem Herold aus nach rechts und links im Kreise hin, so daß die rechte Seite der oberen Hälfte in die linke der untern und die linke der obern in die rechte der untern verlaufend zu denken ist.

„Des deutschen Volkes Rüstung und Auszug zum Kampfe!“ Das ist der mächtig bewegte Vorgang, dessen Schilderung uns in diesen lebenswarmen Gestalten und Gruppen mit zwingender Verständlichkeit entgegentritt. Gewaltig läßt der Herold die Drommete erklingen und ruft die Männer aller Gauen, sich zum Schutze des Vaterlandes um das deutsche Banner zu schaaren. Da ziehen sie heran, die Söhne des Nordens und des Südens, Hand in Hand, in frommer, todesmuthiger Begeisterung; der oberste Kriegsherr wird keinen vermissen, wenn er sich an die Spitze des Reichsheeres stellt. – Ja staune nur, alter Stelzfuß von 1813, wieder ist es so gekommen wie damals. Klebt dort nicht an der Mauer der Aufruf des Königs an sein Volk und geht’s nicht wieder gegen den nimmer zu bessernden Erbfeind? Und doch werdet ihr, du und dein wackerer Camerad, vielerlei anders finden und das Wunder kaum begreifen, das sich vor euern Augen vollzieht. Aus tiefem Frieden hat der Kriegsruf die Nation emporgerüttelt. Da steht der jugendliche Landmann an sein Zugthier gelehnt und empfängt die Ordre aus der Hand des Boten. Du bist dir des Ernstes vollbewußt, den diese Stunde in sich trägt, tüchtiger Mann, aber wie möchtest du dem Vater an entschlossenem Muthe nachstehen? „Ja, er hat Recht, Mutter! Weg mit den Thränen; dem Franzosen muß wieder einmal der Heimweg gewiesen werden; es gelüstet ihm schon zu lange nach unserer Weide.“

Gott hat den Segen des braven Geistlichen vernommen, aber in das Ohr des Jünglings ist er nur halb gefallen. Dorthin treibt es ihn „mit Sturmeswehen“, wo die Jugend sich tummelt, wo der Schmiedegesell, stolzer auf den Reiterhelm als der Fürst auf seine Krone, die riesigen Glieder in die Uniform zwängt und, der Kraft in seinen Armen sich bewußt, dem Meister verspricht, die windigen Rothhosen tüchtig zwischen Hammer und Ambos zu nehmen; wo Bruder Studio, in heiliger Begeisterung des Cerevises auf seinem Kopfe uneingedenk, den Säbel hastig um die Hüften schnallt und sich im Geiste die Großartigkeit einer Völkerpauke zwischen Franken und Germanen vergegenwärtigt. – Ob der flotte Ulan die Schwüre ewiger Treue, welche er mit seinem Schatze tauscht, wohl halten wird? Jetzt sind sie ihm heiliger Ernst. Noch einen Händedruck und dann auf’s Pferd. – Dir kostet’s mehr Herzblut, wackerer Landwehrmann; aber du zeigst keine Schwäche, wenn dir auch die Zärtlichkeit des Kleinen die Brust zersprengen will. Für die Deinen wird Gott sorgen und das Vaterland; doch dem Friedensstörer wäre besser, er hätte diesen Jammer nicht verschuldet. – Und nun geht’s durch die Straßen fort dem Thore zu. Hier blieb noch Einer zurück, um von der schluchzenden Genossin seiner Sonntag-Nachmittage die letzte Liebesgabe mit auf den Weg zu nehmen. Wie heißt es in dem alten Liede?

Wisch ab dein Gesicht,
Eine jede Kugel trifft ja nicht.

– „Hurrah!“ schreit der Schusterjunge, unermüdlich seine Mütze schwenkend – und bald sind sie den Augen der Nachschauenden unter den verhallenden Klängen der „Wacht am Rhein“ entschwunden.

Es ist hier nicht der Ort, auf das specifisch-künstlerische Verdienst in Siemering’s herrlichem Werke näher einzugehen. Die Fachkritik hat es nach dieser Seite hinlänglich gewürdigt und ist einstimmig zu dem Resultate rückhaltloser Bewunderung gekommen. Der Berichterstatter der Kunstchronik kennt in Berlin nur zwei Schöpfungen verwandter Art, welche sich unserm Relief ebenbürtig an die Seite stellen: Drake’s „Fries am Denkmal Friedrich Wilhelm des Dritten im Thiergarten“ und Schievelbein’s „Untergang Pompejis“. Dieses treffliche Werk hat in einem Hofe des neuen Museums kaum mehr als ein Grab gefunden. Wird der Arbeit Siemering’s ein besseres Schicksal zu Theil werden? Noch scheint darüber nichts entschieden. In dem ersten Rausche allgemeiner Begeisterung hat sich ein Comité gebildet, um durch Subscription die allerdings beträchtlichen Mittel zur Ausführung in Bronze aufzubringen. Ob der Eifer mittlerweile erkaltet ist, ob die Bemühungen guten Fortgang haben, wir wissen es nicht. Das aber müßte ein an Kunstproduction gewaltig reiches Volk sein, welches mit der vornehmen Uebersättigung eines Gourmands sich schon an dem Bewußtsein genügen ließe, den Anblick eines so gottbegnadeten Meisterwerkes ein paar Monate hindurch genossen zu haben.




Blätter und Blüthen.


Plaudereien im Musikzimmer. Wer vertraut der Gartenlaube nicht gern ein Samenkorn seines Wissens an? Denn welches Blatt läuft in dem Maße die Tonleiter der menschlichen Gesellschaft durch wie dieses? – Tonleiter! – o Schreckenswort für Schüler, Eltern und Nachbarn! Wie Mancher liebt und liebte die Musik und würde als Kind gewiß etwas gelernt haben, wenn die Tonleitern nicht gar so langweilig wären – und doch die Quelle alles Könnens bildeten! – Warum muß es denn aber auch Tonleitern geben? – wenn ihr Gelehrten sie braucht, so quält uns doch nicht damit. Wir Dilettanten wollen uns nur an dem Angenehmen der Musik ergötzen, und allen gelehrten Kram, wie Tonleitern, Fingerübungen, Etüden und gar die Theorie, behaltet hübsch für euch, denn ihr verderbt uns nur damit unsere Lust an der Kunst und schließlich lernen wir gar nichts. Da haben wir den Jammer der musicirenden Jugend, wie er Tag für Tag gen Himmel steigt und doch nie erhört wird. – Warum nicht? – Die Antwort darauf würde nach Theorie riechen und die wollen wir heute einmal ganz verbannen. Dafür werde ich euch eine Geschichte erzählen, die ich neulich in einem alten Buche las und die sehr amüsant ist.

In grauer Zeit, als man sich nur durch Gesang, Flöte und Harfe die Mußestunden versüßte und weder an Clavier noch Violine dachte, auch noch keine Etüdenhefte besaß, da stand die Musik in hohem Ansehen. Die Trompeter und Pauker, deren man auch schon damals nicht entbehren konnte – denn zu einem Festgepränge gehört auch tüchtiger Lärm, da aber Schreien nicht immer anständig ist, so gab es kein besseres Aequivalent als recht viele Trompeten und Pauken –, mußten ihre Kunst zwar von Grund auf lernen und lange Jahre studiren, doch waren dies Männer aus dem niederen Volke, meistentheils sogar Sclaven, und für die war, nach altem Begriffe, Arbeiten keine Schande.

Die vornehme Welt, die nicht zu arbeiten brauchte um des lieben Brodes willen, die bildete so recht die Gelehrten- und Künstlerkreise. Große Staatsmänner, die heute nur zuhören können, Philosophen, Dichter, Alles vertiefte sich damals in das Studium der Musik und suchte die engen Schranken der Kunst zu erweitern und den Genuß zu erhöhen. Jedermann nahm den lebhaftesten Antheil daran, und was die hohen Herren verkündeten, das klang wie ein Orakel und drang wie ein Strom durch’s ganze Land. So ordnete man die akustischen Verhältnis der Töne und bestimmte zwölf Tonleitern, welche die Grundlage der Musik bildeten, – denn Musik ohne Tonleiter ist wie ein Baumeister, der Luftschlösser baut. Nehmt der Musik die Tonleiter und sie zerfällt in ein Chaos. An der Tonleiter bildet sich das musikalische Gehör und lernt die Tonverhältnisse unterscheiden. Doch nicht nur das Gehör wird durch sie gebildet, sondern auch die Finger und beim Sänger die Kehle. Sage mir, wie viel Du Tonleitern täglich singst oder spielst, und ich will Dir sagen, wie es mit Deinen musikalischen Leistungen bestellt ist. Doch zurück in die alte Zeit. Ihr werdet fragen, wie sah denn so eine Tonleiter vor dreitausend Jahren aus? Merkwürdig genug und doch, wie natürlich, fast wie die unsrigen. Ich greife die Tonleiter auf d, die Lydische Scala, heraus und theile sie in modernen Noten mit:

Die Römer waren ein unmusikalisches Volk, und was sie konnten, das lernten sie von den Griechen. Ob Christus ein Freund der Tonkunst war, ist uns nicht aufbewahrt worden, doch mit der Verbreitung des Christenthums beginnt eine neue Aera für die Musik. Das deutsche Element,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 774. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_774.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)