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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

wiederholt“ – sagte Eckhof weiter – „dann starb die lustige, leichtlebige Prinzessin Sidonie plötzlich im Bade am Schlagfluß, und der schöne Lothar jagte sich drei Tage darauf in Wien, wo er sich gerade mit dem Herzog befand, eine Kugel durch den Kopf. … Herr Claudius kam einige Tage nach dem schrecklichen Vorfall hierher; er hatte auf seinen Reisen Wien besucht und Lothar dort getroffen. Die beiden Brüder, die sich so selten gesehen, waren sich während dieses Zusammenseins sehr nahe getreten – ich habe das aus Erich’s eigenem Munde. … Als ich zum ersten Mal eingehend mit ihm sprechen durfte, da konnte ich nicht umhin, die Vorgänge in der Karolinenlust zu berühren. Er sah mich stolz und finster an und sagte, auf die Brieftasche Lothar’s zeigend: ‚Da drin sind die Documente; mein Bruder hat mit seiner Frau in rechtmäßiger Ehe gelebt!‘ … Tags darauf ließ er auf Wunsch des Verstorbenen die Herren vom Gericht kommen. Ich stand mit ihnen draußen im Corridor, während er noch einmal hineinging in die Räume, die sein Bruder bewohnt hatte. Ich sah, wie er die Brieftasche in einen Schreibtisch des großen Saales niederlegte und einschloß – dann machte er noch einmal die Runde durch alle Zimmer, in die wir nicht eintreten durften, schloß die Thüren und rüttelte an den Fenstern, und drei Minuten später lagen die Gerichtssiegel auf den Thüren. … Die beiden Kinder, die in der Karolinenlust geboren wurden, sind –“

„Still, still – kein Wort weiter! Sprechen Sie es nicht aus!“ schrie Charlotte emporspringend auf. „Wissen Sie denn nicht, daß ich wahnsinnig werde, daß ich sterben muß, wenn ich diese Wundergeschichte – und sei es auch nur für eine Stunde – glaubte und mir dann sagen lassen müßte: ‚Es ist nicht wahr – es ist eitel Hirngespinnst einer längst verstorbenen Frau!‘“

Sie preßte beide Hände an die Schläfen und rannte auf und ab.

„Ruhig Blut und den Kopf oben behalten!“ ermahnte Eckhof, indem er aufstand und den Arm des jungen Mädchens ergriff. „Ich frage nur das Eine: wenn nicht Lothar’s und der Prinzessin Kinder, wer sind Sie dann?“ …

O Himmel, Charlotte die Tochter einer Prinzessin! Um ein Haar wäre ich von meinem Sitz herabgefallen. … Nun war ja Alles gut, Alles! … Wie untrüglich hatte das fürstliche Blut in ihren Adern gesprochen! … Ich hätte laut aufjubeln mögen, wäre nur nicht die entsetzliche Tortur an meinen Füßen gewesen, und hätte ich nicht gerade jetzt den letzten Rest meiner Muskelkraft aufbieten müssen, um mich athemlos still zu verhalten – wie wäre es mir ergangen, wenn der grimmige Alte mich nun, nach seinen Geständnissen, auf meinem unfreiwilligen Lauscherposten entdeckt hätte!

„Wie sollte Herr Claudius dazu kommen, die Kinder wildfremder Leute, einer fremden Nationalität, erziehen zu lassen und sie sogar zu adoptiren?“ fuhr er fort. „Sehen Sie, das Erbtheil seines Bruders, Ihren rechtmäßigen Besitz, will er Ihnen nicht entziehen – dazu ist er zu gerecht – ja, er geht noch weiter, er sichert Ihnen auch sein Vermögen, indem er nicht heirathet. Pecuniär glänzend versorgen wird er Sie – wenn auch erst nach seinem Tode, bis dahin lenkt er Sie am Gängelband – aber Ihren wahren Namen wird er Ihnen vorenthalten für immer, weil er nicht will, daß das aufgepfropfte adelige Reis fortleben soll – ich kenne ihn genau – er hat den unbeugsamen stolzen Bürgerkopf der Claudius! Doch jetzt beruhigen Sie sich endlich einmal,“ schloß Eckhof ungeduldig, „und suchen Sie Ihre frühesten Erinnerungen zusammen.“

„Ich weiß nichts – nichts!“ stammelte Charlotte und legte die Hand auf die Stirn – die starke Mädchenseele brach zusammen unter der Wucht des Glückes.

„Charlotte, nimm Dich zusammen!“ rief Dagobert nun auch – er war anscheinend viel ruhiger als seine Schwester, aber es kam mir plötzlich vor, als sei er noch gewachsen, so stolz hatte er sich aufgerichtet, und aus seinem dunkelgerötheten Gesicht lag ein Ausdruck, der mich einschüchterte. „Sie mag allerdings nur sehr wenige, unklare Erinnerungen haben, denn sie war ja sehr klein, als unsere Lebenslage sich änderte – weiß ich doch auch nicht viel mehr,“ sagte er zu dem Buchhalter. „Wir haben unsere erste Kindheit nicht in Paris selbst, sondern auf einer kleinen Besitzung in der Nähe der Stadt, bei Madame Godin, verlebt – das das wissen Sie bereits. … Ich erinnere mich wohl, daß mein Papa mich auf seinen Knieen hat reiten lassen, aber, und wenn man mich tödtete, ich könnte nicht sagen, wie er ausgesehen hat. Ich weiß nur, daß seine Erscheinung blitzend, funkelnd war – es ist uns so gesagt worden, er sei Officier gewesen. … Die Mama habe ich sehr selten gesehen – am deutlichsten haftet ein Nachmittag in meiner Erinnerung. Mama kam mit Onkel Erich und noch einem Herrn herausgefahren; es wurde Kaffee im Gartensalon getrunken, und Onkel Erich jagte mich über den Rasen, warf mich hoch in die Luft und trug Charlotte stundenlang auf dem Arm. … Er war ganz anders, als jetzt, er hatte ein frisches, schöngeröthetes Gesicht und sehr rasche, muntere Bewegungen – älter als zwanzig Jahre kann er wohl damals nicht gewesen sein?“

„Er war einundzwanzig Jahre alt,“ bestätigte der Buchhalter mit einem verfinsterten Gesicht, „als er Paris für immer verließ.“

„Die Mama setzte sich an den Flügel,“ fuhr Dagobert fort, „und Alle riefen bittend: ‚Die Tarantella, die Tarantella!‘ und da sang sie, daß die Wände zitterten, und Alles war wie toll, und ich mit. Madame Godin mußte mir nachher das Lied mit ihrem schwachen, alten Stimmchen oft vorsingen, wenn sie mich artig und folgsam haben wollte, und nie werde ich das ‚Già la luna è in mezzo al mare, mamma mia si salterà!‘ vergessen! … Auf das Gesicht der Mama kann ich mich mit dem besten Willen nicht mehr besinnen – für mich spielte, den Gesang ausgenommen, Onkel Erich an jenem Nachmittage die Hauptrolle. Sie könnten mir alle möglichen Frauenportraits zeigen, ich fände meine Mutter nicht heraus. … Ich weiß nur noch, daß sie sehr groß und schlank war, und daß lange, schwarze Locken über ihre Brust herabfielen – vielleicht hätte ich auch das vergessen, wäre ich nicht gerade dieser Locken wegen von Mama gescholten worden, ich hatte sie bei meiner ungestümen Liebkosung sehr derangirt. … Nach diesem Besuch kam Onkel Erich sehr oft allein; er verwöhnte und verzog uns – ganz das Gegentheil von heute – dann blieb er lange weg, bis er eines Tages kam und mich von Charlotte und Madame Godin trennte. … Das ist Alles, was ich Ihnen sagen kann.“

„Es genügt vollkommen,“ sagte Eckhof. „Herr Claudius mag schon früher in das Geheimniß eingeweiht gewesen sein und seine Frau Schwägerin zu Neffen und Nichte begleitet haben. … Die Prinzessin ging ja fast immer nach Paris, wenn der Herzog mit seinem Adjutanten verreiste.“ …

Er schob seinen Arm unter den des jungen Officiers. „Jetzt heißt es vorsichtig forschen und handeln, wenn wir unser gemeinsames Ziel erreichen wollen,“ sagte er, langsam mit Dagobert in den Wald hineinwandelnd. „Von der Fliedner, die allein um Alles weiß, erfahren Sie natürlicherweise niemals ein Sterbenswort – eher ließe sie wohl Holz auf sich spalten! … Nicht wahr, wie unschuldig und harmlos sie thun kann, die – alte Katze? … Die Hofdame, der Reisemarschall und der Leibarzt der Prinzessin, der damals auch in der Karolinenlust aus- und einging, Alle sind sie todt –“

„Und Madame Godin auch – seit langen Jahren,“ setzte Dagobert tonlos hinzu.

„Nur Muth, die brauchen wir nicht! Wir werden schon Mittel und Wege finden,“ sagte Eckhof resolut – der Mann war während seiner Mittheilungen völlig aus seinem biblischen Redeton gefallen. – „Aber wie gesagt, alle Hast muß streng vermieden werden, und sollten Jahre darüber hingehen.“

Sie schritten weiter – Charlotte folgte ihnen nicht. Als sie sich allein sah, warf sie plötzlich die Arme hoch in die Luft und stieß mit zitternder Brust ein eigenthümliches Lachen oder auch Schluchzen aus. Ich wußte nicht, waren es die unarticulirten Laute einer ausbrechenden, unbeschreiblichen Glückseligkeit, oder – des Wahnsinns. Genau so hatte ich meine Großmutter am Brunnen stehen sehen. … Erschrocken bog ich mich hinab – patsch, lag einer meiner Schuhe drunten im Dickicht – das kleine benagelte Ungeheuer rasselte mit einer Vehemenz durch die Büsche, als sei es von einer Pistole abgeschossen. Charlotte stieß einen halberstickten Schrei aus.

„Still, um Gotteswillen!“ flüsterte ich vom Stamm niedergleitend und lief auf sie zu.

„Unglückskind, Sie haben gehorcht?“ stießen ihre Lippen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_762.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)